Sechstes Kapitel

Das Wesen der Seele

[97] Monistische Studien über den Begriff der Psyche.

Aufgaben und Methoden der wissenschaftlichen Psychologie, Psychologische Metamorphosen.


Die Erscheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des Seelenlebens oder der psychischen Tätigkeit zusammenfaßt, sind unter allen uns bekannten Phänomenen einerseits die wichtigsten und interessantesten, andererseits die verwickeltsten und rätselhaftesten. Da die Naturerkenntnis selbst, die Aufgabe unserer vorliegenden philosophischen Studien, ein Teil des Seelenlebens ist, und da man mithin auch die Anthropologie, ebenso wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntnis der »Psyche« zur Voraussetzung hat, so kann man die Psychologie, die wirklich wissenschaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als die Voraussetzung aller anderen Wissenschaften ansehen; von der anderen Seite betrachtet, ist sie wieder ein Teil der Philosophie oder der Physiologie oder der Anthropologie.

Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung liegt nun aber darin, daß die Psychologie wiederum die genaue Kenntnis des menschlichen Organismus voraussetzt und vor allem das Gehirn als des wichtigsten Organs des Seelenlebens.

Die Mehrzahl der sogenannten »Psychologen« besitzt jedoch von diesen anatomischen Grundlagen der Psyche nur sehr unvollständige oder gar keine Kenntnis, und so erklärt sich die bedauerliche Tatsache,[97] daß in keiner anderen Wissenschaft so widersprechende und unhaltbare Vorstellungen über ihren eigenen Begriff und ihre wesentliche Aufgabe herrschen wie in der Psychologie. Diese Konfusion ist in den letzten drei Dezennien um so fühlbarer hervorgetreten, je mehr die großartigen Fortschritte der Anatomie und Physiologie unsere Kenntnis vom Bau und von den Funktionen des wichtigsten Seelenorgans erweitert haben.

Nach meiner Überzeugung ist das, was man die »Seele« nennt, in Wahrheit eine Naturerscheinung; ich betrachte daher die Psychologie als einen Zweig der Naturwissenschaft – und zwar der Physiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir für dieselbe keine anderen Forschungswege zulassen können als für alle übrigen Naturwissenschaften; d.h. in erster Linie die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die Entwicklungsgeschichte und in dritter Linie die metaphysische Spekulation, welche durch induktive und deduktive Schlüsse möglichst dem unbekannten »Wesen« der Erscheinung sich zu nähern sucht. Mit Bezug auf die prinzipielle Beurteilung desselben aber müssen wir zunächst gerade hier den Gegensatz der dualistischen und der monistischen Ansicht scharf ins Auge fassen.

Die allgemein herrschende Auffassung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele und Leib als zwei verschiedene »Wesen«. Diese beiden Wesen können unabhängig voneinander existieren und sind nicht notwendig aneinander gebunden. Der organische Leib ist ein sterbliches materielles Wesen, chemisch zusammengesetzt aus lebendigem Plasma und den von diesem erzeugten Verbindungen (Plasmaprodukten). Die Seele hingegen ist ein unsterbliches, immaterielles Wesen, ein spirituelles Agens, dessen rätselhafte Tätigkeit uns völlig unbekannt ist. Diese triviale Auffassung ist als solche rein spiritualistisch und ihr prinzipielles Gegenteil im gewissen Sinne materialistisch. Sie ist zugleich transzendent und supranaturalistisch; denn sie behauptet[98] die Existenz von Kräften, welche ohne materielle Basis existieren und wirksam sind; sie fußt auf der Annahme, daß außer und über der Natur noch eine »geistige Welt« existiert, eine immaterielle Welt, von der wir durch Erfahrung nichts wissen und unserer Natur nach nichts wissen können.

Diese hypothetische »Geisteswelt«, die von der materiellen Körperwelt ganz unabhängig sein soll, und auf deren Annahme das ganze künstliche Gebäude der dualistischen Weltanschauung ruht, ist lediglich ein Produkt der dichtenden Phantasie, und dasselbe gilt von dem mystischen, eng mit ihr verknüpften Glauben an die »Unsterblichkeit der Seele«, dessen wissenschaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch besonders dartun müssen (im 11. Kapitel). Wenn die in diesem Sagenkreise herrschenden Glaubensvorstellungen wirklich begründet wären, so müßten die betreffenden Erscheinungen nicht dem Substanzgesetze unterworfen sein; diese einzige Ausnahme von dem höchsten kosmologischen Grundgesetze müßte aber erst sehr spät im Laufe der organischen Weltgeschichte eingetreten sein, da sie nur die »Seele« des Menschen und der höheren Tiere betrifft. Auch das Dogma des »freien Willens«, ein anderes wesentliches Stück der dualistischen Psychologie, ist mit dem universalen Substanzgesetze ganz unvereinbar.

Die natürliche Auffassung des Seelenlebens, welche wir vertreten, erblickt dagegen in demselben eine Summe von Lebenserscheinungen, welche gleich allen anderen an ein bestimmtes materielles Substrat gebunden sind. Wir wollen diese materielle Basis aller psychischen Tätigkeit, ohne welche dieselbe gar nicht denkbar ist, vorläufig als Psychoplasma bezeichnen, und zwar deshalb, weil sie durch die chemische Analyse überall als ein Körper nachgelesen ist, welcher zur Gruppe der Plasmakörper gehört, d.h. jener eiweißartigen Kohlenstoffverbindungen, welche sämtlichen Lebensvorgängen zugrunde liegen. Bei den höheren Tieren, welche ein Nervensystem und Sinnesorgane[99] besitzen, ist aus dem Psychoplasma durch Differenzierung das Neuroplasma, die Nervensubstanz, entstanden. Unsere Auffassung ist in diesem Sinne materialistisch. Sie ist aber zugleich empirisch und naturalistisch; denn unsere wissenschaftliche Erfahrung hat uns noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage entbehren, und keine »geistige Welt«, welche außer der Natur und über der Natur stünde.

Gleich allen anderen Naturerscheinungen, sind auch diejenigen des Seelenlebens dem obersten, alles beherrschenden Substanzgesetze unterworfen; es gibt auch in diesem Gebiete keine einzige Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen Grundgesetze (vgl. Kap. 12). Die Vorgänge des niederen Seelenlebens bei den einzelligen Protisten und bei den Pflanzen – aber ebenso auch bei den niederen Tieren –, ihre Reizbarkeit, ihre Reflexbewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbsterhaltung, sind unmittelbar bedingt durch physiologische Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch physikalische und chemische Veränderungen, welche teils auf Vererbung, teils auf Anpassung zurückzuführen sind. Aber ganz dasselbe müssen wir auch für die höheren Seelentätigkeiten der höheren Tiere und des Menschen behaupten, für die Bildung der Vorstellungen und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des Bewußtseins; denn diese letzteren haben sich phylogenetisch aus jenen ersteren entwickelt, und nur der höhere Grad der Integration oder Zentralisation, der Assozion oder Vereinigung der früher getrennten Funktionen, erhebt sie zu dieser erstaunlichen Höhe.

In jeder Wissenschaft gilt mit Recht als erste Aufgabe die klare Begriffsbestimmung des Gegenstandes, den sie zu erforschen hat. In keiner Wissenschaft aber ist die Lösung dieser ersten Aufgabe so schwierig als in der Seelenlehre, und diese Tatsache ist um so merkwürdiger, als die Logik, die Lehre von der Begriffsbildung, selbst nur ein Teil der Psychologie[100] ist. Wenn wir alles vergleichen, was über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angesehensten Philosophen und Naturforschern aller Zeiten gesagt worden ist, so ersticken wir in einem Chaos der widersprechendsten Ansichten. Was ist denn eigentlich die »Seele«? Wie verhält sie sich zum »Geist«? Welche Bedeutung hat eigentlich das »Bewußtsein«? Wie unterscheiden sich »Empfindung« und »Gefühl«? Was ist der »Instinkt«? Wie verhält sich der »freie Wille«? Was ist »Vorstellung«? Welcher Unterschied besteht zwischen »Verstand und Vernunft«? Und was ist eigentlich »Gemüt«? Welche Beziehung besteht zwischen allen diesen »Seelenerscheinungen und dem Körper«? Die Antworten auf diese und viele andere sich daran anschließenden Fragen lauten so verschieden als möglich; nicht allein gehen die Ansichten der angesehensten Autoritäten darüber weit auseinander, sondern auch eine und dieselbe wissenschaftliche Autorität hat oft im Laufe ihrer eigenen psychologischen Entwicklung ihre Ansicht vollständig verändert. Sicher hat diese »psychologische Metamorphose« vieler Denker nicht wenig zu der kolossalen Konfusion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelenlehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntnis herrscht.

Das interessanteste Beispiel solchen totalen Wechsels der objektiven und subjektiven psychologischen Anschauungen liefert wohl der einflußreichste Führer der deutschen Philosophie, Immanuel Kant. Der unbefangene, wirklich kritische Kant war zu der Überzeugung gelangt, daß die drei Großmächte des Mystizismus – »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« – im Lichte der »reinen Vernunft« unhaltbar erscheinen; der gläubige, dogmatische Kant dagegen fand, daß diese drei Hauptgespenster »Postulate der praktischen Vernunft« und als solche unentbehrlich sind. Je mehr neuerdings die angesehene Schule der Neokantianer den »Rückgang auf Kant« als einzige Rettung aus dem entsetzlichen Wirrwarr der modernen Metaphysik predigt, desto klarer offenbart sich der unleugbare und unheilvolle Widerspruch zwischen den[101] Grundanschauungen des kritischen und des dogmatischen Kant; wir kommen später auf diesen Dualismus zurück.

Ein interessantes Beispiel ähnlicher tiefgehender Wandlung bieten zwei der berühmtesten Naturforscher, R. Virchow und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphose ihrer psychologischen Grundanschauungen darf um so weniger übersehen werden, als beide Berliner Biologen mehr als 40 Jahre hindurch an der größten Universität Deutschland eine höchst bedeutende Rolle gespielt und sowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geistesleben geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienstvolle Begründer der Zellularpathologie, war in der besten. Zeit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts (und besonders während seines Würzburger Aufenthalts von 1849-1856) reiner Monist; er galt damals als einer der hervoragendsten Vertreter jenes neu erwachenden »Materialismus«, der im Jahre 1855 besonders durch zwei berühmte, fast gleichzeitig erschienene Werke eingeführt wurde: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Seine allgemeinen biologischen Anschauungen von den Lebensvorgängen im Menschen – sämtlich als mechanische Naturerscheinungen aufgefaßt! – legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeichneter Artikel in den ersten Bänden des von ihm herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie nieder. Wohl die bedeutendste unter diesen Abhandlungen und diejenige, in welcher er seine damalige monistische Weltanschauung am klarsten zusammenfaßte, ist die Arbeit über »Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin« (1849). Es geschah gewiß mit Bedacht und mit der Überzeugung ihres philosophischen Wertes, daß Virchow 1856 dieses »medizinische Glaubensbekenntnis« an die Spitze seiner »Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin« stellte. Er vertritt darin ebenso klar als bestimmt die fundamentalen Prinzipien[102] unseres heutigen Monismus, wie ich sie hier mit Bezug auf die Lösung der »Welträtsel« darstelle; er verteidigt die alleinige Berechtigung der Erfahrungswissenschaft, deren einzige zuverlässige Quellen Sinnestätigkeit und Gehirnfunktion sind; er bekämpft ebenso entschieden den anthropologischen Dualismus, jede sogenannte Offenbarung und jede »Transzendenz« mit ihren zwei Wegen: »Glauben und Anthropomorphismus«. Vor allem betont er den monistischen Charakter der Anthropologie, den untrennbaren Zusammenhang von Geist und Körper, von Kraft und Materie; am Schlusse seines Vorworts spricht er (S. 4) den Satz aus: »Ich habe die Überzeugung, daß ich mich niemals in der Lage befinden werde, den Satz von der Einheit des menschlichen Wesens und seine Konsequenzen zu verleugnen.« Leider war diese »Überzeugung« ein schwerer Irrtum; denn 28 Jahre später vertrat Virchow ganz entgegengesetzte prinzipielle Anschauungen. Es geschah dies in der vielbesprochenen Rede über »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate«, die er 1877 auf der Naturforscherversammlung in München hielt, und deren Angriffe ich in meiner Schrift »Freie Wissenschaft und freie Lehre« (1878) zurückgewiesen habe.

Ähnliche Widersprüche in bezug auf die wichtigsten philosophischen Grundsätze wie Virchow hat auch Emil Du Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der dualistischen Schulen und vor allem der Ecclesia militans errungen. Je mehr dieser berühmte Rhetor der Berliner Akademie im allgemeinen die Grundsätze unseres Monismus vertrat, je mehr er selbst zur Widerlegung des Vitalismus und der transzendenten Lebensauffassung beigetragen hatte, desto lauter war das Triumphgeschrei der Gegner, als er 1872 in seiner wirkungsvollen Ignorabimusrede das »Bewußtsein« als ein unlösbares Welträtsel hingestellt und als eine übernatürliche Erscheinung der anderen Gehirnfunktionen gegenübergestellt hatte. Ich komme später (im 10. Kapitel) darauf zurück.[103]

Die ganze eigentümliche Natur vieler Seelenerscheinungen, und vor allem des Bewußtseins bedingt gewisse Abänderungen und Modifikationen unserer naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden. Besonders wichtig ist hier der Umstand, daß zu der gewöhnlichen, objektiven, äußeren Beobachtung noch die introspektive Methode treten muß, die subjektive, innere Beobachtung, welche die Spiegelung unseres »Ich« im Bewußtsein bedingt. Von dieser »unmittelbaren. Gewißheit des Ich« gingen die meisten Psychologen aus: »Cogito, ergo sum!« »Ich denke, also bin ich.« Wir werden daher zunächst auf diesen Erkenntnisweg und dann erst auf die anderen, ihn ergänzenden Methoden einen Blick werfen.

Der weitaus größte Teil aller derjenigen Kenntnisse, welche seit Jahrtausenden in unzähligen Schriften über das menschliche Seelenleben niedergelegt sind, beruht auf introspektiver Seelenforschung, d.h. auf Selbstbeobachtung, und auf Schlüssen, welche wir aus der Assozion und Kritik dieser subjektiven, »inneren Erfahrungen« ziehen. Für einen wichtigen Teil der Seelenlehre ist dieser introspektive Weg überhaupt der einzig mögliche, vor allem für die Erforschung des Bewußtseins; diese Gehirnfunktion nimmt daher eine ganz eigentümliche Stellung ein und ist mehr als jede andere die Quelle unzähliger philosophischer Irrtümer geworden. (Vergl. Kap. 10.) Es ist aber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und falschen Vorstellungen, wenn man diese Selbstbeobachtung unseres Geistes als die wichtigste oder überhaupt als die einzige Quelle seiner Erkenntnis betrachtet, wie es von zahlreichen und angesehenen Philosophen geschehen ist. Denn ein großer Teil der wichtigsten Erscheinungen im Seelenleben, vor allem die Sinnesfunktionen (Sehen, Hören, Riechen usw.), ferner die Sprache, kann nur auf demselben Wege erforscht werden wie jede andere Lebenstätigkeit des Organismus, nämlich erstens durch gründliche anatomische Untersuchung ihrer Organe, und zweitens durch exakte physiologische[104] Analyse der davon abhängigen Funktionen. Um diese »äußere Beobachtung« der Seelentätigkeit auszuführen und dadurch die Ergebnisse der »inneren Beobachtung« zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher Kenntnisse in Anatomie und Histologie, Ontogenie und Physiologie des Menschen. Von diesen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie haben nun die meisten sogenannten »Psychologen« gar keine oder nur höchst unvollkommene Kenntnis; sie sind daher nicht imstande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende Vorstellung zu erwerben. Dazu kommt noch der schlimme Umstand, daß die hochverehrte eigene Seele dieser Psychologen gewöhnlich die einseitig ausgebildete (wenn auch in ihrem spekulativen Sport sehr hoch entwickelte!) Psyche eines Kulturmenschen höchster Rasse darstellt, also das letzte Endglied einer langen phyletischen Entwicklungsreihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr richtiges Verständnis unentbehrlich sind. So erklärt es sich, daß der größte Teil der gewaltigen psychologischen Literatur heute wertlose Makulatur ist. Die introspektive Methode ist gewiß höchst wertvoll und unentbehrlich, sie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden.

Je reicher im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts sich die verschiedenen Zweige des menschlichen Erkenntnisbaumes entwickelt, je mehr sich die verschiedenen Methoden der einzelnen Wissenschaften vervollkommnet haben, desto mehr ist das Bestreben gewachsen, dieselben exakt zu gestalten, d.h. die Erscheinungen möglichst genau empirisch zu untersuchen und die daraus abzuleitenden Gesetze tunlichst scharf, wo möglich mathematisch zu formulieren. Letzteres ist aber nur bei einem kleinen Teile des menschlichen Wissens erreichbar, vorzüglich in jenen Wissenschaften, bei denen es sich in der Hauptsache um meßbare Größenbestimmungen handelt; in erster Linie der Mathematik, sodann der Astronomie, der Mechanik, überhaupt einem großen Teile[105] der Physik und Chemie. Diese Wissenschaften werden daher auch als exakte Disziplinen im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen ist es nicht richtig und führt nur irre, wenn man oft alle Naturwissenschaft als »exakte« betrachtet und anderen, namentlich den historischen und den »Geisteswissenschaften« gegenüberstellt. Denn ebensowenig wie diese letzteren kann auch der größere Teil der Naturwissenschaften wirklich exakt behandelt werden; ganz besonders gilt dies von der Biologie und in dieser wieder von der Psychologie. Da diese letztere nur ein Teil der Physiologie ist, muß sie im allgemeinen deren fundamentale Erkenntniswege teilen. Sie muß die tatsächlichen Erscheinungen des Seelenlebens möglichst genau empirisch ergründen, durch Beobachtung und durch Experiment; und sie muß dann die Gesetze der Psyche aus diesen durch induktive und deduktive Schlüsse ableiten und möglichst scharf formulieren. Allein eine mathematische Formulierung derselben ist aus leicht begreiflichen Gründen nur sehr selten möglich; sie ist mit großem Erfolge nur bei einem Teile der Sinnesphysiologie ausgeführt; dagegen für den weitaus größten Teil der Gehirnphysiologie ist sie nicht anwendbar.

Ein kleiner Teil der Psychologie, welcher der erstrebten »exakten« Untersuchung zugänglich erscheint, ist seit dem Jahr 1860 mit großer Sorgfalt studiert und zum Range einer besonderen Disziplin erhoben worden unter der Bezeichnung Psychophysik. Die Begründer derselben, die Physiologen Theodor Fechner und Ernst Heinrich Weber in Leipzig, untersuchten zunächst genau die Abhängigkeit der Empfindungen von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und besonders das quantitative Verhältnis zwischen Reizstärke und Empfindungsintensität. Sie fanden, daß zur Erregung einer Empfindung eine bestimmte minimale Reizstärke erforderlich ist (die »Reizschwelle«), und daß ein gegebener Reiz immer um einen gewissen Betrag (die »Unterschiedsschwelle«) geändert werden muß, ehe[106] die Empfindung sich merklich verändert. Für die wichtigsten Sinnesempfindungen (Gesicht, Gehör, Druckempfindung) gilt das Gesetz, daß ihre Änderung derjenigen der Reizstärke proportional ist. Aus diesem empirischen »Weberschen Gesetz« leitete Fechner durch mathematische Operationen sein »psychophysisches Grundgesetz« ab, wonach die Empfindungsintensitäten in arithmetischer Progression wachsen sollen, hingegen die Reizstärke in geometrischer Progression. Indessen ist dieses Fechnersche Gesetz, ebenso wie andere psychophysische »Gesetze«, mehrfach angegriffen und als »nicht exakt« bezweifelt worden. Jedenfalls hat die moderne »Psychophysik« die hohen Erwartungen, mit denen sie anfänglich begrüßt wurde, nicht entfernt erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung ist nur sehr beschränkt. Indessen hat sie prinzipiell insofern hohen Wert, als dadurch die strenge Geltung physikalischer Gesetze auf einem, wenn auch nur sehr kleinen Gebiete des sogenannten »Geisteslebens« dargetan wurde – eine Geltung, welche von der materialistischen Psychologie schon längst für das ganze Gebiet des Seelenlebens prinzipiell in Anspruch genommen war. Die »exakte Methode« hat sich auch hier, wie auf vielen anderen Gebieten der Physiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar erwiesen; sie ist zwar überall im Prinzip zu erstreben, aber leider in den meisten Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger sind die vergleichende und die genetische Methode.

Die auffällige Ähnlichkeit, welche im Seelenleben des Menschen und der höheren Tiere – besonders der nächstverwandten Säugetiere – besteht, ist eine altbekannte Tatsache. Die meisten Naturvölker machen noch heute zwischen beiden psychischen Erscheinungsreihen keinen wesentlichen Unterschied, wie schon die allgemein verbreiteten Tierfabeln, die alten Sagen und die Vorstellungen von der Seelenwanderung beweisen. Auch die meisten Philosophen des klassischen Altertums waren davon überzeugt und entdeckten zwischen der menschlichen und tierischen[107] Psyche keinen wesentlichen qualitativen, sondern nur quantitative Unterschiede. Selbst Plato, der zuerst den fundamentalen Unterschied von Leib und Seele behauptete, ließ in seiner Seelenwanderung eine und dieselbe Seele (oder »Idee«) durch verschiedene Tier- und Menschenleiber hindurch wandern. Erst das Christentum, welches den Unsterblichkeitsglauben auf das engste mit dem Gottesglauben verknüpfte, führte die prinzipielle Scheidung zwischen der unsterblichen Menschenseele und der sterblichen Tierseele durch. In der dualistischen Philosophie gelangte sie vor allem durch den Einfluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß nur der Mensch eine wahre »Seele« und somit Empfindung und freien Willen besitze, daß hingegen die Tiere Automaten, Maschinen ohne Willen und Empfindung seien. Seitdem wurde von den meisten Psychologen – namentlich auch von Kant – das Seelenleben der Tiere ganz vernachlässigt und das psychologische Studium auf den Menschen beschränkt; die menschliche, meistens rein introspektive Psychologie entbehrte der befruchtenden Vergleichung und blieb daher auf demselben niederen Standpunkt stehen, welchen die menschliche Morphologie einnahm, ehe sie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur Höhe einer »philosophischen Naturwissenschaft« erhob.

Das wissenschaftliche Interesse für das Seelenleben der Tiere wurde erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts neu belebt, im Zusammenhang mit den Fortschritten der systematischen Zoologie und Physiologie. Besonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere (Hamburg 1760). Indessen eine tiefere wissenschaftliche Erforschung wurde erst möglich durch die fundamentale Reform der Physiologie, welche wir dem großen Berliner Naturforscher Johannes Müller verdanken. Dieser geistvolle Biologe, das ganze Gebiet der organischen Natur, Morphologie und Physiologie, gleichmäßig umfassend,[108] führte zuerst die exakten Methoden der Beobachtung und des Versuches im gesamten Gebiete der Physiologie durch und verknüpfte sie zugleich in genialer Weise mit den vergleichenden Methoden; er wendete dieselben ebenso auf das Seelenleben im weitesten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirntätigkeit) wie auf alle übrigen Lebenserscheinungen. Das sechste Buch seines »Handbuchs der Physiologie des Menschen« (1840) handelt speziell »Vom Seelenleben« und enthält auf achtzig Seiten eine Fülle der wichtigsten psychologischen Betrachtungen.

In den letzten fünfzig Jahren ist eine große Anzahl von Schriften über vergleichende Psychologie der Tiere erschienen, großenteils veranlaßt durch den mächtigen Anstoß, welchen 1859 Charles Darwin durch sein Werk über den Ursprung der Arten gab, und durch die Einführung der Entwicklungstheorie in das psychologische Gebiet. Einige der wichtigsten dieser Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner, G. H. Schneider, Fritz Schulze und August Forel in Deutschland, Alfred Espinas und E. Jourdan in Frankreich, Tito Vignoli, Morselli u. a. in Italien.

In Deutschland gilt gegenwärtig als einer der bedeutendsten Psychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er besitzt vor den meisten anderen Philosophen den unschätzbaren Vorzug einer gründlichen zoologischen, anatomischen und physiologischen Bildung. Früher Assistent und Schüler von Helmholtz, hatte sich Wundt frühzeitig daran gewöhnt, die Grundgesetze der Physik und Chemie im gesamten Gebiete der Physiologie geltend zu machen, also auch im Sinne von Johannes Müller in der Psychologie, als einem Teilgebiete der letzteren. Von diesen Gesichtspunkten geleitet, veröffentlichte Wundt 1863 wertvolle »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele«. Er liefert darin, wie er selbst in der Vorrede sagt, den Nachweis, daß der Schauplatz der wichtigsten Seelenvorgänge in der unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns »einen Einblick in jenen[109] Mechanismus, der im unbewußten Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den äußeren Eindrücken stammen«. Was mir aber besonders wichtig und wertvoll an Wundts Werk erscheint, ist, daß er »hier zum erstenmal das Gesetz der Erhaltung der Kraft auf das psychische Gebiet ausdehnt und dabei eine Reihe von Tatsachen der Elektrophysiologie zur Beweisführung benutzt«.

Dreißig Jahre später veröffentlichte Wundt (1892) eine zweite, wesentlich verkürzte und gänzlich umgearbeitete Auflage seiner »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele«. Die wichtigsten Prinzipien der ersten Auflage sind in dieser zweiten völlig aufgegeben, und der monistische Standpunkt der ersteren ist mit einem rein dualistischen vertauscht. Wundt selbst sagt in seiner Vorrede zur zweiten Auflage, daß er sich erst allmählich von den fundamentalen Irrtümern der ersten befreit habe, und daß er »diese Arbeit schon seit Jahren als eine Jugendsünde betrachten lernte«; sie »lastete auf ihm als eine Art Schuld, der er, so gut es gehen mochte, ledig zu werden wünschte«. In der Tat sind die wichtigsten Grundanschauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von Wundts weit verbreiteten »Vorlesungen« völlig entgegengesetzt; in der ersten Auflage rein monistisch und materialistisch, in der zweiten Auflage rein dualistisch und spiritualistisch. Dort wird die Psychologie als Naturwissenschaft behandelt, nach denselben Grundsätzen wie die gesamte Psychologie, von der sie nur ein Teil ist; dreißig Jahre später ist für ihn die Seelenlehre eine reine Geisteswissenschaft geworden, deren Prinzipien und Objekte von denjenigen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind. Den schärfsten Ausdruck findet diese Bekehrung in seinem Prinzip des psychophysischen Parallelismus, wonach zwar einem »jeden psychischen Geschehen irgendwelche physische Vorgänge entsprechen«, beide aber völlig unabhängig voneinander sind und nicht in natürlichem Kausalzusammenhang stehen. Dieser vollkommene Dualismus[110] von Leib und Seele, von Natur und Geist hat begreiflicherweise den lebhaften Beifall der herrschenden Schulphilosophie und wird von ihr als ein bedeutungsvoller Fortschritt gepriesen, um so mehr, als er von einem angesehenen Naturforscher bekannt wird, der früher die entgegengesetzten Anschauungen unseres modernen Monismus vertrat. Da ich selbst auf diesem letzteren, »beschränkten« Standpunkt seit mehr als vierzig Jahren stehe und mich trotz aller bestgemeinten Anstrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich natürlich die »Jugendsünden« des jungen Physiologen Wundt für die richtige Naturerkenntnis halten und sie gegen die entgegengesetzten Grundanschauungen des alten Philosophen Wundt energisch verteidigen.

Sehr interessant ist der totale philosophische Prinzipienwechsel, der uns hier wieder bei Wundt wie früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber auch bei Karl Ernst Baer und bei anderen begegnet. In ihrer Jugend umfassen diese kühnen und talentvollen Naturforscher das ganze Gebiet ihrer biologischen Forschung mit weitem Blick und streben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen Erkenntnisgrunde; in ihrem Alter haben sie eingesehen, daß dieser nicht vollkommen erreichbar ist, und deshalb geben sie ihn lieber ganz auf. Zur Entschuldigung dieser psychologischen Metamorphose können sie natürlich anführen, daß sie in der Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe übersehen und die wahren Ziele verkannt hätten; erst mit der reiferen Einsicht des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten sie sich von ihren Irrtümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten, daß die großen Männer der Wissenschaft in jüngeren Jahren unbefangener und mutiger an ihre schwierige Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urteilskraft reiner ist; die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach nicht nur zur Bereicherung, sondern auch zur Trübung der Einsicht, und[111] mit dem Greisenalter tritt allmählich Rückbildung ebenso im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls ist diese erkenntnisreiche Metamorphose an sich eine lehrreiche psychologische Tatsache; denn sie beweist mit vielen anderen Formen des »Gesinnungswechsels«, daß die höchsten Seelenfunktionen ebenso wesentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebenstätigkeiten.

Für die fruchtbare Ausbildung der vergleichenden Seelenlehre ist es höchst wichtig, die kritische Vergleichung nicht auf Tier und Mensch im allgemeinen zu beschränken, sondern auch die mannigfaltigen Abstufungen im Seelenleben derselben nebeneinander zu stellen. Erst dadurch gelangen wir zur klaren Erkenntnis der langen Stufenleiter psychischer Entwicklung, welche ununterbrochen von den niedersten, einzelligen Lebensformen bis zu den Säugetieren und an deren Spitze bis zum Menschen hinauf führt. Auch innerhalb des Menschengeschlechtes selbst sind jene Abstufungen sehr beträchtlich und die Verzweigungen des »Seelenstammbaumes« höchst mannigfaltig. Der psychische Unterschied zwischen dem rohesten Naturmenschen der niedersten Stufe und dem vollkommensten Kulturmenschen der höchsten Stufe ist kolossal, viel größer als gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntnis dieser Tatsache hat besonders in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die »Anthropologie der Naturvölker« (Waitz) einen lebhaften Aufschwung genommen und die vergleichende Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Psychologie gewonnen. Leider ist nur das massenhaft gesammelte Rohmaterial dieser Wissenschaft noch nicht genügend kritisch durchgearbeitet. Welche unklaren und mystischen Vorstellungen hier noch herrschen, zeigt z.B. der sogenannte »Völkergedanke« des bekannten Reisenden Adolf Bastian, der die größten Verdienste als Begründer des Berliner »Museums für Völkerkunde« besitzt, aber als fruchtbarer Schriftsteller ein Monstrum von kritikloser Kompilation und konfuser Spekulation[112] darstellt. Sehr lehrreich ist dagegen die kritisch vergleichende »Psychologie der Naturvölker« von Fritz Schultze (Leipzig 1900).

Am meisten vernachlässigt und am wenigsten angewendet unter allen Methoden der Seelenforschung ist bis auf den heutigen Tag die Entwicklungsgeschichte der Seele; und doch ist gerade dieser selten betretene Pfad derjenige, der uns am kürzesten und sichersten durch den dunklen Urwald der psychologischen Vorurteile, Dogmen und Irrtümer zu der klaren Einsicht in viele der wichtigsten Seelenfragen führt. Wie in jedem anderen Gebiete der organischen Entwicklungsgeschichte, so stelle ich auch hier zunächst die beiden Hauptzweige derselben gegenüber, die ich zuerst 1866 unterschieden habe: die Keimesgeschichte (Ontogenie) und die Stammesgeschichte (Phylogenie). Die Keimesgeschichte der Seele, die individuelle oder biontische Psychogenie, untersucht die allmähliche und stufenweise Entwicklung der Seele in der einzelnen Person und strebt nach Erkenntnis der Gesetze, welche dieselbe ursächlich bedingen. Für einen wichtigen Abschnitt des menschlichen Seelenlebens ist hier schon seit Jahrtausenden sehr viel geschehen; denn die rationelle Pädagogik mußte sich ja frühzeitig die Aufgabe stellen, theoretisch die stufenweise Entwicklung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennenzulernen, deren harmonische Ausbildung und Leitung sie praktisch durchzuführen hatte.

Allein die meisten Pädagogen waren einseitige Idealisten und dualistische Philosophen; sie gingen daher an ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vorurteilen der spiritualistischen Psychologie. Erst seit wenigen Dezennien ist dieser dogmatischen Richtung gegenüber auch in der Schule die naturwissenschaftliche Methode zu größerer Geltung gelangt; man bemüht sich jetzt mehr, auch in der Beurteilung der Kindesseele die Grundsätze der Entwicklungslehre zur Anwendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kindlichen Seele ist ja[113] bereits durch Vererbung von Eltern und Voreltern qualitativ von vornherein gegeben; die Erziehung hat die schöne Aufgabe, dasselbe durch intellektuelle Belehrung und moralische Erziehung, also durch Anpassung, zur reichen Blüte zu entwickeln. Für die Kenntnis unserer frühesten psychischen Entwicklung hat erst Wilhelm Preyer (1882) den Grund gelegt in seiner interessanten Schrift: »Die Seele des Kindes, Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren«. Für die Erkenntnis der späteren Stufen und Metamorphosen der individuellen Psyche bleibt noch sehr viel zu tun; die richtige, kritische Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes beginnt auch hier, sich als klarer Leitstern des wissenschaftlichen Verständnisses zu bewähren.

Eine neue, fruchtbare Periode höherer Entwicklung begann, für die Psychologie, wie für alle anderen biologischen Wissenschaften, als vor fünfzig Jahren Charles Darwin die Grundsätze der Entwicklungslehre auf sie anwendete. Das siebente Kapitel seines epochemachenden Werkes über die Entstehung der Arten (1859) ist dem Instinkt gewidmet; es enthält den wertvollen Nachweis, daß die Instinkte der Tiere, gleich allen anderen Lebenstätigkeiten, den allgemeinen Gesetzen der historischen Entwicklung unterliegen. Die speziellen Instinkte der einzelnen Tierarten werden durch Anpassung umgebildet, und diese »erworbenen Abänderungen« werden durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen. Bei ihrer Erhaltung und Ausbildung spielt die natürliche Selektion durch den »Kampf ums Dasein« ebenso eine züchtende Rolle wie bei der Transformation jeder anderen physiologischen Tätigkeit. Später hat Darwin in mehreren Werken diese fundamentale Ansicht weiter ausgeführt und gezeigt, daß dieselben Gesetze »geistiger Entwicklung« durch die ganze organische Welt hindurch walten, beim Menschen ebenso wie bei den Tieren und bei diesen ebenso wie bei den Pflanzen. Die Einheit der organischen Welt,[114] die sich aus ihrem gemeinsamen Ursprung erklärt, gilt also auch für das gesamte Gebiet des Seelenlebens, vom einfachsten, einzelligen Organismus bis hinauf zum Menschen.

Die weitere Ausführung von Darwins Psychologie und ihre besondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelenlebens verdanken wir dem englischen Naturforscher George Romanes. Leider wurde er durch allzu frühen Tod an der Vollendung des großen Werkes gehindert, welches alle Teile der vergleichenden Seelenkunde gleichmäßig im Sinne der monistischen Entwicklungslehre ausbauen sollte. Die beiden Teile dieses Werkes, welche erschienen sind, gehören zu den wertvollsten Erzeugnissen der gesamten psychologischen Literatur. Denn getreu den Prinzipien unserer modernen monistischen Naturforschung sind darin erstens die wichtigsten Tatsachen zusammengefaßt und geordnet, welche seit Jahrtausenden durch Beobachtung und Experiment auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empirisch festgestellt wurden; zweitens sind dieselben mit objektiver Kritik geprüft und zweckmäßig gruppiert, und drittens ergeben sich daraus diejenigen Vernunftschlüsse über die wichtigsten allgemeinen Fragen der Psychologie, welche allein mit den Grundsätzen unserer modernen monistischen Weltanschauung vereinbar sind. Der erste Band von Romanes' Werk (440 S., Leipzig 1885) führt den Titel: »Die geistige Entwicklung im Tierreich« und stellt die ganze lange Stufenreihe der psychischen Entwicklung im Tierreich von den einfachsten Empfindungen und Instinkten der niedersten Tiere bis zu den vollkommensten Erscheinungen des Bewußtseins und der Vernunft bei den höchststehenden Tieren im natürlichen Zusammenhang dar. Es sind darin auch viele Mitteilungen aus hinterlassenen Manuskripten »über den Instinkt« von Darwin mitgeteilt, und zugleich ist eine »vollständige Sammlung von allem, was derselbe auf dem Gebiete der Psychologie geschrieben hat«, gegeben.[115]

Der zweite und der wichtigste Teil von Romanes' Werk behandelt »die geistige Entwicklung beim Menschen und den Ursprung der menschlichen Befähigung« (430 S., Leipzig 1893). Der scharfsinnige Psychologe führt darin den überzeugenden Beweis, »daß die psychologische Schranke zwischen Tier und Mensch überwunden ist« (!); das begriffliche Denken und Abstraktionsvermögen des Menschen hat sich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorstufen des Denkens und Vorstellens bei den nächstverwandten Säugetieren entwickelt. Die höchsten Geistestätigkeiten des Menschen, Vernunft, Sprache und Bewußtsein, sind aus den niederen Vorstufen derselben in der Reihe der Primatenahnen (Affen und Halbaffen) her vorgegangen. Der Mensch besitzt keine einzige »Geistestätigkeit«, welche ihm ausschließlich eigentümlich ist; sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der nächstverwandten Säugetiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden.

Den Leser meines Buches, welcher sich für diese hochwichtigen »Seelenfragen« interessiert, verweise ich auf das grundlegende Werk von Romanes. Ich stimme fast in allen Anschauungen und Überzeugungen vollständig mit ihm und mit Darwin überein; wo sich etwa scheinbare Unterschiede zwischen diesen Autoren und zwischen meinen früheren Ausführungen finden, da beruhen sie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucksform meinerseits oder auf einem unbedeutenden Unterschiede in der Anwendung der Grundbegriffe.[116]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 97-117.
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Die Familie Selicke

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Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

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Große Erzählungen der Frühromantik

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1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

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