1. Rückblick auf frühere Philosophen

[416] Von den grossen Philosophen treffen mit unseren Principien am meisten zusammen Plato und Schelling, Hegel und Schopenhauer, und zwar repräsentiren die beiden Letzteren die einseitigen Extreme (Hegel das Logische, Schopenhauer den Willen), während Plato und Schelling eine verknüpfende und vermittelnde Stellung einnehmen, so zwar, dass in keinem von beiden ein vollständiges Gleichgewicht beider Seiten vorhanden ist, sondern im Plato die Idee, in Schelling's letztem Systeme der Wille an Bedeutung prävalirt.

Plato's (vgl. die mustergültige Darstellung der Platonischen Principien in: Zeller, Philos. der Griechen, 2. Aufl., II. 1, S. 441 bis 471) bekanntestes und wichtigstes Princip ist die Platonische Idee, die Ideenwelt oder das Reich der vielen Ideen, umfasst in der Einen (dem hen) höchsten Idee, oder der Idee schlechthin, welche er näher bestimmt, als die Idee des Guten, d.h. den absoluten Zweck, und welche ihm identisch ist mit der göttlichen Vernunft. Plato denkt die Idee als in der ewigen Ruhe des unveränderlichen Fürsichseins, und nur ausnahmsweise und mit offenbarer Inconsequenz gegen sein System schreibt er ihr hier und da (namentlich in mythischen Darstellungen) auch wohl ein Wirken, eine Thätigkeit zu.

Da die in sich beschlossene Idee niemals einen Grund hätte, aus sich selbst herauszugehen, so braucht er ein zweites, ebenso wichtiges Princip, den Grund des heraklitischen Flusses aller Dinge, die Triebfeder des Weltprocesses.

Dieses zweite ist demnach gegenüber der ewigen Ruhe der Idee das Princip der absoluten Veränderung, das immer Werdende und Vergebende und niemals wahrhaft Seiende, weshalb er es auch das relativ Nichtseinde (mê on) nennt, aber doch ist es das die Ideen als seinen Inhalt in sich Aufnehmende und sie in den Strudel des Processes Einführende. Während die Idee das Maassvolle, in sich Beschlossene ist, ist jenes das Maasslose, in sich Unbegrenzte[416] (apeiron) während die Idee (sogar die Zahl) in sich nur qualitativ bestimmt ist, bringt jenes das Quantitative in die Erscheinung, es gehört zu ihm, »Alles, was des Mehr oder Minder, des Stärker oder Schwächer, und des Uebermaasses fähig ist«, weshalb Plato es auch das »Grosse und Kleine« nennt.

Während die Idee das Gute ist, und von ihr alles Gute in der Welt herstammt, ist jenes apeiron das Böse, und die Ursache alles Bösen und Uebels in der Welt (Aristot. Metaph. 1. 6. Schluss), ist jene blinde, vom Welt – bildenden Verstande vorgefundene Nothwendigkeit, jene vernunftlose Ursache, welche von der Vernunft nicht völlig überwunden werden konnte, jener irrationale Rest, den wir immer noch übrig behalten, wenn wir von den Dingen alles Das abziehen, was Abbild der Idee ist.

Aus der Vermählung beider entgegengesetzten Principien entspringt die Welt, welche wir durch sinnliche Wahrnehmung erkennen. Beide Principien haben das gemeinsam, dass sie vom Wechsel der Erscheinung nicht berührt werden, sondern über demselben stehen als transcendente chôristai Wesenheiten.

Die Uebereinstimmung der Platonischen Resultate mit den unserigen liegt auf der Hand, wir brauchen nur das Reich der an sich seienden Ideen in das der unbewussten Vorstellung (die ja auch von uns als intuitiv und unzeitlich, d.h. ewig gefasst worden ist) und das intensive Princip der absoluten Veränderung in den Willen zu übersetzen.

Merkwürdig ist es auch, dass Plato behauptet, jenes apeiron sei auf keine Weise erkennbar, weder durch Denken, noch durch Wahrnehmung, was ganz damit übereinstimmt, dass wir den Willen als solchen als etwas dem Bewusstsein ewig Unzugängliches erkannt haben. [Wenn Plato das apeiron bisweilen auch als chôra, topos bezeichnet, so ist dies gewiss ebenso bildlich, wie die Ausdrücke dexamenê (Wassercisterne) und ekmageion (weiche Masse, in welcher eine Form, hier die Idee, abgedrückt wird) zu verstehen, und bedeutet, wie die Ausdrücke ekeino, en ô gignetai und physis ta panta sômata dechomenê bezeugen, nichts weiter als Dasjenige, worin die Ideen ihre Stelle, Platz, Ort oder Raum zur Aufnahme und Entfaltung finden, ähnlich wie er zuweilen der Ideenwelt einen intelligibeln überweltlichen Ort (topos noêtos) anweist. Noch weniger eigentlich ist der nicht von Plato selbst, sondern erst von Aristoteles und Späteren für das apeiron gesetzte Ausdruck hylê (Materie) zu verstehen.]

[417] Schopenhauer's Philosophie ist in dem Satze enthalten: der Wille allein ist das Ding an sich, das Wesen der Welt. Daraus folgt sofort, dass die Vorstellung nur ein – offenbar zufälliges – Hirnproduct ist, und dass in der ganzen Welt nur so viel Vernunft zu finden sein kann, als die zufällig entstandenen Gehirne hineinzulegen belieben. Denn was kann aus einem absolut unvernünftigen, sinnlosen und blinden Princip für eine andere, als eine unvernünftige und sinnlose Welt hervorgehen! Wenn eine Spur von Sinn in ihr ist, so kann er doch nur durch Zufall hineingekommen sein! So wenig ein blinder Wille sich Zwecke setzen kann, so wenig kann er zweckmässige Mittel zu seinen Zwecken wählen und verwirklichen, – und so kann der bewusste Intellect bei Schopenhauer in Wahrheit nur als ein Parasit am Willen erscheinen, der, weit entfernt, von diesem letzteren gewollt zu sein, ihm vielmehr weiss Gott woher auf unbegreifliche Weise gleichsam angeflogen ist, wie der Mehlthau der Pflanze. Es liegt auf der Hand, dass das absolut Unvernünftige als Princip genommen sehr viel ärmer und unausgiebiger sein muss, als das absolut Vernünftige, die Idee und das Denken; es gehört auch eine merkwürdige Beschränkung dazu, sich an dem absolut Unvernünftigen und seiner Armuth als Princip genügen zu lassen, – daher die dilettantische Färbung, welches bei allem Reichthum an Geist das Schopenhauer'sche Philosophiren an sich hat, daher das Aufathmen der Erholung, wenn man im dritten Buch von »die Welt als Wille und Vorstellung« an die grosse Inconsequenz im System, an die Idee, herankommt.

Andererseits kann man die Weisheit des Unbewussten nicht genug bewundern und loben, dass sie ein so bornirtes Genie schuf, um der Nachwelt zu zeigen, was mit jenem Princip in seiner Isolirung anzufangen ist, was nicht; die einseitige Ausarbeitung dieses Principes war im genetischen Entwickelungsgange der Philosophie gerade so nothwendig, wie die Zuspitzung des entgegengesetzten Extremes in Hegel.

Wie eng beide Philosophen zusammenhängen, lässt sich schon durch den zufälligen Umstand belegen, dass beider Philosophen Hauptwerke im Jahre 1818 erschienen, wenn man gleichzeitig sich des Ausspruches von Hegel (XV. S. 619) erinnert: »Wo mehrere Philosophen zugleich auftreten, sind es unterschiedene Seiten die eine Totalität ausmachen, welche ihnen zu Grunde liegt.«

So gewiss Schopenhauer unfähig war, den Hegel zu fassen, so gewiss muss Hegel, wenn er ihn gekannt hat, über Schopenhauer[418] die Achseln gezuckt haben; Beide standen sich so fern, dass ihnen jeder Berührungspunct zur gegenseitigen Würdigung fehlte.

Wenn Kant's Kriticismus jeden Versuch einer theoretischen Metaphysik von sich ablehnen musste, und erst Fichte die positive metaphysische Entwickelung der neuesten Philosophie mit der dialektischen Behandlung des Selbstbewusstseins beginnt, so zieht Hegel das Facit dieser Entwickelung bis zum ersten Drittel des Jahrhunderts, indem er das Princip, welches bis dahin ihr mehr oder minder unbewusst treibendes Moment gewesen war, von Schelling über nimmt: die Idee allein ist das Wesen der Welt; die Logik ist mithin die Ontologie, die dialektische Selbstbewegung des Begriffes ist der Weltprocess. Dieses Princip ist der vollständigen Armuth des Schopenhauer'schen gegenüber das absolut reiche, denn alles, was die Welt ist, ist sie ja durch die Idee; es liess sich also mit ihm schon etwas anfangen, und es ist nicht zu verwundern, dass es vier Systeme producirte, wo sein Gegenfüssler sich in Einem erschöpfte.

Hegel durchmass in seiner Logik das Platonische Reich der an sich seienden Idee; er versuchte die Idee im Processe ihrer ewigen Selbstgebärung aus dem baarsten Sein zu belauschen, und so weit war das Princip in seinem Recht. Als aber das Reich der an sich seienden Idee nach allen Richtungen durchmessen war, da kam das Princip an seine Grenze, denn Alles konnte die Idee durch sich erschöpfen, nur Eines blieb ihr unerreichbar, die res, die Realität, »denn reell ist eben, was durch das blosse Denken nicht geschaffen werden kann« (Schelling I. 3, S. 364).

Das Princip war aber einmal in seiner Einseitigkeit als Ausschiessliches erfasst, und musste in dieser Einseitigkeit durchgeführt werden, um auch hier deutlich zu zeigen, wie weit es reicht und wie weit nicht. Andererseits aber lag es in der dialektischen Bewegung vorgezeichnet, dass die logische Idee, nachdem sie sich in ihren vier Pfählen, dem Logischen erschöpft hatte, mit dialektischer Nothwendigkeit das Andere ihrer selbst, oder das Negative ihrer selbst, fordern musste, und dieses konnte nun bloss noch – das Unlogische sein.

Mit dieser förmlichen Anerkennung aber hätte sich das Logische wieder seiner absoluten Souveränität begeben, hätte ein Gleichberechtigtes neben sich anerkannt und eingeräumt, dass erst in der Bekämpfung und zugleich Vereinigung dieser letzten und höchsten Gegensätze die Wahrheit gefunden sei und die Wirklichkeit beruhe.[419]

Dann hätte die Logik aber auch aussprechen müssen, dass jenes Unlogische nur zufälligerweise, nämlich nur von ihrem Standpuncte aus gesehen, das Negative sei, in Wahrheit aber von einem höheren Standpuncte das Positive, welches allererst das Logische realisirt, während es ohne dieses Positive mit seinem ganzen Ideenkram gleich Nichts ist.

Diese Zumuthung für den absoluten Idealismus, sich mit einem Ruck in die Negative zu erklären, war für einen Menschen, – denselben , der ihn erst auf die Höhe geführt hatte, – zu viel. Zwar lässt Hegel hier und da das Gefühl durchschimmern, dass doch wohl das Negative des Logischen eine Berücksichtigung verdiene, und den Uebergang der Idee in die Wirklichkeit erst ermögliche, aber er erstickt die Andeutungen dieses Gefühles im Entstehen, nur um seiner lieben Idee nicht zu nahe zu treten. Der unabweisbaren Nöthigung, auch seinerseits dem sich überall in der Welt dem Beobachter aufdrängenden Unlogischen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sucht er zunächst dadurch Raum zu geben, dass er verkehrter Weise das Unlogische, den Selbstwiderspruch, in das Logische selbst hineinzieht, indem er seiner (zugleich ideal- und real-dialektisch sein sollenden) dialektischen Methode den inneren Widerspruch als integrirenden Bestandtheil ihres Processes giebt, während doch in Wahrheit der Widerspruch des Logischen sich immer nur an dem vorgefundenen (nicht von ihm gesetzten) Unlogischen entzünden kann. Nun merkt aber auch Hegel selbst, dass er damit einerseits die Anforderungen des Thatsächlichen hinsichtlich des unlogischen Charakters derselben nicht erschöpft, und dass er andererseits denn doch seiner logischen Idee damit die Verantwortung für Dinge aufbürdet, die sie nicht tragen kann ohne ihren Charakter des Logischen einzubüssen; so greift er denn als Verlegenheitsausflucht zu seiner Kategorie des Zufälligen, die überall herhalten muss, wo die Details einer Erscheinung sich der Erklärung durch das Princip der logischen Idee entziehen, oder auch nur zu entziehen scheinen Aber das Zufällige hat innerhalb des logischen Princips und innerhalb des von diesem bestimmten »Was« der Welt ebensowenig eine Stätte als der Selbstwiderspruch; denn das logische Princip bestimmt sich nicht anders als logisch, d.h. nothwendig, und damit ist eben das Zufällige von ihm ausgeschlossen (und auf die Sphäre des Unlogischen verwiesen). Gerade diese Nöthigung aber, ausser dem schon in das Logische hereingezogenen Selbstwiderspruch doch noch zu der Kategorie des Zufälligen greifen zu müssen, hätte Hegel darüber[420] belehren sollen, dass es nach Abzug alles logisch Gesetzten in den Erscheinungen wirklich einen unlogischen Rest giebt, und dass es deshalb ein Unlogisches ausser dem Logischen, nicht etwa bloss in demselben geben müsse. Mit dieser Anerkennung wäre Hegel aber auch sofort des Motivs ledig geworden, welches ihn dazu getrieben hatte, an den Widersinn eines Unlogischen im Logischen zu glauben, d.h. er würde seinen in sich widerspruchsvollen dialektischen Process zu einem in sich widerspruchslosen logischen Process haben läutern können, dem nur das Unlogische als treibendes Moment des Processes zu Grunde liegt.

Soviel ist allgemein anerkannt, das Verhältniss der Logik zur Naturphilosophie ist in Hegel selbst unklar und verwischt. Sein Princip consequent durchzuführen, und (wie Michelet) zu behaupten, dass die Natur nur insofern die ausser sich gekommene Logik oder die Logik in ihrem Anderssein heissen könne, als die in der Logik in Eins gefassten Momente des dialektischen Processes aus einander gefallen sind, davor schützt den Hegel eine gewisse instinctive Scheu, welche ihn lehrt, dass er mit der consequenten Durchführung seines Principes gegen seine Methode verstösst, welche unbedingt das Unlogische, als das gleichberechtigte Negative der logischen Idee, fordert; aber dieser Forderung genug zu thun, davon schrecken ihn wieder die Consequenzen jenes Schrittes ab, welche offenbar sein Princip zerstören, dass die Idee die alleinige Substanz sei.

Aus diesem Widerspruche erklärt es sich, dass der Uebergang von der Idee zur Natur alle Mal, wo Hegel ihn erwähnt (z.B. Phänomenologie S. 610, Logik Bd. 2, S. 399 – 400, Encyclopädie Bd. 1, §. 43 und §. 244) in ungewöhnlich aphoristischer Weise abgefertigt, in den neuen Auflagen häufig geändert, und noch dazu mit uneigentlichen und bildlichen Ausdrücken (Aufopferung, Entfalten, Entäusserung, Entlassung, Widerschein der Idee u.s.w.) ausgestattet wird. Die Differenz in diesem Puncte hat sich erst in den gespaltenen Richtungen der Hegel'schen Schule klar enthüllt.

Werfen wir noch einen Blick darauf, wie sehr Hegel die Nothwendigkeit des Unlogischen als Gegengewicht des Logischen im Stillen gefühlt habe. Am Schluss der grossen Logik sagt er von der absoluten Idee, dass dieselbe, in der Sphäre des reinen Gedankens eingeschlossen, noch logisch sei, woraus doch zu schliessen, dass ihr Heraustreten aus dieser in eine andere Sphäre der Uebergang in das nicht mehr Logische, d.h. in's Unlogische, sein müsse.[421]

In der Phänomenologie S. 610 sagt er: »Das Wissen kennt nicht nur sich, sondern auch das Negative seiner selbst, oder seine Grenze.« Hier sollte man doch auch vermuthen, dass unter diesem Negativen das Unlogische gemeint sein müsse. Aber er schwächt die Wirkung wieder vollständig ab, indem er dieses »seine Grenze Wissen« für genügend zur Aufopferung oder Entäusserung erklärt. In der Logik Bd. 2, S. 400 sagt er ferner: »Weil die reine Idee des Erkennens insofern in die Subjectivität eingeschlossen ist, ist sie Trieb, diese aufzuheben.« Hier fühlt er sogar, dass das Hinausgehen Über die Idee allein Sache des Willens sein kann. Ganz unmöglich aber ist der Gedanke, dass dieses »aus der Idee heraustreten Wollen der Idee« aus ihr selber, aus der ewigen Ruhe ihres Fürsichseins kommen könne, welche vielmehr dem absolut selbsgenügsamen Frieden, der ungetrübten, in sich beschlossenen Zufriedenheit gleich gesetzt werden muss.

Nicht nur unbegreiflich wäre es, wie die Idee aus eigenem Antriebe dazu kommen könnte, ihre ewige Klarheit von selbst in den Strudel des realen Processes zu stürzen, sondern haarsträubend widersinnig wäre es, wenn sie, die alles Wissen in sich Schliessende, ihren seligen Frieden der unzeitlichen ewigen Stille ohne äussere Nöthigung opfern wollte, um der Qual des Processes, der Unseligkeit des Wollens, dem Elend des realen Daseins anheimzufallen. Nein, nicht die absolute Vernunft selbst kann auf einmal unvernünftig werden, sondern das Unvernünftige muss ein ausserhalb der Vernunft Liegendes Zweites oder Anderes sein.A91

Läge es in der Natur des Logischen, aus sich selbst in's Unlogische überzugehen, so wäre dieses Geschehen ein nothwendiges und ewiges, und es könnte niemals von einem Schlüsse des Processes, von einer Erlösung die Rede sein.

Auch ist es ja nur die negative, relative, nämlich auf die logische Idee sich beziehende, Bestimmung jenes Gegensatzes der Idee, das Unlogische zu sein; seine positive Bestimmung aber ist die, Princip der Veränderung, Ursprung der Realität, Wille zu sein, und wenn Hegel diese Bestimmung, Trieb zu sein, in obiger Stelle plötzlich hineinwirft, so ist es doch ganz klar, dass er dieselbe rein aus dem empirischen Erklärungsbedürfnisse der Realität der Natur hergeholt hat.

Dies ist aber auch in der That der allein mögliche Weg, zur Erkenntniss des Willens zu kommen; a priori könnte man doch höchstens die Idee erkennen, und Alles, was aus der Idee folgt, die[422] Existenz des Willens aber ist jedenfalls nur a posteriori zu erschliessen. Denn alle apriorische, rein logische oder rein rationale Philosophie kann nur ideelle Verhältnisse, aber nicht reale Existenzen als Behauptung aufstellen, sie kann höchstens sagen: »wenn etwas ist, so muss es so sein«, aber sie kann nie zeigen, dass etwas ist; dies kann nur die Erfahrung, d.h. der Conflict mit dem vorhandenen Willen (Existenz) in der Wahrnehmung des Bewusstseins. Dies entspricht ganz dem Verhältnisse, dass die Idee nur das »Was« der Dinge bestimmt, der Wille aber ihr »Dass«; so kann die Idee die Dinge auch nur soweit begreifen, als sie dieselben bestimmt, also niemals ihre reale Existenz.

Diesen nothwendigen Schritt der Philosophie, welchen Hegel nicht zu thun im Stande gewesen war, vollzog Schelling30 in seinem letzten System, indem er, wie schon Cap. C. VII. angedeutet ist, den rein logischen Charakter der bisherigen Philosophie erkannte, in die Negative erklärte und im Gegensatze zu ihr die Forderung einer von dem nur durch Erfahrung zu erkennenden unvordenklichen Sein beginnenden positiven Philosophie aufstellte (vgl. Schelling's Kritik der Hegel'schen Philosophie in I. 10, S. 126 bis 164, besonders S. 146 und 151-157; ferner II. 3, vierte und fünfte Vorlesung).

So weit Schelling's Deductionen kritisch und vorbereitend sind, sind sie vortrefflich, sowie er aber anfängt, seine positive Philosophie selbst vorzutragen, wird er schwach, schwankt zwischen einem erläuternd raisonnirenden Verfahren, zwischen einer dialektischen Methode und zwischen einem eigenthümlichen unmotivirten Hervorplatzen mit neu eintretenden Hauptbegriffen, um sich bald in die Untiefen einer mystischen Theogonie und die Details der christlichen Theologie zu verlieren. Es liegt dies ganz einfach daran, weil er seiner Vergangenheit und Gewohnheit zu Liebe seiner besseren Erkenntniss untreu wird, dass das Princip der positiven Philosophie nur a posteriori aus der Erfahrung, also auf inductivem Wege zu gewinnen sei.

[Weil Schopenhauer in der Hauptsache (z.B. W. a. W. u. V. 2tes Buch, und »Ueber den Willen in der Natur«) inductiv verfährt, darum leistet er in dieser Aufgabe so viel mehr, obwohl er sich über seine Methode und darüber, warum sie die einzige richtige sei, eben nicht besonders klar ist.][423]

Gleichwohl hat Schelling's letztes System (Einheit der positiven und negativen Philosophie) dadurch einen hoben Werth, dass es das Princip Hegel's (die Idee) und das Schopenhauer's (den Willen) zusammenfasst als coordinirte, gleichberechtigte und gleich unentbehrliche Seiten des Einen Princips (vgl. I. 10, 242-43; I. 8, 328). Schelling erkennt in jener »ausserlogischen Natur der Existenz« (II. 3, 95), in jener »unbegreiflichen Basis der Realität« (I. 7, 360) mit voller Entschiedenheit den Willen. Dass etwas ist, erkennt man nur an dem Widerstände, den es entgegensetzt, das einzige Widerstandsfähige aber ist der Wille (II. 3, 206). Der Wille also ist es, der der ganzen Welt und jedem einzelnen Dinge sein Dass verleiht, die Idee kann ihm nur das Was bestimmen. Schon in seiner Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, die 1809 (also lange vor Schopenhauer's Schriften) erschien, sagte er (Werke I. 7, 8. 350): »Es giebt in der höchsten und letzten Instanz gar kein anderes Sein, als Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.« Und in seinem »anthropologischen Schema« (I. 10, S. 289) findet man: »I. Wille, die eigentlich geistige Substanz des Menschen, der Grund von Allem, das ursprünglich Stoff-Erzeugende, das Einzige im Menschen, das Ursache von Sein ist.«

Im Gegensatze hierzu erklärt er ebendaselbst den Verstand als »das nicht Erschaffende, sondern Regelnde, Begrenzende, dem unendlichen schrankenlosen Willen Maass Gebende«.

Dem entsprechen ganz die Principien der Pythagoräer: das apeiron (Unbegrenzte), und das perainon (Begrenzende) oder eidopoioun (Form oder Begriff Gebende) (I. 10, 243). Wenn das ideale Princip ein Verstand ist, in dem kein Wille ist (II. 2, 112, II. 1, 375 Z. 14-16), so ist das reale Princip ein »Wille, in dem kein Verstand ist« (I. 7. 359.) »Alles Wollen aber muss etwas wollen« (II. 1, 462), ein gegenstandsloses Wollen ist nur = Sucht, die »die Sehnsucht, die das ewig Eine empfindet, sich selber zu gebären« (I. 7, 359). Das Wort dieser Sehnsucht aber ist die Vorstellung, – jene Vorstellung, die zugleich der Verstand ist (I. 7, 361), oder »das ideale Princip« (I. 7, 395). In dem »Aussprechen dieses Wortes« ist die Vereinigung des idealen und realen Principes gefunden, aus welcher das zu erklärende Dasein entspringt.

In seinen späteren Darstellungen bemüht sich Schelling, diese[424] Principien aus dem Begriffe des Seienden als dessen nicht nichtzudenkende Momente abzuleiten, ein Unternehmen, das seine Unfruchtbarkeit darin enthüllt, dass jeder wirkliche Fortgang doch nur durch das Wiedereinsetzen der concreten Bestimmungen gewonnen werden kann. Hier entspricht dem Willen das Seinkönnende (potentia existendi), der Idee das rein (d.h. potenzlos, idealiter) Seiende. Ueber das Seinkönnende sagt er (II. 3, S. 205-206): »Nun ist aber das Seinkönnende, von dem hier die Rede ist, nicht eine solche bedingte, es ist die unbedingte potentia existendi, es ist das, was unbedingt und ohne weitere Vermittelung a potentia ad actum übergehen kann. Nun kennen wir aber keinen anderen Uebergang a potentia ad actum, als im Wollen. Der Wille an sich ist die Potenz kat' exochên das Wollen der Actus kat exochên. Der Uebergang a potentia ad actum ist überall nur Uebergang vom Nichtwollen zum Wollen. Das unmittelbar Seinkönnende also ist Dasjenige, was, um zu sein, nichts bedarf, als eben vom Nichtwollen zum Wollen überzugehen. Das Sein besteht ihm eben im Wollen, es ist in seinem Sein nichts Anderes als Wollen. Kein wirkliches Sein ist ohne ein wirkliches, wie immer näher modificirtes Wollen, denkbar.« – Das Seinkönnende ist der Wille an sich, der noch nicht gegenständliche, sondern erst urständliche Wille, der zwar wollen kann (sonst wäre er ja nicht Wille), aber eben noch nicht will, der Wille vor seiner Aeusserung (II. 3, S. 212 bis 213).

Entzündet sich dieser Wille zum Wollen, wird er activ, so begiebt er sich damit seiner Freiheit, seines auch Nichtseinkönnens, und verfällt dem blinden Sein, wie Spinoza's Substanz. Als solcher wird er das »Sinistre«, »die Quelle alles Unwillens und Missvergnügens« (II. 3, 226).

Das rein Seiende oder die Idee ist weder Potenz, noch Actus, denn Actus ist nur das, was aus der Potenz hervorgeht; Schelling nennt ihren Zustand actus purus. – Ich bemerke hierbei, dass Schelling der christlichen Dreieinigkeit zu Liebe sich bemüht, seine Principien und deren substantielle Einheit zu Personen zu machen, und zu dem Zwecke jedem der drei einen eigenen Willen zuzuschreiben, was ganz verkehrt ist. Damit man diese Verkehrtheit nicht zu deutlich empfinde, unterdrückt er in den späteren Darstellungen nach Möglichkeit, dass die concrete Bestimmung des »rein Seienden« die »Idee« ist. (Näheres siehe in meiner angeführten Schrift.) –

Eine merkwürdige Stelle findet sich in Irenaeus I. 12, 1, wo[425] derselbe über Ptolemäus berichtet. Da dieselbe beweist, wie früh schon jene Erkenntniss zum klaren Ausdruck gekommen ist, welche eine Weltschöpfung aus der blossen Idee für unmöglich erklärt, so will ich sie hierher setzen: prôton gar ennoêthê probalein, phêsin, eita ethelêse. – – to thelêma toinyn dynamis egeneto tês ennoias. enenoei men gar hê ennoia tên probalên. ou mentoi proballein autê kath' heautên êdynato, ha enenoei. hote de hê tou thelêmatos dynamis epegeneto, tote, ho enenoei, proebale. (Denn zuerst gedachte er hervorzubringen, dann wollte er. – Der Wille also wurde die Kraft des Gedankens. Denn es dachte zwar der Gedanke die Schöpfung, doch konnte er nicht selbst von sich selbst hervorbringen, was er dachte. Als aber die Kraft des Willens hinzukam, da brachte er hervor, was er dachte.)

Die wesentliche Uebereinstimmung unserer Principien mit denen der grössten metaphysischen Systeme (Spinoza behalten wir uns noch vor) kann nur dazu dienen, uns in der Ueberzeugung zu bestärken, dass wir uns auf dem rechten Wege befinden. Gehen wir jetzt noch auf jedes der Principien etwas näher ein.A93

A91

S. 422 Z. 25. (Vgl. »Neuk., Schop. u. Heg.« S. 261-279.)

30

Vgl. meine diesem ganzen Capitel zur nothwendigen Ergänzung und Erläuterung dienende Schrift: »Schelling's positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer«. Berlin, bei Otto Löwenstein. 1869.

A93

S. 426 Z. 17. (Vgl. Plümacher's »Der Kampf um's Unbewusste«. S. 5-39).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 416-426.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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