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[140] Monistische Studien über ontogenetische Psychologie.
Entwicklung des Seelenlebens im individuellen Leben der Person.
Unsere menschliche Seele – gleichviel, wie man ihr Wesen auffaßt – unterliegt im Laufe unseres individuellen Lebens einer stetigen Entwicklung. Diese ontogenetische Tatsache ist für unsere monistische Psychologie von fundamentaler Bedeutung, obwohl die meisten »Psychologen vom Fach« ihr teils nur geringe, teils gar keine Berücksichtigung schenken. Wie nun die individuelle Entwicklungsgeschichte nach Baers Ausdruck – und nach der jetzt allgemein herrschenden Überzeugung der Biologen – der »wahre Lichtträger für alle Untersuchungen über organische Körper ist«, so wird dieselbe auch über die wichtigsten Geheimnisse ihres Seelenlebens uns erst das wahre Licht anzünden.
Obgleich nun diese »Keimesgeschichte der Menschenseele« äußerst wichtig und interessant ist, hat sie doch bisher nur in sehr beschränktem Umfange die verdiente Berücksichtigung gefunden. Es waren bisher fast ausschließlich die Pädagogen, welche sich mit einem Teile derselben beschäftigten; durch ihren praktischen Beruf darauf angewiesen, die Ausbildung der Seelentätigkeit beim Kinde zu leiten und zu überwachen, mußten sie auch theoretisches Interesse an den dabei beobachteten psychogenetischen Tatsachen finden. Indessen standen diese Pädagogen – soweit sie überhaupt darüber nachdachten! –[140] in der Neuzeit wie im Altertum größtenteils im Banne der herrschenden dualistischen Psychologie; dagegen waren sie mit den wichtigsten Tatsachen der vergleichenden Psychologie, sowie mit der Organisation und Funktion des Gehirns meistens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre Beobachtungen größtenteils erst die Kinder im schulpflichtigen Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden Lebensjahren. Die merkwürdigen Erscheinungen, welche die individuelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern, wurden fast niemals Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Studien. Hier hat erst Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in seiner interessanten Schrift über »Die Seele des Kindes; Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren«. Indessen müssen wir, um volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erste Entstehung der Seele im befruchteten Ei.
Der Ursprung und die erste Entstehung des menschlichen Individuums – ebenso unseres Körpers wie unserer Seele – galt noch im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimnis. Allerdings hatte der große Caspar Friedrich Wolff schon 1759 in seiner Theoria generationis das wahre Wesen der embryonalen Entwicklung aufgedeckt und an der sicheren Hand kritischer Beobachtung gezeigt, daß bei der Entwicklung des Keimes aus dem einfachen Ei eine wahre Epigenesis, d.h. eine Reihe der merkwürdigsten Neubildungsprozesse stattfinde. Allein die damalige Physiologie, an ihrer Spitze der berühmte Albrecht Haller, lehnte diese empirischen, unmittelbar mikroskopisch zu demonstrierenden Erkenntnisse rundweg ab und hielt an dem hergebrachten Dogma der embryonalen Präformation fest. Nach diesem nahm man an, daß im menschlichen Ei – ebenso wie im Ei aller Tiere – der Organismus mit allen seinen Teilen vorgebildet oder präformiert sei; die »Entwicklung« des Keimes[141] bestehe eigentlich nur in einer »Auswickelung« (Evolutio) der eingewickelten Teile. Als notwendiger Folgeschluß dieses Irrtums ergab sich daraus weiterhin die oben erwähnte Einschachtelungstheorie (S. 63); da im weiblichen Embryo bereits der Eierstock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß in dessen Eiern wieder schon die Keime der nächsten Generation eingeschachtelt vorhanden seien, und so weiter, in infinitum! Diesem Dogma der »Ovulisten« Schule stand gegenüber eine andere, ebenso irrtümliche Ansicht, die der »Animalkulisten«; diese glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle der Mutter, sondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege, und daß in diesem »Samentierchen« (Spermatozoon) die Einschachtelung der Generationsreihen zu suchen sei.
Leibniz übertrug diese Einschachtelungslehre ganz folgerichtig auch auf die menschliche Seele; er leugnete für sie eine wahre Entwicklung (Epigenesis) ebenso wie für den Körper und sagte in seiner Theodizee: »So sollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von anderen Spezies, dagewesen sind; daß sie in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organisierter Körper existiert haben.« Ähnliche Vorstellungen erhielten sich sowohl in der Biologie wie in der Philosophie noch bis in das dritte Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts, wo ihnen die Keimesgeschichte durch Baer den Todesstoß versetzte. Im Gebiete der Psychologie haben sie aber selbst bis auf den heutigen Tag noch vielfach Geltung; sie stellen nur eine Gruppe unter den vielen seltsamen, mystischen Vorstellungen dar, welche die Ontogenie der Psyche auch heute noch aufweist.
Die näheren Aufschlüsse, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings über die mannigfaltigen Mythenbildungen der älteren Kulturvölker sowohl als der heutigen Naturvölker gewonnen haben, sind auch für die Psychogenie von großem Interesse;[142] indessen würde es hier viel zu weit führen, wenn wir darauf eingehen wollten; wir verweisen darüber auf das treffliche Werk von Adalbert Svoboda: »Gestalten des Glaubens« (1897). Betreffs ihres wissenschaftlichen oder poetischen Gehaltes können die betreffenden psychogenetischen Mythen etwa folgendermaßen in fünf Gruppen geordnet werden: I. Mythus der Seelenwanderung: die Seele lebte früher im Körper eines anderen Tieres und ist erst aus diesem in den menschlichen Körper übergetreten; die ägyptischen Priester z.B. behaupteten, daß die menschliche Seele nach dem Tode des Leibes durch alle Tiergattungen hindurchwandere, nach 3000 Jahren aber wieder in einen Menschenleib zurückkehre. II. Mythus der Seeleneinpflanzung: die Seele existierte selbständig an einem anderen Orte, in einer psychogenetischen Vorratskammer (etwa in einer Art von Keimschlaf oder latentem Leben); sie wird von einem Vogel (bisweilen als Adler, oft auch als »Klapperstorch« gedacht) geholt und in den menschlichen Körper eingesetzt. III. Mythus der Seelenschöpfung: der göttliche Schöpfer, als persönlicher »Gottvater« gedacht, erschafft die Seelen, hält sie vorrätig – bald in einem Seelenteich (als »Plankton« lebend), bald an einem Seelenbaum (als Früchte einer phanerogamen Pflanze gedacht); der Schöpfer nimmt dieselben heraus und setzt sie (während des Zeugungsaktes) dem menschlichen Keime ein. IV. Mythus der Seeleneinschachtelung (von Leibniz, vorher erwähnt). V. Mythus der Seelenteilung (von Rudolf Wagner, 1855, auch von anderen Physiologen angenommen); im Zeugungsakte spaltet sich ein Teil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper der beiden kopulierenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelenkeim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem beweglichen Samentierchen; indem diese beiden Keimzellen verschmelzen, wachsen auch die beiden sie begleitenden Seelen zur Bildung einer neuen immateriellen Seele zusammen.
Obwohl die angeführten Dichtungen über die Entstehung[143] der einzelnen Menschenseele heute noch sehr weite Verbreitung und Anerkennung besitzen, ist dennoch ihr rein mythologischer Charakter jetzt sicher nachgewiesen. Die hochinteressanten und bewunderungswürdigen Untersuchungen, welche im Laufe der letzten Jahrzehnte über die feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies ausgeführt worden sind, haben ergeben, daß diese mysteriösen Erscheinungen sämtlich in das Gebiet der Zellenphysio logie gehören (vergl. oben S. 71). Sowohl die weibliche Keimanlage, das Ei, als der männliche Befruchtungskörper, das Spermium oder Samenelement, sind einfache Zellen. Diese lebendigen Zellen besitzen eine Summe von physiologischen Eigenschaften, welche wir unter dem Begriff der Zellseele zusammenfassen, ebenso wie bei den permanent einzelligen Protisten (vergl. S. 158). Beiderlei Geschlechtszellen besitzen das Vermögen der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder das »Urei« bewegt sich nach Art einer Amöbe; die sehr kleinen Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem Tropfen des schleimartigen, männlichen Samens (Sperma) sich finden, sind Geißelzellen und bewegen sich mittelst ihrer schwingenden Geißel ebenso lebhaft schwimmend im Sperma umher wie die gewöhnlichen Geißelinfusorien (Flagellaten).
Wenn nun die beiderlei Zellen infolge der Begattung zusammentreffen, oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z.B. bei Fischen) in Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegenseitig an und legen sich fest aneinander. Die Ursache dieser zellularen Attraktion ist eine chemische, dem Geruche oder Geschmacke verwandte Sinnestätigkeit des Plasma, die wir als »erotischen Chemopotrismus« bezeichnen; man kann sie auch geradezu (sowohl im Sinne der Chemie als im Sinne der Romanliebe) »Zellenwahlverwandt schaft« oder »sexuelle Zellenliebe« nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma schwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und versuchen in deren Körper einzudringen. Wie Hertwig[144] (1875) gezeigt hat, gelingt es aber normalerweise nur einem einzigen glücklichen Bewerber, das ersehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald sich dieses bevorzugte »Samentierchen« mit seinem »Kopfe« (d.h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimschicht abgesondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kältestarre versetzte oder sie durch narkotische Mittel (Chloroform, Morphium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieser Schutzhülle; dann trat »Überfruchtung oder Polyspermie« ein, und zahlreiche Samenfäden bohrten sich in den Leib der bewußtlosen Zelle ein (Anthropogenie S. 156). Diese merkwürdige Tatsache bezeugt ebenso einen niederen Grad von »zellularem Instinkt« (oder mindestens von spezifischer, sinnlicher, lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geschlechtszellen wie die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf sich in ihrem Inneren abspielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der männliche Spermakern, ziehen sich gegenseitig an, nähern sich und verschmelzen bei der Berührung vollständig miteinander. So ist denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle entstanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen, und aus deren wiederholter Teilung der ganze vielzellige Organismus mit seinen zahlreichen Organen hervorgeht.
Die psychologischen Erkenntnisse, welche sich aus diesen merkwürdigen, erst in den letzten 30 Jahren sicher beobachteten Tatsachen der Befruchtung ergeben, sind überaus wichtig und bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt. Wir fassen die wesentlichsten Folgerungen in folgenden fünf Sätzen zusammen: I. Jedes menschliche Individuum ist, wie jedes andere höhere Tier, im Beginne seiner Existenz eine einfache Zelle. II. Diese Stammzelle (Cytula) entsteht überall auf dieselbe Weise, durch Verschmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen verschiedenen Ursprungs, der weiblichen[145] Eizelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium). III. Beide Geschlechtszellen besitzen eine verschiedene »Zellseele«, d.h. beide sind durch eine besondere Form von Empfindung und von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Befruchtung oder Empfängnis verschmelzen nicht nur die Plasmakörper der beiden Geschlechtszellen und ihre Kerne, sondern auch die »Seelen« derselben; d.h. die Spannkräfte, welche in beiden enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden sind, vereinigen sich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des »Seelenkei mes« der neugebildeten Stammzelle. V. Daher besitzt jede Person leibliche und geistige Eigenschaften von beiden Eltern; durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Teil der mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Teil der väterlichen Eigenschaften.
Durch diese empirisch erkannten Erscheinungen der Konzeption wird ferner die höchst wichtige Tatsache festgestellt, daß jeder Mensch wie jedes andere Tier einen Beginn der individuellen Existenz hat; die völlige Kopulation der beiden sexuellen Zellkerne bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entsteht, sondern auch ihre »Seele«. Durch diese Tatsache allein schon wird der alte Mythus von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt, auf den wir später zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch sehr verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Mensch seine individuelle Existenz der »Gnade des liebenden Gottes« verdankt. Die Ursachen derselben beruhen vielmehr einzig und allein auf dem »Eros« seiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen vielzelligen Tieren und Pflanzen gemeinsamen Geschlechtstriebe, welcher zu deren Begattung führt. Das Wesentliche bei diesem physiologischen Prozesse ist aber nicht, wie man früher annahm, die »Umarmung« oder die damit verknüpften Liebesspiele, sondern einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma in die weiblichen Geschlechtskanäle. Nur dadurch wird es[146] bei den landbewohnenden Tieren möglich, daß der befruchtende Samen mit der abgelösten Eizelle zusammenkommt (was beim Menschen gewöhnlich innerhalb des Eileiters geschieht). Bei niederen, wasserbewohnenden Tieren (z.B. Fischen, Muscheln, Medusen) werden beiderlei reife Geschlechtsprodukte einfach in das Wasser entleert, und hier bleibt ihr Zusammentreffen dem Zufall überlassen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und damit zugleich fallen jene zusammengesetzten psychischen Funktionen des »Liebeslebens« hinweg, die bei höheren Tieren eine so große Rolle spielen. Dabei fehlen auch allen niederen, nicht kopulierenden Tieren jene interessanten Organe, die Darwin als »sekundäre Sexualcharaktere« bezeichnet hat, die Produkte der geschlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih des Hirsches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvögel und vieler Hühnervögel, sowie viele andere Auszeichnungen der Männchen, welche den Weibchen fehlen.
Unter den angeführten Folgeschlüssen der Konzeptionsphysiologie ist für die Psychologie ganz besonders wichtig die Vererbung der Seelenqualitäten von beiden Eltern. Daß jedes Kind besondere Eigentümlichkeiten des Charakters, Temperament, Talent, Sinnesschärfe, Willensenergie von beiden Eltern erbt, ist allgemein bekannt. Ebenso bekannt ist die Tatsache, daß oft (oder eigentlich allgemein!) auch psychische Eigenschaften von beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja, häufig stimmt in einzelnen Beziehungen der Mensch mehr mit den Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenso von geistigen wie von körperlichen Eigentümlichkeiten. Alle die merkwürdigen Gesetze der Vererbung, welche ich zuerst (1866) in der Generellen Morphologie formuliert und in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte populär behandelt habe, besitzen ebenso allgemeine Gültigkeit für die besonderen Erscheinungen der Seelentätigkeit wie der Körperbildung; ja, sie treten uns häufig an der[147] ersteren noch viel auffallender und klarer entgegen als an der letzteren.
Nun ist ja an sich das große Gebiet der Vererbung, für dessen ungeheuere Bedeutung uns erst Darwin. (1859) das wissenschaftliche Verständnis eröffnet hat, reich an dunkeln Rätseln und physiologischen. Schwierigkeiten; wir dürfen nicht beanspruchen, daß uns schon jetzt alle Seiten desselben vollkommen klar vor Augen, liegen. Aber soviel haben wir doch schon sicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine physiologische Funktion des Organismus betrachten, die mit der Tätigkeit seiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft ist; und wie alle anderen Lebenstätigkeiten müssen wir auch diese schließlich auf physikalische und chemische Prozesse, auf Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber jetzt den Vorgang der Befruchtung selbst genau; wir wissen, daß dabei ebenso der Spermakern die väterlichen wie der Eikern die mütterlichen Eigenschaften auf die neugebildete Stammzelle überträgt. Die Vermischung beider Zellkerne ist das eigentliche Hauptmoment der Vererbung; durch sie werden ebenso die individuellen Eigenschaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete Individuum übertragen. Diesen ontogenetischen Tatsachen steht die dualistische und mystische Psychologie der noch heute herrschenden Schulen ratlos gegenüber, während sie sich durch unsere monistische Psychogenie in einfachster Weise vollkommen erklären.
Die physiologische Tatsache, auf welche es für die richtige Beurteilung der individuellen Psychogenie vor allem ankommt, ist die Kontinuität der Psyche in der Generationsreihe. Wenn im Konzeptionsmomente auch tatsächlich ein neues Individuum entsteht, so ist dasselbe doch weder hinsichtlich seiner geistigen noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, sondern lediglich das Produkt aus der Verschmelzung der beiden elterlichen Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen Spermazelle.[148] Die Zellseelen dieser beiden Geschlechtszellen verschmelzen im Befruchtungsakte ebenso vollständig zur Bildung einer neuen Zellseele, wie die beiden Zellkerne, welche die materiellen Träger dieser psychischen Spannkräfte sind, zu einem neuen Zellkern sich verbinden. Da wir nun sehen, daß die Individuen einer und derselben Art – ja selbst die Geschwister, die von einem gemeinsamen Elternpaare abstammen – stets gewisse, wenn auch geringfügige Unterschiede zeigen, so müssen wir annehmen, daß solche auch schon in der chemischen Plasmakonstitution der kopulierenden Keimzellen selbst vorhanden sind.
Aus diesen Tatsachen allein schon läßt sich die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen und Formerscheinungen in der organischen Natur begreifen. In extremer, aber einseitiger Konsequenz ergibt sich daraus die Auffassung von Weismann, welcher die Amphimixis, die Mischung des Keimplasma bei der geschlechtlichen Zeugung, sogar als die allgemeine und ausschließliche Ursache der individuellen Variabilität betrachtet. Diese exklusive Auffassung, die mit seiner Theorie von der Kontinuität des Keimplasma zusammenhängt, ist nach meiner Ansicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Überzeugung fest, daß die mächtigen Gesetze der progressiven Vererbung und der damit verknüpftun funktionellen Anpassung ebenso für die Seele wie für den Leib gelten. Die neuen Eigenschaften, welche das Individuum während seines Lebens erworben hat, können teilweise auf die molekulare Zusammensetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samenzelle zurückwirken und können so durch Vererbung unter gewissen Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die nächste Generation übertragen werden.
Wenn bei der Seelenmischung im Augenblicke der Empfängnis zunächst auch nur die Spannkräfte der beiden Elternseelen mittelst Verschmelzung der beiden erotischen Zellkerne erblich übertragen werden,[149] so kann damit doch zugleich der erbliche psychische Einfluß älterer, oft weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden. Denn auch die Gesetze der latenten Vererbung oder des Atavismus gelten ebenso für die Psyche wie für die anatomische Organisation. Die merkwürdigen Erscheinungen dieses »Rückschlags« begegnen uns in sehr einfacher und lehrreicher Form beim »Generationswechsel« der Polypen und Medusen. Hier wechseln regelmäßig zwei sehr verschiedene Generationen so miteinander ab, daß die erste der dritten, fünften usw. gleich ist, dagegen die zweite (von jenen sehr verschiedene) der vierten, sechsten usw. Beim Menschen wie bei den höheren Tieren und Pflanzen, wo infolge kontinuierlicher Vererbung jede Generation der anderen gleicht, fehlt jener reguläre Generationswechsel; aber trotzdem fallen uns auch hier vielfach Erscheinungen des Rückschlags oder Atavismus auf, welche auf dasselbe Gesetz der latenten Vererbung zurückzuführen sind.
Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Besitze bestimmter künstlerischer Talente oder Neigungen, in der Energie des Charakters, in der Leidenschaft des Temperamentes gleichen oft hervorragende Menschen mehr ihren Großeltern als den Eltern; nicht selten tritt auch ein auffälliger Charakterzug hervor, den weder diese noch jene besaßen, der aber in einem älteren Gliede der Ahnenreibe vor langer Zeit sich offenbart hatte. Auch in diesen merkwürdigen Atavismen gelten dieselben Vererbungsgesetze für die Psyche wie für die Physiognomie, für die individuelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts und anderer Körperteile. Am auffälligsten können wir dieselben in regierenden Dynastien und in alten Adelsgeschlechtern verfolgen, deren hervorragende Tätigkeit im Staatsleben zur genaueren historischen Darstellung der Individuen in der Generationskette Veranlassung gegeben hat, so z.B. bei den Hohenzollern, Hohenstaufen, Oraniern, Bourbonen usw.; nicht minder bei den römischen Cäsaren.[150]
Der Kausalzusammenhang der biontischen (individuellen) und der phyletischen (historischen) Entwicklung, den ich schon in der Generellen Morphologie als oberstes Gesetz an die Spitze aller biogenetischen Untersuchungen gestellt hatte, besitzt ebenso allgemeine Geltung für die Psychologie wie für die Morphologie. Die besondere Bedeutung, welche dasselbe in beiden Beziehungen für den Menschen beansprucht, habe ich (1874) im ersten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: »Das Grundgesetz der organischen Entwicklung.« Wie bei allen anderen Organismen, so ist auch beim Menschen »die Keimesgeschichte ein Auszug der Stammesgeschichte«. Diese gedrängte und abgekürzte Rekapitulation ist um so vollständiger, je mehr durch beständige Vererbung die ursprüngliche Auszugsentwicklung (Palingenesis) beibehalten wird; hingegen wird sie um so unvollständiger, je mehr durch wechselnde Anpassung die spätere Störungsentwicklung (Zenogenesis) eingeführt wird.
Indem wir dieses Grundgesetz auf die Entwicklungsgeschichte der Seele anwenden, müssen wir ganz besonderen Nachdruck darauf legen, daß stets beide Seiten desselben kritisch im Auge zu behalten sind. Denn beim Menschen wie bei allen höheren Tieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletischen Jahrmillionen so beträchtliche Störungen oder Zänogenesen sich ausgebildet, daß dadurch das ursprüngliche, reine Bild der Palingenese oder des »Geschichtsauszuges« stark getrübt und verändert erscheint. Während einerseits durch die Gesetze der gleichzeitigen und gleichörtlichen Vererbung die palingenetische Rekapitulation erhalten bleibt, wird sie andererseits durch die Gesetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung wesentlich zänogenetisch verändert. Zunächst ist das deutlich erkennbar in der Keimesgeschichte der Seelenorgane, des Nervensystems, der Muskeln und Sinnesorgane. In ganz gleicher Weise gilt dasselbe aber auch von der Seelentätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung[151] dieser Organe gebunden ist. Die Keimesgeschichte derselben ist beim Menschen wie bei allen anderen lebendig gebärenden Tieren schon deshalb stark zänogenetisch abgeändert, weil die volle Ausbildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers stattfindet. Wir müssen daher als zwei. Hauptperioden der individuellen Psychogenie unterscheiden: I. die embryonale und II. die postembryonale Entwicklungsgeschichte der Seele.
Der menschliche Keim oder Embryo entwickelt sich normalerweise im Mutterleibe während des Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während dieses Zeitraums ist er vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen und nicht allein durch die dicke Muskelwand des mütterlichen Fruchtbehälters (Uterus) geschützt, sondern auch durch die besonderen Fruchthüllen (Embryolemmen), welche allen drei höheren Wirbeltierklassen gemeinsam zukommen, den Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Bei allen drei Amniotenklassen entwickeln sich diese Fruchthüllen (Amnion oder Wasserhaut und Serolemma oder seröse Haut) genau in derselben Weise. Es sind das Schutzeinrichtungen, welche von den ältesten Reptilien (Proreptilien), den gemeinsamen Stammformen aller Amnioten, erst in der Permperiode (gegen Ende des paläozoischen Zeitalters) erworben wurden, als diese höheren Wirbeltiere sich an das beständige Landleben und die Luftatmung gewöhnten. Ihre vorhergehenden Ahnen, die Amphibien der Steinkohlenperiode, lebten und atmeten noch im Wasser wie ihre älteren Vorfahren, die Fische.
Bei diesen älteren und niederen wasserbewohnenden Wirbeltieren besaß die Keimesgeschichte noch in viel höherem Grade den palingenetischen Charakter, wie es auch noch bei den meisten Fischen und Amphibien der Gegenwart der Fall ist. Die bekannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Frösche, bewahren noch heute in der ersten Zeit ihres freien Wasserlebens den Körperbau ihrer[152] Fischahnen; sie gleichen ihnen auch in der Lebensweise, in der Kiemenatmung, in der Funktion ihrer Sinnesorgane und ihrer anderen Seelenorgane. Erst wenn die interessante Metamorphose der schwimmenden Kaulquappen eintritt, und wenn sie sich an das Landleben gewöhnen, verwandelt sich ihr fischähnlicher Körper in das vierfüßige, kriechende Amphibium mit Luftatmung.
Beim Menschen wie bei allen anderen Amnioten ist das nicht der Fall; ihr Embryo ist schon durch den Einschluß in die schützenden Eihüllen dem direkten Einflusse der Außenwelt ganz entzogen und jeder Wechselwirkung mit derselben entwöhnt. Außerdem aber bietet die besondere Brutpflege der Amniontiere ihrem Keime viel günstigere Bedingungen für zänogenetische Abkürzung der palingenetischen Entwicklung. Vor allem gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; sie geschieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säugetieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben ist, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beuteltieren und Zottentieren) durch das Blut der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dottersackes und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den höchstentwickelten Zottentieren (Placentalia) hat diese zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht; daher ist der Embryo schon vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet sich während dieser ganzen Zeit im Zustande des Keimschlafes, einem Ruhezustande, welchen Preyer mit Recht dem Winterschlafe der Tiere verglichen hat. Einen gleichen, lange dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzustande jener Insekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer usw.). Hier ist der Puppenschlaf, während dessen die wichtigsten Umbildungen der Organe und Gewebe vor sich gehen, um so interessanter, als der[153] vorhergehende Zustand der frei lebenden Larve (Raupe, Engerling oder Made) ein sehr entwickeltes Seelenleben besitzt, und als dieses bedeutend unter derjenigen Stufe steht, welche später (nach dem Puppenschlaf) das vollendete, geflügelte und geschlechtsreife Insekt zeigt.
Die Seelentätigkeit des Menschen durchläuft während seines individuellen Lebens, ebenso wie bei den meisten höheren Tieren, eine Reihe von Entwicklungsstufen; als die wichtigsten derselben können wir wohl folgende fünf Hauptabschnitte unterscheiden: 1. die Seele des Neugeborenen bis zum Erwachen des Selbstbewußtseins und zum Erlernen der Sprache, 2. die Seele des Knaben und des Mädchens bis zur Pubertät (zum Erwachen des Geschlechtstriebes), 3. die Seele des Jünglings und der Jungfrau bis zum Eintritt der sexuellen Verbindung (die Periode der »Ideale«), 4. die Seele des erwachsenen Mannes und der reifen Frau (Periode der vollen Reife und der Familiengründung, beim Manne meistens bis ungefähr zum sechzigsten, beim Weibe bis zum fünfzigsten Lebensjahre, bis zum Eintritt der Involution), 5. die Seele des Greises und der Greisin (Periode der Rückbildung). Das Seelenleben des Menschen durchläuft also dieselben Entwicklungsstufen der aufsteigenden Fortbildung, der vollen Reife und der absteigenden Rückbildung wie jede andere Lebenstätigkeit.[154]
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