Siebentes Kapitel

Stufenleiter der Seele

[117] Monistische Studien über vergleichende Psychologie.

Die psychologische Skala. Psychoplasma und Nervensystem.

Instinkt und Vernunft.


Die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit Hufe der Entwicklungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der psychologischen Einheit der organischen Welt. Die vergleichende Seelenlehre, im Verein mit der Ontogenie und Phylogenie der Psyche, hat uns zu der Überzeugung geführt, daß das organische Leben in allen Abstufungen, vom einfachsten, einzelligen Protisten bis zum Menschen hinauf, aus denselben elementaren Naturkräften sich entwickelt, aus den physiologischen Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Psychologie wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausschließlich subjektive und introspektive Zergliederung der höchst entwickelten Philosophenseele sein, sondern die objektive und vergleichende Untersuchung der langen Stufenleiter, auf welcher sich der menschliche Geist allmählich aus einer langen Reihe von niederen tierischen Zuständen entwickelt hat. Die schöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieser psychologischen Skala zu unterscheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetischen Zusammenhang nachzuweisen, ist erst in den letzten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts ernstlich in Angriff genommen worden, vor allem in[117] dem ausgezeichneten Werke von Romanes. Wir beschränken uns hier auf die kurze Besprechung einiger der allgemeinsten Fragen, welche uns die Erkenntnis jener bedeutungsvollen Stufenleiter vorlegt.

Alle Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme sind verknüpft mit materiellen Vorgängen in der lebendigen Substanz des Körpers, im Plasma oder Protoplasma. Wir haben jenen Teil des letzteren, der als der unentbehrliche Träger der Psyche erscheint, als Psychoplasma bezeichnet (als »Seelensubstanz« im monistischen Sinne), d.h. wir erblicken darin kein besonderes »Wesen«, sondern wir betrachten die Psyche als Kollektivbegriff für die gesamten psychischen Funktionen des Plasma. »Seele« ist in diesem Sinne ebenso eine physiologische Abstraktion wie der Begriff »Stoffwechsel« oder »Zeugung«. Beim Menschen und den höheren Tieren ist das Psychoplasma, zufolge der vorgeschrittenen Arbeitsteilung der Organe und der Gewebe, ein differenzierter Bestandteil des Nervensystems, des Neuroplasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer, der Nervenfasern. Bei den niederen Tieren dagegen, die noch keine gesonderten Nerven und Sinnesorgane besitzen, ist das Psychoplasma noch nicht zur selbständigen Differenzierung gelangt, ebenso wie bei den Pflanzen. Bei den einzeiligen Protisten endlich ist das Psychoplasma entweder identisch mit dem ganzen lebendigen Protoplasma der einfachen. Zelle oder mit einem Teile desselben. In allen Fällen, ebenso auf dieser niedersten wie auf jener höchsten Stufe der psychologischen Skala, ist eine gewisse chemische Zusammensetzung des Psychoplasma und eine gewisse physikalische Beschaffenheit desselben unentbehrlich, wenn die »Seele« fungieren oder arbeiten soll. Das gilt ebenso von der elementaren Seelentätigkeit der plasmatischen Empfindung und Bewegung bei den Protozoen wie von den zusammengesetzten Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns bei den höheren Tieren und an ihrer Spitze dem Menschen. Die Arbeit[118] des Psychoplasma, die wir »Seele« nennen, ist stets mit Stoffwechsel verknüpft.

Alle lebendigen Organismen ohne Ausnahme sind empfindlich; sie unterscheiden die Zustände der umgebenden Außenwelt und reagieren darauf durch gewisse Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwerkraft und Elektrizität, mechanische Prozesse und chemische Vorgänge in der Umgebung wirken als »Reize« auf das empfindliche Psychoplasma und rufen Veränderungen in seiner molekularen Zusammensetzung hervor. Als Hauptstufen seiner Empfindlichkeit oder Sensibilität unterscheiden wir im allgemeinen folgende fünf Grade: I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze Psychoplasma als solches empfindlich und reagiert auf die einwirkenden Reize, so bei den niedersten Protisten, bei vielen Pflanzen und einem Teile der unvollkommensten Tiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers einfachste indifferente Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen und Augen; so bei einem Teile der höheren Protisten, aber auch bei vielen niederen Tieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzierung spezifische Sinnesorgane entwickelt, mit eigentümlicher Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und des Geschmacks, die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des Gehörs und Gesichts. Die »spezifische Energie« dieser höheren Sensillen ist keine ursprüngliche Eigenschaft derselben, sondern durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung stufenweise erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Zentralisation oder Integration des Nervensystems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Assozion der früheren isolierten oder lokalisierten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst noch unbewußt bleiben, so bei vielen niederen und höheren Tieren. V. Auf der fünften Stufe[119] entwickelt sich durch Spiegelung der Empfindungen in einem Zentralteile des Nervensystems die höchste psychische Funktion, die bewußte Empfindung; so beim Menschen und den höheren Wirbeltieren, wahrscheinlich auch bei einem Teile der höheren wirbellosen Tiere (Gliedertiere).

Alle lebendigen Naturkörper ohne Ausnahme sind spontan beweglich, im Gegensatze zu den starren und unbeweglichen Anorganen (Kristallen), d.h. es finden im lebendigen Psychoplasma Lageveränderungen der Teilchen aus inneren Ursachen statt, welche in dessen chemischer Konstitution selbst begründet sind. Diese aktiven vitalen Bewegungen sind zum Teil direkt durch Beobachtung wahrzunehmen, zum anderen Teil aber nur indirekt aus ihren Wirkungen zu erschließen. Wir unterscheiden fünf Abstufungen derselben.

I. Auf der untersten Stufe des organischen Lebens, bei Chromazeen, vielen Protophyten und niederen Metaphyten, nehmen wir nur jene Wachstumsbewegungen wahr, welche allen Organismen gemeinsam zukommen. Dieselben geschehen gewöhnlich so langsam, daß man sie nicht unmittelbar beobachten, sondern nur indirekt aus ihrem Resultate erschließen kann, aus der Veränderung in Größe und Gestalt des wachsenden Körpers. II. Viele Protisten, namentlich einzellige Algen aus den Gruppen der Diatomeen und Desmidiazeen, bewegen sich kriechend oder schwimmend durch Sekretion fort, durch einseitige Ausscheidung einer schleimigen Masse. III. Andere, im Wasser schwebende Organismen, z.B. viele Radiolarien, Siphonophoren, Ktenophoren u. a., steigen auf und nieder, indem sie ihr spezifisches Gewicht verändern, bald durch Osmose, bald durch Absonderung oder Ausstoßung von Luft. IV. Viele Pflanzen, besonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) und andere Leguminosen, führen Bewegungen von Blättern oder anderen Teilen mittelst Turgorwechsels aus, d.h. sie verändern die Spannung des Zellinhalts und damit auch dessen Druck auf die umschließende[120] elastische Zellenwand. V. Die wichtigsten von allen organischen Bewegungen sind die Kontraktionserscheinungen, d.h. Gestaltsveränderungen der Körperoberfläche, welche mit gegenseitiger Lageverschiebungen ihrer Teilchen verbunden sind; sie verlaufen stets mit zwei verschiedenen Zuständen oder Phasen der Bewegung: der Kontraktionsphase (Zusammenziehung) und der Expansionsphase (Ausdehnung). Als vier verschiedene Formen der Plasmakontraktion werden unterschieden Va: die amöboiden Bewegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen usw.); Vb: die ähnlichen Plasmaströmungen im Innern von abgeschlossenen Zellen; Vc: die Flimmerbewegung (Geißelbewegung und Wimperbewegung) bei Infusorien, Spermien, Flimmerepithelzellen, und endlich Vd: die Muskelbewegung (bei den meisten Tieren).

Die elementare Seelentätigkeit, welche durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung entsteht, nennen wir (im weitesten Sinne!) Reflex oder reflektive Funktion (reflektorische Leitung), besser Reflextat. Die Bewegung – gleichviel welcher Art – erscheint hier als die unmittelbare Folge des Reizes, welcher die Empfindung hervorgerufen hat; man hat sie daher auch im einfachsten Falle (bei Protisten) kurz als »Reizbewegung« bezeichnet. Alles lebende Plasma besitzt Reizbarkeit (Irritabilität). Jede physikalische oder chemische Veränderung der umgebenden Außenwelt kann unter Umständen auf das Psychoplasma als Reiz wirken und eine Bewegung hervorrufen oder »auslösen«. Wir werden später sehen, wie der wichtige physikalische Begriff der Auslösung die einfachsten organischen Reflextaten unmittelbar anschließt an ähnliche mechanische Bewegungsvorgänge in der anorganischen Natur (z.B. bei der Explosion von Pulver durch einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß). Wir unterscheiden in der Skala der Reflexe folgende sieben Stufen:

I. Auf der untersten Stufe der Organisation, bei den niedersten Protisten, lösen die Reize der Außenweit[121] (Licht, Wärme, Elektrizität usw.) im indifferenten Protoplasma nur jene unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachstums und Stoffwechsels aus, welche allen Organismen gemeinsam und für ihre Erhaltung unentbehrlich sind. Dasselbe gilt auch für die meisten Pflanzen.

II. Bei vielen frei beweglichen Protisten (besonders Amöben, Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen äußere Reize an jeder Stelle der nackten Oberfläche des einzelligen Körpers äußere Bewegungen desselben hervor, die sich in der Gestaltsveränderung, oft auch in der Ortsveränderung äußern (amöboide Bewegung, Pseudopodienbildung, Ausstrecken und Einziehen von Scheinfüßchen); diese unbestimmten, veränderlichen Fortsätze des Plasma sind noch keine beständigen Organe. In gleicher Weise äußert sich die allgemeine organische Reizbarkeit als indifferenter Reflex auch bei den empfindlichen »Sinnpflanzen« und den niedersten Metazoen; bei diesen vielzelligen Organismen können die Reize von einer Zelle zur anderen fortgeleitet werden, da alle Zellen durch feine Ausläufer zusammenhängen.

III. Viele Protisten, namentlich höher entwickelte Protozoen, sondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Organelle einfachster Art: sensible Tastorgane und motorische Bewegungsorgane. Beide Werkzeuge sind direkte äußere Fortsätze des Protoplasma; der Reiz, welcher die ersteren trifft, wird unmittelbar durch das Psychoplasma des einzelligen Körpers zu den letzteren fortgeleitet und bewirkt deren Zusammenziehung. Besonders klar ist diese Erscheinung zu beobachten und auch experimentell festzustellen bei vielen festsitzenden Infusorien (z.B. Poteriodendron unter den Flagellaten, Vorticella unter den Ziliaten). Der schwächste Reiz, welcher die sehr empfindlichen Flimmerhaare (Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der Zelle trifft, bewirkt sofort eine Kontraktion eines fadenförmigen Stieles am anderen festgehefteten Ende. Man bezeichnet diese Erscheinung als »einfachen Reflexbogen«.[122]

IV, An diese Vorgänge im einzeiligen Organismus der Infusorien schließt sich unmittelbar der interessante Mechanismus der Neuromuskelzellen an, welchen wir im vielzelligen Körper vieler niederen Metazoen finden, besonders bei. Nesseltieren (Polypen, Korallen). Jede einzelne »Neuromuskelzelle« ist ein »einzelliges Reflexorgan«; sie besitzt an der Oberfläche ihres Körpers einen empfindlichen Teil, an dem entgegengesetzten inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden; der letztere zieht sich zusammen, sobald der erstere gereizt wird.

V. Bei anderen Nesseltieren, namentlich bei den freischwimmenden Medusen – welche den festsitzenden Polypen nächstverwandt sind –, zerfällt die einfache Neuromuskelzelle in zwei verschiedene, aber durch einen Faden noch zusammenhängende Zellen, eine äußere Sinneszelle (in der Oberhaut) und eine innere Muskelzelle (unter der Haut); in diesem zweizelligen Reflexorgan ist die erstere das Elementarorgan der Empfindung, die letztere dasjenige der Bewegung; die Verbindungsbrücke des Psychoplasmafadens leitet den Reiz von der ersteren zur letzteren hinüber.

VI. Der wichtigste Fortschritt in der stufenweisen Ausbildung des Reflexmechanismus ist die Sonderung von drei Zellen; an die Stelle der ebengenannten einfachen Verbindungsbrücke tritt eine selbständige dritte Zelle, die Seelenzelle oder Ganglienzelle; damit erscheint zugleich eine neue psychische Funktion, die unbewußte »Vorstellung«, deren Sitz eben diese zentrale Zelle ist. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinneszelle zunächst auf diese vermittelnde Vorstellungszelle oder Seelenzelle übertragen und erst von dieser als Befehl zur Bewegung an die motorische Muskelzelle abgegeben. Diese »dreizelligen Reflexorgane« sind überwiegend bei der großen Mehrzahl der wirbellosen Tiere entwickelt.

VII. An die Stelle dieser Einrichtung tritt bei den meisten Wirbeltieren das vierzellige Reflexorgan, indem zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische[123] Muskelzelle nicht eine, sondern zwei verschiedene Seelenzellen eingeschaltet werden. Der äußere Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächst zentripetal auf die Empfindungszelle übertragen (die sensible Seelenzelle), von dieser auf die Willenszelle (die motorische Seelenzelle) und von dieser letzteren erst auf die kontraktile Muskelzelle. Indem zahlreiche solche Reflexorgane sich verbinden und neue Seelenzellen eingeschaltet werden, entsteht der komplizierte Reflexmechanismus des Menschen und der höheren Wirbeltiere.

Der wichtigste Unterschied, den wir in morphologischer und physiologischer Hinsicht zwischen den einzelligen Organismen (Protisten) und den vielzelligen (Histonen) machen, gilt auch für deren elementare Seelentätigkeit, für die Reflextat. Bei den einzelligen Protisten (ebenso den plasmodomen Urpflanzen, Protophyten, wie den plasmophagen Urtieren, Protozoen) läuft der ganze physikalische Prozeß des Reflexes innerhalb des Protoplasma einer einzigen Zelle ab. Die »Zellseele« derselben erscheint noch als eine einheitliche Funktion des Psychoplasma., deren einzelne Phasen sich erst mit der Differenzierung besonderer Organe zu sondern beginnen. Schon bei den zönobionten Protisten, den Zellvereinen (z.B. Volvox, Carchesium), beginnt die zweite Stufe der Seelentätigkeit, die zusammengesetzte Reflextat. Die zahlreichen sozialen Zellen, welche diese Zellvereine oder Zönobien zusammensetzen, stehen immer in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch fadenförmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungsbrücken den übrigen mitgeteilt und kann alle zu gemeinsamer Kontraktion veranlassen. Dieser Zusammenhang besteht auch in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Tiere. Während man früher irrtümlich annahm, daß die Zellen der Pflanzengewebe ganz isoliert nebeneinander stehen, sind jetzt überall feine Plasmafäden nachgewiesen, welche die dicken Zellmembranen[124] durchsetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem und psychologischem Zusammenhang erhalten. So erklärt es sich, daß die Erschütterung der empfindlichen Wurzel von Mimosa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden verursacht, sofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenstockes überträgt und ihre zarten Fiederblätter zum Zusammenlegen, die Blattstiele zum Herabsinken veranlaßt.

Ein wichtiger und allgemeiner Charakter aller Reflexerscheinungen ist Mangel des Bewußtseins. Aus Gründen, die wir im zehnten Kapitel auseinandersetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtsein nur beim Menschen und den höheren Tieren an, dagegen nicht bei den Pflanzen, den niederen Tieren und den Protisten; demnach sind bei diesen letzteren alle Reizbewegungen als Reflexe aufzufassen, d.h. also überhaupt alle Bewegungen, soweit sie nicht spontan und durch innere Ursachen veranlaßt sind (impulsive und automatische Bewegungen). Anders verhält es sich bei den höheren Tieren, bei denen ein zentralisiertes Nervensystem und vollkommene Sinnesorgane entwickelt sind. Hier hat sich aus der psychischen Reflextätigkeit allmählich das Bewußtsein entwickelt, und nunmehr treten die bewußten Willenshandlungen im Gegensatz zu den daneben noch fortbestehenden Reflexhandlungen. Wir müssen aber hier, ebenso wie bei den Instinkten, zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen trennen, die primären und die sekundären Reflexe. Primäre Reflexe sind solche, die phyletisch niemals bewußt gewesen sind, also die ursprüngliche Natur (durch Vererbung von niederen Tierahnen) beibehalten haben. Sekundäre Reflexe dagegen sind solche, die bei den Voreltern bewußte Willenshandlungen waren, aber später durch Gewohnheit oder Ausfall des Bewußtseins zu unbewußten geworden sind. Eine scharfe Grenze ist hier – wie überall – zwischen bewußten und unbewußten Seelenfunktionen nicht zu ziehen.

Ältere Psychologen (z.B. Herbart) haben die »Vorstellung« als das seelische Grundphänomen betrachtet,[125] aus dem alle übrigen abzuleiten seien. Die moderne vergleichende Psychologie akzeptiert diese Anschauung, soweit es sich um den Begriff der unbewußten Vorstellung handelt; dagegen erblickt sie in der bewußten Vorstellung eine sekundäre Erscheinung des Seelenlebens, welche bei den Pflanzen und den niederen Tieren noch ganz fehlt und nur bei den höheren Tieren zur Ausbildung gelangt. Unter den zahlreichen widersprechenden Definitionen, welche die Psychologen vom Begriffe der »Vorstellung« (Dokesis) gegeben haben, halten wir diejenige für die zweckmäßigste, welche darin das innere Bild des äußeren Objektes erblickt, welches durch die Empfindung uns übermittelt ist (»Idee« in gewissem Sinne). Wir unterscheiden in der aufsteigenden Stufenleiter der Vorstellungsfunktion die folgenden vier Hauptstufen:

I. Zellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen begegnet uns die Vorstellung als eine allgemeine physiologische Funktion des Psychoplasma; schon bei den einfachsten einzelligen Protisten können Empfindungen bleibende Spuren im Psychoplasma hinterlassen, und diese können vom Gedächtnis reproduziert werden. Bei mehr als viertausend Radiolarienarten, welche ich beschrieben habe, ist jede einzelne Spezies durch eine besondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieses spezifischen, oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchst einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorstellung zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion des »plastischen Distanzgefühls«.

II. Histonale Vorstellung. Schon bei den Zönobien oder Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Tiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der unbewußten Vorstellung, welche auf dem gemeinsamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn[126] einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung eines Organs (z.B. eines Pflanzenblattes, eines Polypenarmes) auslösen, sondern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der von diesem später spontan reproduziert werden kann, so müssen wir zur Erklärung dieser Erscheinung eine Histonalmneme annehmen, gebunden an das Psychoplasma der assoziierten Gewebezellen.

III. Unbewußte Vorstellung der Ganglienzellen. Diese dritte, höhere Stufe der Vorstellung ist die häufigste Form dieser Seelentätigkeit im Tierreich; sie erscheint als eine Lokalisation des Vorstellens auf bestimmte »Seelenzellen«. Im einfachsten Falle erscheint sie daher bei der Reflextat erst auf der sechsten Stufe der Entwicklung, wenn das dreizellige Reflexorgan gebildet ist; der Sitz der Vorstellung ist dann die mittlere Seelenzelle, welche zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle eingeschaltet ist. Mit der aufsteigenden Entwicklung des Zentralnervensystems im Tierreich, seiner zunehmenden Differenzierung und Integration erhebt sich auch die Ausbildung dieser unbewußten Vorstellungen zu immer höheren Stufen.

IV. Bewußte Vorstellung der Gehirnzellen. Erst auf den höchsten Entwicklungsstufen der tierischen Organisation entwickelt sich das Bewußtsein als eine besondere Funktion eines bestimmten Zentralorgans des Nervensystems. Indem die Vorstellungen bewußte werden, und indem besondere Gehirnteile sich zur Assozion der bewußten Vorstellungen reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchsten, psychischen Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Überlegen, als Verstand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Absteckung der phyletischen Grenze zwischen den älteren, unbewußten, und den jüngeren, bewußten Vorstellungen höchst schwierig ist, können wir doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die letzteren aus den ersteren polyphyletisch entstanden sind; denn wir finden bewußtes und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchsten Formen[127] des Wirbeltierstammes (Mensch, Säugetier, ein Teil der niederen Vertebraten), sondern auch bei den höchstentwickelten Vertretern anderer Tierstämme (Ameisen und andere Insekten, Spinnen und höhere Krebse unter den Gliedertieren, vielleicht auch Zephalopoden unter den Weichtieren).

Eng verknüpft mit der Stufenleiter in der Entwicklung der Vorstellungen ist diejenige des Gedächtnisses; diese höchst wichtige Funktion des Psychoplasma – die Bedingung aller fortschreitenden Seelenentwicklung – ist ja im wesentlichen Reproduktion von Vorstellungen. Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reiz als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen geworden waren, werden durch das Gedächtnis neu belebt; sie gehen aus dem potentiellen in den aktuellen Zustand über. Die latente »Spannkraft« im Psychoplasma verwandelt sich in aktive »lebendige Kraft«. Entsprechend den vier Stufen der Vorstellung können wir auch beim Gedächtnis vier Hauptstufen der aufsteigenden Entwicklung unterscheiden.

I. Zellulargedächtnis. Schon im Jahre 1870 hat Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung »das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie« bezeichnet und die hohe Bedeutung dieser Seelentätigkeit hervorgehoben, »der wir fast alles verdanken, was wir sind und haben«. Ich selbst habe später (1876) diesen Gedanken weiter ausgeführt und in seiner fruchtbaren Anwendung auf die Entwicklungslehre zu begründen versucht, in meiner Abhandlung über »Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebensteilchen; ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwicklungsvorgänge«. Ich habe dort das »unbewußte Gedächtnis« als eine allgemeine, höchst wichtige Funktion aller Plastidule nachzuweisen gesucht, d.h. jener hypothetischen Moleküle und Molekülgruppen, welche von Naegeli als Mizelle, von anderen als Bioplasten usw. bezeichnet worden sind. Nur die lebenden Plastidule, als die individuellen[128] Moleküle des aktiven Plasma, sind reproduktiv und besitzen somit Gedächtnis; das ist der Hauptunterschied der organischen Natur von der anorganischen. Man kann sagen: »Die Erblichkeit ist das Gedächtnis der Plastidule, hingegen die Variabilität ist die Fassungskraft der Plastidule« (a.a.O. S. 72). Das elementare Gedächtnis der einzelligen Protisten setzt sich zusammen aus dem molekularen Gedächtnis der Plastidule oder Mizelle, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib sich aufbaut. Für die erstaunlichen Leistungen des unbewußten Gedächtnisses bei diesen einzelligen Protisten ist wohl keine Tatsache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regelmäßige Bildung ihrer komplizierten Schutzapparate, der Schalen und Skelette. Besonders die Diatomeen und Kosmarieen unter den Protophy ten, die Radiolarien und Thalamophoren unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle von interessanten Beispielen. In vielen tausend Arten dieser Protisten vererbt sich die spezifische Skelettform relativ konstant und bezeugt die Treue ihres unbewußten Gedächtnisses. Neuerdings hat Richard Semon in einem bedeutungsvollen Werke: »Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens« dies physiologisch begründet (1904).

II. Histonalgedächtnis. Ebenso interessante Beweise für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Gedächtnis der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Tiere (Spongien usw.). Die zweite Stufe erscheint als Reproduktion der Histonalvorstellungen, jener Assozion von Zellularvorstellungen, die mit der Bildung von Zönobien bei den sozialen Protisten beginnt.

III. Gleicherweise ist die dritte Stufe, das »unbewußte Gedächtnis« derjenigen Tiere, die bereits ein Nervensystem besitzen, als Reproduktion der entsprechenden »unbewußten Vorstellungen« zu betrachten, welche in gewissen Ganglienzellen aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Tieren ist wohl alles[129] Gedächtnis unbewußt. Aber auch beim Menschen und den höheren Tieren, denen wir Bewußtsein zuschreiben müssen, sind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtnisses ungleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten; davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend unbewußten Tätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Essen usw., täglich vollziehen.

IV. Das bewußte Gedächtnis, welches durch bestimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Tieren vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene »innere Spiegelung«, als die höchste Blüte derselben psychischen Vorstellungsreproduktionen, welche bei unseren tierischen Vorfahren sich als unbewußte Vorgänge in den Ganglienzellen abspielten.

Die Verkettung der Vorstellungen, welche man gewöhnlich als Assoziation der Ideen (oder kürzer Assozion) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange Skala von den niedersten bis zu den höchsten Stufen. Auch sie ist wieder ursprünglich und ganz überwiegend unbewußt (»Instinkt«); nur bei den höheren Tierklassen wird sie allmählich bewußt (»Vernunft«). Die psychischen Erzeugnisse dieser »Ideenassozion« sind äußerst mannigfaltig; trotzdem aber führt eine sehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Entwicklung von den einfachsten unbewußten Assozionen der niedersten Protisten bis zu den vollkommensten bewußten Ideenverkettungen des Kulturmenschen hinauf. Auch die Einheit des Bewußtseins bei letzteren wird als das höchste Ergebnis derselben erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben wird um so vollkommener, je mehr sich die normale Assozion unendlich zahlreicher Vorstellungen ausdehnt, und je naturgemäßer dieselben durch die »Kritik der reinen Vernunft« geordnet werden. Im Traume, wo diese Kritik: fehlt, erfolgt oft die Assozion der reproduzierten Vorstellungen in der konfusesten Form. Aber auch im Schaffen der dichterischen Phantasie,[130] welche durch mannigfaltige Verkettung vorhandener Vorstellungen ganz neue Gruppen derselben produziert, ebenso in den Halluzinationen usw. werden dieselben oft ganz naturwidrig geordnet und erscheinen daher bei nüchterner Betrachtung vollkommen unvernünftig. Ganz besonders gilt dies von den übernatürlichen »Gestalten des Glaubens«, dem Geisterspuk des Spiritismus und Okkultismus und den Phantasiebildern der transzendenten dualistischen Philosophie; aber gerade diese abnormen Assozionen des »Glaubens« und der angeblichen »Offenbarung« gelten vielfach als die wertvollsten »Geistesgüter«.

Die veraltete Psychologie des Mittelalters, die allerdings auch heute noch viele Anhänger besitzt, betrachtete das Seelenleben des Menschen und der Tiere als gänzlich verschiedene Erscheinungen; sie leitete das erstere von der »Vernunft«, das letztere von dem »Instinkt« ab. Der traditionellen Schöpfungsgeschichte entsprechend nahm man an, daß jeder Tierart bei ihrer Schöpfung eine bestimmte, unbewußte Seelenqualität vom Schöpfer eingepflanzt sei, und daß dieser »Naturtrieb« (Instinctus) einer jeden Spezies ebenso unveränderlich sei wie deren körperliche Organisation. Nachdem schon Lamarck (1809) bei Begründung seiner Deszendenztheorie diesen Irrtum als unhaltbar erwiesen, wurde er durch Darwin (1859) vollständig widerlegt; er bewies an der Hand seiner Selektionstheorie folgende wichtige Lehrsätze: I. Die Instinkte der Spezies sind individuell verschieden und ebenso der Abänderung durch Anpassung unterworfen wie die morphologischen Merkmale der Körperbildung. II. Diese Variationen (großenteils durch veränderte Gewohnheiten entstanden) werden durch Vererbung teilweise auf die Nachkommen übertragen und im Laufe der Generationen gehäuft und befestigt. III. Die Selektion (ebenso die künstliche wie die natürliche) trifft unter diesen erblichen Abänderungen der Seelentätigkeit eine Auswahl, sie erhält die zweckmäßigsten und entfernt die weniger passenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte[131] Divergenz des psychischen Charakters führt so im Laufe der Generationsfolgen ebenso zur Entstehung neuer Instinkte, wie die Divergenz des morphologischen Charakters zur Entstehung neuer Spezies. Diese Instinkttheorie Darwins ist jetzt von den meisten Biologen angenommen; John Romanes hat dieselbe in seinem ausgezeichneten Werke über »Die geistige Entwicklung im Tierreiche« (1883) so eingehend behandelt und so wesentlich erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweisen kann. Ich will nur kurz bemerken, daß nach meiner Ansicht Instinkte bei allen Organismen vorkommen, bei sämtlichen Protisten und Pflanzen ebenso wie bei sämtlichen Tieren und Menschen.

Als zwei Hauptklassen sind unter den unzähligen Instinktformen die primären und sekundären zu unterscheiden; primäre Instinkte sind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem Psychoplasma von Beginn des organischen Lebens innewohnten und unbewußt waren, vor allem die Triebe der Selbsterhaltung (Schutz und Ernährung) und der Arterhaltung (Fortpflanzung und Brutpflege). Diese beiden Grundtriebe des organischen Lebens, Hunger und Liebe, sind ursprünglich überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verstandes oder der Vernunft entstanden; bei höheren Tieren sind sie später, wie beim Menschen, Gegenstände des Bewußtseins geworden. Umgekehrt verhält es sich mit den sekundären Instinkten; diese sind ursprünglich durch intelligente Anpassung entstanden, durch verständiges Nachdenken und Schließen sowie zweckmäßiges bewußtes Handeln; allmählich sind sie so zur Gewohnheit geworden, daß diese »altera natura« unbewußt wirkt und auch bei der Vererbung auf die Nachkommen als »angeboren« erscheint. Das ursprünglich mit diesen besonderen Instinkten der höheren Tiere und des Menschen verknüpfte Bewußtsein und Nachdenken ist im Laufe der Zeit den Plastidulen verloren gegangen (wie bei der »abgekürzten Vererbung«). Die unbewußten zweckmäßigen Handlungen der höheren[132] Tiere (z.B. die Kunsttriebe) erscheinen jetzt als angeborene Instinkte. So ist auch die Entstehung der angeborenen »Erkenntnisse a priori« beim Menschen zu erklären, welche ursprünglich bei seinen Voreltern a posteriori sich empirisch entwickelt hatten.

In jenen oberflächlichen, mit dem Seelenleben der Tiere unbekannten psychologischen Betrachtungen, welche nur im Menschen eine »wahre Seele« anerkennen, wird auch ihm allein als höchstes Gut die »Vernunft« und das Bewußtsein zugeschrieben. Auch dieser triviale Irrtum (der übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern spukt) ist durch die vergleichende Psychologie der letzten fünfzig Jahre gründlich widerlegt. Die höheren Wirbeltiere (vor allem die dem Menschen nächststehenden Säugetiere) besitzen ebensogut Vernunft wie der Mensch selbst, und innerhalb der Tierreihe ist ebenso eine lange Stufenleiter in der allmählichen Entwicklung der Vernunft zu verfolgen wie innerhalb der Menschenreihe. Auch dieser wichtige Satz ist durch unbefangene und gründliche kritische Vergleichung von Romanes u. a. überzeugend bewiesen. Wir gehen daher auf denselben hier nicht näher ein, ebensowenig als auf den Unterschied zwischen Vernunft (Ratio) und Verstand (Intellectus); über diese Begriffe und ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Psychologie, geben die angesehensten Philosophen die widersprechendsten Definitionen. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Fähigkeit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirnfunktionen gemeinsam ist, beim Verstande den engeren Kreis der konkreten, näher liegenden Assozionen umfaßt, bei der Vernunft dagegen den weiteren Kreis der abstrakten, umfassenderen Assozionsgruppen. Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflextaten und Instinkten der niederen Tiere zu der Vernunft der höchsten Tiere hinaufführt, geht der Verstand der letzteren voraus. Wichtig ist für unsere allgemeine psychologische Betrachtung vor allem die Tatsache, daß auch diese höchstentwickelten Seelentätigkeiten den Gesetzen der Vererbung[133] und Anpassung unterliegen, ebenso wie ihre Organe.

Der höhere Grad von Entwicklung der Begriffe, von Verstand und Vernunft, welcher den Menschen so hoch über die Tiere erhebt, ist eng verknüpft mit der Ausbildung seiner Sprache. Aber auch hier, wie dort, ist eine lange Stufenleiter der Entwicklung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niedersten zu den höchsten Bildungsstufen hinaufführt. Sprache ist ebensowenig als Vernunft ein ausschließliches Eigentum des Menschen. Vielmehr ist Sprache im weiteren Sinne ein gemeinsamer Vorzug aller höheren sozialen Tiere, mindestens aller Gliedertiere und Wirbeltiere, welche in Gesellschaften und Herden vereinigt leben; sie ist ihnen notwendig zur Verständigung, zur Mitteilung ihrer Vorstellungen. Diese kann nun entweder durch Berührung oder durch Zeichengebung geschehen, oder durch Töne, welche bestimmte Begriffe bezeichnen. Auch der Gesang der Singvögel und der singenden Menschenaffen (Hylobates) gehört zur Lautsprache, ebenso wie das Bellen der Hunde und das Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen und das Geschrei der Zikaden. Aber nur beim Menschen hat sich jene artikulierte Begriffssprache entwickelt, welche seine Vernunft zu soviel höheren Leistungen befähigt. Die vergleichende Sprachforschung, eine der interessantesten im neunzehnten Jahrhundert entstandenen Wissenschaften, hat gelehrt, wie die zahlreichen hoch entwickelten Sprachen der verschiedenen Völker sich aus wenigen einfachen Ursprachen langsam und allmählich entwickelt haben (Wilhelm Humboldt, Bopp, Schleicher, Steinthal u. a.). Insbesondere hat August Schleicher in Jena gezeigt, daß die historische Entwicklung der Sprachen nach den selben phylogenetischen Gesetzen erfolgt, wie diejenige anderer physiologischer Tätigkeiten und ihrer Organe. Romanes hat (1893) diesen Nachweis weiter ausgeführt und überzeugend dargetan, daß auch die Sprache des Menschen nur dem Grade der Entwicklung nach, nicht dem Wesen und[134] der Art nach von derjenigen der höheren Tiere verschieden ist.

Die wichtige Gruppe von Seelentätigkeiten, welche wir unter dem Begriffe »Gemüt« zusammenfassen, spielt eine große Rolle ebenso in der theoretischen wie in der praktischen Vernunftlehre. Für unsere Betrachtungen sind sie deshalb besonders wichtig, weil hier der direkte Zusammenhang der Gehirnfunktion mit anderen physiologischen Funktionen (Herzschlag, Sinnestätigkeit, Muskelbewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier besonders das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philosophie klar, welche die Psychologie prinzipiell von der Physiologie trennen will. Alle die zahlreichen Äußerungen des Gemütslebens, welche wir beim Menschen finden, kommen auch bei den höheren Tieren vor (besonders bei den Menschenaffen und Hunden); so verschiedenartig sie auch entwickelt sind, so lassen sie sich doch alle wieder auf die beiden Elementarfunktionen der Psyche zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf deren Verbindung im Reflex und in der Vorstellung. Zum Gebiete der Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von Lust und Unlust, welches das Gemüt bestimmt, und ebenso gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die entsprechende Zuneigung und Abneigung (»Liebe und Haß«), das Streben nach Erlangen der Lust und nach Vermeiden der Unlust. »Anziehung und Abstoßung« erscheinen hier zugleich als die Urquelle des Willens, jenes hochwichtigen Seelenelementes, welches den Charakter des Individuums bestimmt. Die Leidenschaften, welche eine so eingreifende Rolle im Seelenleben aller Menschen spielen, sind nur Steigerungen ihrer »Gemütsbewegungen«. Daß auch diese Affekte den Menschen und Tieren gemeinsam sind, hat Romanes neuerdings einleuchtend gezeigt. Auf der tiefsten Stufe des organischen Lebens schon finden wir bei allen Protisten jene elementaren Gefühle von Lust und Unlust, welche sich in ihren sogenannten Tropismen äußern, in dem Streben[135] nach Licht oder Dunkelheit, nach Wärme oder Kälte, in dem verschiedenen Verhalten gegen positive und negative Elektrizität. Auf der höchsten Stufe des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenschen jene feinsten Gefühlstöne und Abstufungen von Entzücken und Abscheu, von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeschichte und die unerschöpfliche Fundgrube der Poesie sind. Und doch verbindet eine zusammenhängende Kette von allen denkbaren Übergangsstufen jene primitivsten Urzustände des Gemüts im Psychoplasma der einzelligen Protisten mit diesen höchsten Entwicklungsformen der Leidenschaften beim Menschen, welche sich in den Ganglienzellen oder Neuronen der Großhirnrinde abspielen. Daß auch diese letzteren den physikalischen Gesetzen absolut unterworfen sind, hat schon der große Spinoza in seiner berühmten »Statik der Gemütsbewegungen« dargetan.

Der Begriff des Willens unterliegt gleich anderen psychologischen Grundbegriffen (gleich den Begriffen von Vorstellung, Seele, Geist usw.) den verschiedensten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weitesten Sinne als kosmologisches Attribut betrachtet: »die Welt als Wille und Vorstellung« (Schopenhauer); bald im engsten Sinne als ein anthropologisches Attribut, als eine ausschließliche Eigenschaft des Menschen. Letzteres gilt z.B. für Descartes, für welchen die Tiere willenlose und empfindungslose Maschinen sind. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird der Wille von der Erscheinung der willkürlichen Bewegung abgeleitet und somit als eine Seelentätigkeit der meisten Tiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Physiologie und Entwicklungsgeschichte untersuchen, so kommen wir – ebenso wie bei der Empfindung – zur Überzeugung, daß er eine allgemeine Eigenschaft des lesenden Psychoplasma ist. Die automatischen Bewegungen sowohl als die Reflexbewegungen, die wir schon bei. den einzelligen Protisten allgemein beobachten, erscheinen uns als die Folge von Strebungen,[136] welche mit dem Begriffe des Lebens selbst untrennbar verknüpft sind. Auch bei den Pflanzen den niedersten Tieren erscheinen die Strebungen oder Tropismen als das Gesamtresultat der Strebungen aller einzelnen, im sozialen Gewebebau vereinigten Zellen.

Erst wenn das »dreizellige Reflexorgan« sich entwickelt (S. 123), wenn zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle die selbständige dritte Zelle eingeschaltet wird, die »Seelenzelle oder Ganglienzelle«, können wir diese als ein selbständiges Elementarorgan des Willens anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei den niederen Tieren, meistens noch unbewußt. Erst wenn sich bei den höheren Tieren das Bewußtsein entwickelt, als subjektive Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchste Stufe, welche ihn qualitativ dem menschlichen Willen gleichstellt, und für den man im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Prädikat der »Freiheit« in Anspruch nimmt. Seine freie Entfaltung und Wirkung erscheint um so imposanter, je mehr sich mit der freien und schnellen Ortsbewegung das Muskelsystem und die Sinnesorgane entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane des Gehirns.

Das Problem von der Freiheit des menschlichen Willens ist unter allen Welträtseln dasjenige, welches den denkenden Menschen von jeher am meisten beschäftigt hat, und zwar deshalb, weil sich hier mit dem hohen philosophischen Interesse der Frage zugleich die wichtigsten Folgerungen für die praktische Philosophie verknüpfen, für die Moral, die Erziehung, die Rechtspflege usw. E. du Bois-Reymond, welcher dasselbe als das siebente und letzte unter seinen »sieben Welträtseln« behandelt, sagt daher von dem Problem der Willensfreiheit mit Recht: »Jeden berührend, scheinbar jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das tiefste eingreifend in die religiösen Überzeugungen, hat diese Frage in der Geistes-[137] und Kulturgeschichte eine Rolle von unermeßlicher Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwicklungsstadien des Menschengeistes deutlich, ab. – Vielleicht gibt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern.« – Diese Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zutage, daß Kant die Überzeugung von der »Willensfreiheit« unmittelbar neben diejenige von der »Unsterblichkeit der Seele« und neben den »Glauben an Gott« stellte. Er bezeichnete diese drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen »Postulate der praktischen Vernunft«, nachdem er früher gezeigt hatte, daß ihre Realität im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweisen ist!

Das merkwürdigste in dem großartigen und höchst verworrenen Streite über die Willensfreiheit ist vielleicht die Tatsache, daß dieselbe theoretisch nicht nur von höchst kritischen Philosophen, sondern auch von den extremsten Gegensätzen verneint und trotzdem von den meisten Menschen als selbstverständlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der christlichen Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt wie die bekanntesten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädestination unvereinbar ist; Gott, der Allmächtige und Allwissende, sah und wollte alles von Ewigkeit voraus; also bestimmte er auch das Handeln der Menschen. Wenn der Mensch nach freiem Willen handelte, anders, als es Gott vorausbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In demselben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determinist. Die monistischen Naturforscher des achtzehnten Jahrhunderts (Laplace) verteidigten den Determinismus auf Grund ihrer mechanischen Weltanschauung.[138]

Der gewaltige Kampf zwischen Deterministen und Indeterministen, zwischen den Gegnern und den Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zugunsten der ersteren entschieden. Der menschliche Wille ist ebensowenig frei als derjenige der höheren Tiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet. Während noch im achtzehnten Jahrhundert das alte Dogma von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das neunzehnte Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und Entwicklungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder Willensakt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelentätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag gibt, entsprechend den Gesetzen, welche die Statistik der Gemütsbewegungen bestimmen.[139]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 117-140.
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