β). Die Rechtspflege
§ 529

[323] Das Prinzip der zufälligen Besonderheit, ausgebildet zu dem durch natürliches Bedürfnis und freie Willkür vermittelten Systeme, zu allgemeinen Verhältnissen desselben und einem[323] Gange äußerlicher Notwendigkeit, hat in ihm als die für sich feste Bestimmung der Freiheit zunächst das formelle Recht. 1. Die dem Rechte in dieser Sphäre verständigen Bewußtseins zukommende Verwirklichung ist, daß es als das feste Allgemeine zum Bewußtsein gebracht, in seiner Bestimmtheit gewußt und gesetzt sei als das Geltende; – das Gesetz.

Das Positive der Gesetze betrifft zunächst nur ihre Form, überhaupt als gültige und gewußte zu sein, womit die Möglichkeit zugleich gegeben ist, von allen auf gewöhnliche äußerliche Weise gewußt zu werden. Der Inhalt kann dabei an sich vernünftig oder auch unvernünftig und damit unrecht sein. Aber indem das Recht als im bestimmten Dasein begriffen ein entwickeltes ist und sein Inhalt sich, um die Bestimmtheit zu gewinnen, analysiert, so verfällt diese Analyse wegen der Endlichkeit des Stoffes in den Progreß der schlechten Unendlichkeit; die schließliche Bestimmtheit, die schlechthin wesentlich ist und diesen Progreß der Unwirklichkeit abbricht, kann in dieser Sphäre des Endlichen nur auf eine mit Zufälligkeit und Willkür verbundene Weise erhalten werden; ob drei Jahre, 10 Taler usf. oder nur 2 1/2, 2 3/4, 2 4/5 usf. Jahre, und so fort ins Unendliche, das Gerechte wäre, läßt sich auf keine Weise durch den Begriff entscheiden, und doch ist das Höhere, daß entschieden wird. So tritt von selbst, aber freilich nur an den Enden des Bestimmens, an der Seite des äußerlichen Daseins, das Positive als Zufälligkeit und Willkürlichkeit in das Recht ein. Es geschieht dies und ist in allen Gesetzgebungen von jeher von selbst geschehen; es ist nur nötig, ein bestimmtes Bewußtsein hierüber zu haben gegen das vermeinte Ziel und Gerede, als ob nach allen Seiten hin das Gesetz durch Vernunft oder rechtlichen Verstand, durch lauter vernünftige und verständige Gründe, bestimmt werden könne und sollte. Es ist die leere Meinung von Vollkommenheit, solche Erwartung und Forderung an die Sphäre des Endlichen zu machen.[324]

Diejenigen, welchen Gesetze sogar ein Übel und Unheiliges sind und die das Regieren und Regiertwerden aus natürlicher Liebe, angestammter Göttlichkeit oder Adligkeit, durch Glauben und Vertrauen für den echten, die Herrschaft der Gesetze aber für den verdorbenen und ungerechten Zustand halten, übersehen den Umstand, daß die Gestirne usf., wie auch das Vieh, nach Gesetzen und zwar gut regiert werden – Gesetzen, welche jedoch in diesen Gegenständen nur innerlich, nicht für sie selbst, nicht als gesetzte Gesetze sind, daß der Mensch aber dies ist, sein Gesetz zu wissen, und daß er darum wahrhaft nur solchem gewußten Gesetze gehorchen kann, wie sein Gesetz nur als gewußtes ein gerechtes Gesetz sein kann, sonst aber schon nach dem wesentlichen Inhalt Zufälligkeit und Willkür oder wenigstens damit vermischt und verunreinigt sein muß.

Dieselbe leere Forderung der Vollkommenheit wird für das Gegenteil des Obigen, nämlich für die Meinung der Unmöglichkeit oder Untunlichkeit eines Gesetzbuches gebraucht. Es tritt dabei der weitere Gedankenmangel ein, die wesentlichen und allgemeinen Bestimmungen mit dem besonderen Detail in eine Klasse zu setzen. Der endliche Stoff ist ins schlecht Unendliche fort bestimmbar; aber dieser Fortgang ist nicht, wie er im Räume z.B. vorgestellt wird, ein Erzeugen von Raumbestimmungen derselben Qualität als die vorhergehenden, sondern ein Fortgehen in Spezielleres und immer Spezielleres durch den Scharfsinn des analysierenden Verstandes, der neue Unterscheidungen erfindet, welche neue Entscheidungen nötig machen. Wenn die Bestimmungen dieser Art gleichfalls den Namen neuer Entscheidungen oder neuer Gesetze erhalten, so nimmt im Verhältnisse des Weitergehens dieser Entwicklung das Interesse und der Gehalt dieser Bestimmungen ab. Sie fallen innerhalb der bereits bestehenden substantiellen, allgemeinen Gesetze, wie Verbesserungen an einem Boden, Tür usf. innerhalb des Hauses [fallen][325] und wohl etwas Neues, aber nicht ein Haus sind. Hat die Gesetzgebung eines ungebildeten Zustandes bei einzelnen Bestimmungen angefangen und diese ihrer Natur nach immerfort vermehrt, so entsteht im Fortgange dieser Menge im Gegenteil das Bedürfnis eines einfacheren Gesetzbuches, d.h. des Zusammenfassens jener Menge von Einzelheiten in ihre allgemeinen Bestimmungen, welche zu finden und auszusprechen zu wissen dem Verstande und der Bildung eines Volkes ziemt; – wie in England diese Fassung der Einzelheiten in allgemeine Formen, welche in der Tat erst den Namen von Gesetzen verdienen, kürzlich vom Minister Peel der sich dadurch den Dank, ja die Bewunderung seiner Landsleute gewonnen, nach einigen Seiten hin angefangen worden ist.


§ 530

2. Die positive Form der Gesetze, als Gesetze ausgesprochen und bekanntgemacht zu sein, ist Bedingung der äußerlichen Verbindlichkeit gegen dieselben, indem sie als Gesetze des strengen Rechts nur den abstrakten (d.i. selbst an sich äußerlichen), nicht den moralischen oder sittlichen Willen betreffen. Die Subjektivität, auf welche der Wille nach dieser Seite ein Recht hat, ist hier nur das Bekanntsein. Dies subjektive Dasein ist als Dasein des Anundfürsichseienden in dieser Sphäre, des Rechts, zugleich äußerlich objektives Dasein, als allgemeines Gelten und Notwendigkeit.

Das Rechtliche des Eigentums und der Privathandlungen über dasselbe erhält nach der Bestimmung, daß das Rechtliche ein Gesetztes, Anerkanntes und dadurch Gültiges sei, durch die Förmlichkeiten seine allgemeine Garantie.


§ 531

3. Die Notwendigkeit, zu welcher das objektive Dasein sich[326] bestimmt, erhält das Rechtliche in der Rechtspflege. Das Recht-an-sich hat sich dem Gerichte, dem individualisierten Rechte, als bewiesen dazustellen, wobei das Recht-an-sich von dem beweisbaren unterschieden sein kann. Das Gericht erkennt und handelt im Interesse des Rechts als solchen, benimmt der Existenz desselben seine Zufälligkeit und verwandelt insbesondere diese Existenz, wie sie als Rache ist, in Strafe. (§ 500)

Die Vergleichung der beiden Arten oder vielmehr Momente der Überzeugung der Richter über den Tatbestand einer Handlung in Beziehung auf den Angeklagten, durch die bloßen Umstände und Zeugnisse anderer allein, oder durch das ferner geforderte Hinzukommen des Geständnisses des Beklagten, macht die Hauptsache in der Frage über die sogenannten Geschworenengerichte aus. Es ist eine wesentliche Bestimmung, daß die beiden Bestandteile eines richterlichen Erkenntnisses – das Urteil über den Tatbestand und das Urteil als Anwendung des Gesetzes auf denselben, weil sie an sich verschiedene Seiten sind, als verschiedene Funktionen ausgeübt werden. Durch die genannte Institution sind sie sogar verschieden qualifizierten Kollegien zugeteilt, deren das eine ausdrücklich nicht aus Individuen, die zum Fache der amtlichen Richter gehören, bestehen soll. Jenen Unterschied der Funktionen bis zu dieser Trennung in den Gerichten zu treiben, beruht mehr auf außerwesentlichen Rücksichten; die Hauptsache bleibt nur die abgesonderte Ausübung jener an sich verschiedenen Seiten. – Wichtiger ist, ob das Eingeständnis des eines Verbrechens Beschuldigten zur Bedingung eines Strafurteils zu machen sei oder nicht. Die Institution des Geschworenengerichts abstrahiert von dieser Bedingung. Worauf es ankommt, ist, daß die Gewißheit, vollends in diesem Boden, von der Wahrheit unzertrennlich ist; das Geständnis aber ist als die höchste Spitze der Vergewisserung anzusehen, welche ihrer Natur nach subjektiv ist; die letzte Entscheidung liegt daher in demselben; an diesen[327] Punkt hat der Beklagte daher ein absolutes Recht für die Schließlichkeit des Beweises und der Überzeugung der Richter. – Unvollständig ist dies Moment, weil es nur ein Moment ist; aber noch unvollkommener ist das andere ebenso abstrakt genommen, das Beweisen aus bloßen Umständen und Zeugnissen; und die Geschworenen sind wesentlich Richter und sprechen ein Urteil. Insofern sie auf solche objektive Beweise angewiesen sind, zugleich aber die unvollständige Gewißheit, insofern sie nur in ihnen ist, zugelassen ist, enthält das Geschworenengericht die (eigentlich barbarischen Zeiten angehörige) Vermengung und Verwechslung von objektivem Beweisen und von subjektiver sogenannter moralischer Überzeugung. Extraordinäre Strafen für eine Ungereimtheit zu erklären ist leicht und vielmehr zu flach, sich so an den bloßen Namen zu stoßen. Der Sache nach enthält diese Bestimmung den Unterschied von objektivem Beweisen mit oder ohne das Moment jener absoluten Vergewisserung, die im Eingeständnisse liegt.


§ 532

Die Rechtspflege hat die Bestimmung, nur die abstrakte Seite der Freiheit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft zur Notwendigkeit zu betätigen. Aber diese Betätigung beruht zunächst auf der partikulären Subjektivität des Richters, indem deren selbst notwendige Einheit mit dem Recht-an-sich hier noch nicht vorhanden ist. Umgekehrt ist die blinde Notwendigkeit des Systems der Bedürfnisse noch nicht in das Bewußtsein des Allgemeinen erhoben und von solchem aus betätigt.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 323-328.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 9: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Gesammelte Werke, Bd.13, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817).
Philosophische Bibliothek, Bd.33, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830).

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon