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[694] 383
Durchkreuze kräftig diesen Strom
Der Willenslust, o Heiliger;
Kennst du des Daseins Aufhebung,
Dann weißt du, was das Nichtsein ist.
Wenn beide Pole dieses Seins
Der Heil'ge überwunden hat,
Dann fallen alle Fesseln ab
Von ihm, dem klar Verstehenden.
385
Wem Jenseits so wie Diesseits schwand,
Wem Diesseits, Jenseits nicht mehr gilt,
Den Stachellosen, Seinlosen,
Den heiß' ich einen Heiligen.
386
Den selbstvertieft still Sitzenden,
Gewirkten Werkes, frei von Wahn,
Das höchste Gut Genießenden,
Den heiß' ich einen Heiligen.
387
Bei Tage strahlt der Sonne Licht,
Bei Nacht der milde Mondenschein,
In Waffenglanz der Krieger strahlt,
Der Priester strahlt in sich vertieft,
Den ganzen Tag, die ganze Nacht
Erstrahlt der Wache hell verklärt.
[695] 388
Wer sündenheil, wird »Heiliger«,
Wer einsam, »Eremit« genannt,
Wer seiner eignen Schuld entsagt,
Heißt deshalb ein »Entsagender«.
Man greife keinen Heiligen an,
Doch, angegriffen, flieh' er nicht;
Weh' dem, der einen Heiligen schlägt,
Und Weh' auch ihm, der jenen flieht.
390
Nicht wenig fördert es den wahren Büßer,
Wenn allem Gnügen er sein Herz verschließet;
Doch nach und nach entsagt er jeder Selbstqual,
Und nach und nach besiegt er dieses Leiden.
391
Bei wem in Taten, Worten nicht
Und in Gedanken Fehl nicht ist:
Den dreifach fest Behüteten,
Den heiß' ich einen Heiligen.
392
Wer dir die Wahrheit auferschloß,
Die der Vollendete gelehrt,
Den mögst du ehren nach Gebühr,
Wie Feuer ehrt der Brāhmane.
393
Nicht Haargeflecht, nicht Ahnenzahl,
Nicht hoher Rang macht heilig dich:
Doch wenn du wahrer Lehre folgst,
Dann wirst du rein, wirst Heiliger1.
[696] 394
Was hilft dein Haargeflecht, o Tor,
Was deine Tracht, das härne Hemd!
Im Innern haust Verderben dir,
Das Äußre machst du hell und blank.
Das Wesen, welches Lumpen trägt,
Das magre, nervensehnige,
Einsam im Walde selbstvertieft:
Das heiß' ich einen Heiligen.
396
Den preis' ich nicht als Brāhmanen,
Der fleischlich bloß geboren ward,
»Ja, ja!« nur sagt er immerzu
Und strebt nach diesem, strebt nach dem:
Wer weder dies noch das erstrebt,
Den preis' ich einen Brāhmanen.
397
Wer jedes Band durchschnitten hat
Und nimmermehr erschüttert wird,
Den Überwinder, fesselfrei,
Den heiß' ich einen Heiligen.
398
Wer Band und Riemen, Strang und Seil
Mit Macht zerschnitten hat entzwei
Und, auferwacht, den Riegel hebt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
399
Wer Schmähung, Schläge, Haft und Tod
Geduldig, ruhig, sanft erträgt,
Den Dulderheld, der herrlich taugt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
[697] 400
Der unerzürnbar schlichte Mann,
Der alles aushält, nichts verwünscht,
Der sanft das letzte Dasein lebt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
401
Dem Tropfen gleich am Lotusblatt,
Dem Senfkorn gleich an spitzem Pfriem:
Wer an der Lust nicht hängen bleibt,
Den heiß' ich einen Heiligen.
402
Der Leiden Ende wer es da,
Hienieden noch an sich erfährt,
Von Lasten ledig, Fesseln frei:
Den heiß' ich einen Heiligen.
403
Der tief bedacht ist, weise will,
Den Weg und Abweg deutlich schaut,
Das höchste Gut errungen hat:
Den heiß' ich einen Heiligen.
404
Den weltlicher und geistlicher
Gemeinschaft Unzugänglichen,
Den heimlos, wunschlos Wandernden,
Den heiß' ich einen Heiligen.
405
Verwerfend jede Waff' und Wehr,
Nicht Tieren feind, nicht Pflanzen feind:
Wer weder tötet, weder schlägt,
Den heiß' ich einen Heiligen.
406
Wutlos in dieser Wütenswelt,
Wehrlos in dieser Waffenwelt,
Wunschlos in dieser Wunscheswelt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
[698] 407
Wer abgeworfen Gier und Haß
Und Hochmut und Scheinheiligkeit,
Senfsamen gleich von spitzem Pfriem:
Den heiß' ich einen Heiligen.
408
Wer ohne Ärger, ohne Grimm
Der Wahrheit klare Sprache spricht,
Wodurch er keinen kränken kann,
Den heiß' ich einen Heiligen.
409
Wer da nicht Großes, Kleines nicht,
Was fein ist, grob, schön, unschön ist,
Wer nichts von allem nehmen mag:
Den heiß' ich einen Heiligen.
410
Wer nichts erhofft von dieser Welt,
Wer nichts erhofft von jener Welt,
Von Hoffnung heil ist, fesselfrei:
Den heiß' ich einen Heiligen.
411
Wer nirgend haften, hangen kann,
In Weisheit nimmer ungewiß,
Am ew'gen Ufer angelangt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
412
Wer guter Tat und böser Tat,
Wer beiden Fesseln sich entwand,
Den gramlos gierlos Lauteren,
Den heiß' ich einen Heiligen.
413
Dem reinen vollen Monde gleich,
Dem strahlend heiter Herrschenden,
Den Gnügehabensendiger,
Den heiß' ich einen Heiligen.
[699] 414
Wer diesem Irrweg, diesem Sumpf,
Dem Wahn der Wandelwelt entrann,
Gerettet, welterlöst, vertieft,
Unwandelbar, unzweifelhaft,
Erloschen ohne Überrest:
Den heiß' ich einen Heiligen.
415
Wer da der Liebe Glück verließ
Und haus- und heimlos weiterzieht,
Den Liebegnügensendiger,
Den heiß' ich einen Heiligen.
416
Wer da den Willenstrieb verließ
Und haus- und heimlos weiterzieht,
Den Willegnügensendiger,
Den heiß' ich einen Heiligen.
417
Entronnen diesem Menschenreich,
Entgangen aller Götterwelt,
Von jedem Joche losgelöst:
Den heiß' ich einen Heiligen.
418
Der Lust und Unlust abgewandt,
Verglommen nirgend haftend an,
Den Überwinder aller Welt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
419
Der Wesen Schwinden, wer es merkt,
Und ihr Erscheinen allzumal,
Unhaftbar, selig, auferwacht:
Den heiß' ich einen Heiligen.
[700] 420
Von dem nicht Götter, Geister nicht,
Und Menschen nicht die Spur erspähn:
Den Wahnversieger, Weiheherrn,
Den heiß' ich einen Heiligen.
421
Wem nichts mehr gilt Vergangenheit,
Nichts Zukunft und nichts Gegenwart,
Wer nichts erstrebt, wer nichts mehr nimmt:
Den heiß' ich einen Heiligen.
422
Den Hehren, Allerherrlichsten,
Den Helden, Hocherhabenen,
Den Wehe-Überwältiger,
Den Klaren, Allvollkommenen,
Den Wachen, den Vollendeten,
Den heiß' ich einen Heiligen.
423
Vergangen Dasein, wer das kennt,
So Unterwelt wie Oberwelt,
Und die Geburten hat versiegt,
Alleinig durch die Dinge schaut:
Den Allvollendensendiger,
Den heiß' ich einen Heiligen.
1 Brāhmane; dieser Begriff wird eigentlich und übertragen gebraucht, im letzteren Sinne ist er identisch mit dem Begriffe des Arahās, des Heiligen.
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