b. Die Zeit
§ 257

[47] Die Negativität, die sich als Punkt auf den Raum bezieht und in ihm ihre Bestimmungen als Linie und Fläche entwickelt, ist aber in der Sphäre des Außersichseins ebensowohl für sich und ihre Bestimmungen darin, aber zugleich als in der Sphäre des Außersichseins setzend, dabei als[47] gleichgültig gegen das ruhige Nebeneinander erscheinend. So für sich gesetzt, ist sie die Zeit.


§ 258


Die Zeit, als die negative Einheit des Außersichseins, ist gleichfalls ein schlechthin Abstraktes, Ideelles. – Sie ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist, das angeschaute Werden, d.i. daß die zwar schlechthin momentanen, d.i. unmittelbar sich aufhebenden Unterschiede als äußerliche, d.i. jedoch sich selbst äußerliche, bestimmt sind.

Die Zeit ist wie der Raum eine reine Form der Sinnlichkeit oder des Anschauens, das unsinnliche Sinnliche, – aber wie diesen, so geht auch die Zeit der Unterschied der Objektivität und eines gegen dieselbe subjektiven Bewußtseins nichts an. Wenn diese Bestimmungen auf Raum und[48] Zeit angewendet werden, so wäre jener die abstrakte Objektivität, diese aber die abstrakte Subjektivität. Die Zeit ist dasselbe Prinzip als das Ich = Ich des reinen Selbstbewußtseins; aber dasselbe oder der einfädle Begriff noch in seiner gänzlichen Äußerlichkeit und Abstraktion, – als das angeschaute bloße Werden, das reine Insichsein als schlechthin ein Außersichkommen.

Die Zeit ist ebenso kontinuierlich wie der Raum, denn sie ist die abstrakt sich auf sich beziehende Negativität, und in dieser Abstraktion ist noch kein reeller Unterschied.

In der Zeit, sagt man, entsteht und vergeht alles; wenn von allem, nämlich der Erfüllung der Zeit, ebenso von der Erfüllung des Raums abstrahiert wird, so bleibt die leere Zeit wie der leere Raum übrig, – d.i. es sind dann diese Abstraktionen der Äußerlichkeit gesetzt und vorgestellt, als ob sie für sich wären. Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht alles, sondern die Zeit selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen, das seiende Abstrahieren, der alles gebärende und seine Geburten zerstörende Kronos. – Das Reelle ist wohl von der Zeit verschieden, aber ebenso wesentlich identisch mit ihr. Es ist beschränkt, und das Andere zu dieser Negation ist außer ihm; die Bestimmtheit ist also an ihm sich äußerlich und daher der Widerspruch seines Seins; die Abstraktion dieser Äußerlichkeit ihres Widerspruchs und der Unruhe desselben ist die Zeit selbst. Darum ist das Endliche vergänglich und zeitlich, weil es nicht, wie der Begriff, an ihm selbst die totale Negativität ist, sondern diese als sein allgemeines Wesen zwar in sich hat, aber ihm nicht gemäß, einseitig ist, daher sich zu derselben als zu seiner Macht verhält. Der Begriff aber, in seiner frei für sich existierenden Identität mit sich, Ich = Ich, ist an und für sich die absolute Negativität und Freiheit, die Zeit daher nicht seine Macht, noch ist er in der Zeit und ein Zeitliches, sondern er ist vielmehr die Macht der Zeit, als welche nur diese Negativität als Äußerlichkeit ist. Nur das Natürliche ist darum[49] der Zeit untertan, insofern es endlich ist; das Wahre dagegen, die Idee, der Geist, ist ewig. – Der Begriff der Ewigkeit muß aber nicht negativ so gefaßt werden als die Abstraktion von der Zeit, daß sie außerhalb derselben gleichsam existiere; ohnehin nicht in dem Sinn, als ob die Ewigkeit nach der Zeit komme; so würde die Ewigkeit zur Zukunft, einem Momente der Zeit, gemacht.
[50]


§ 259

Die Dimensionen der Zeit, die Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, sind das Werden der Äußerlichkeit als solches und dessen Auflösung in die Unterschiede des Seins als des Übergehens in Nichts und des Nichts als des Übergehens[51] in Sein. Das unmittelbare Verschwinden dieser Unterschiede in die Einzelheit ist die Gegenwart als Jetzt, welches als die Einzelheit ausschließend und zugleich schlechthin kontinuierlich in die anderen Momente, selbst nur dies Verschwinden seines Seins in Nichts und des Nichts in sein Sein ist.

Die endliche Gegenwart ist das Jetzt als seiend fixiert, von dem Negativen, den abstrakten Momenten der Vergangenheit und Zukunft, als die konkrete Einheit, somit als das Affirmative unterschieden; allein jenes Sein ist selbst nur das abstrakte, in Nichts verschwindende. – Übrigens kommt es in der Natur, wo die Zeit Jetzt ist, nicht zum bestellenden Unterschiede von jenen Dimensionen; sie sind notwendig nur in der subjektiven Vorstellung, in der Erinnerung und in der Furcht oder Hoffnung. Die Vergangenheit aber und Zukunft der Zeit als in der Natur seiend ist der Raum, denn er ist die negierte Zeit; so ist der aufgehobene Raum zunächst der Punkt und für sich entwickelt die Zeit.

Der Wissenschaft des Raums, der Geometrie, steht keine solche Wissenschaft der Zeit gegenüber. Die Unterschiede der Zeit haben nicht diese Gleichgültigkeit des Außersichseins, welche die unmittelbare Bestimmtheit des Raums ausmacht; sie sind daher der Figurationen nicht, wie dieser, fähig. Diese Fähigkeit erlangt das Prinzip der Zeit erst dadurch, daß es paralysiert, ihre Negativität vom Verstande zum Eins herabgesetzt wird. – Dies tote Eins, die höchste Äußerlichkeit des Gedankens, ist der äußerlichen Kombination, und diese Kombinationen, die Figuren der Arithmetik, sind wieder der Verstandesbestimmung nach Gleichheit und Ungleichheit, der Identifizierung und des Unterscheidens fähig.

Man könnte noch weiter den Gedanken einer philosophischen Mathematik fassen, welche dasjenige aus Begriffen erkennte, was die gewöhnliche mathematische Wissenschaft aus vorausgesetzten Bestimmungen nach der Methode des[52] Verstandes ableitet. Allein da die Mathematik einmal die Wissenschaft der endlichen Größenbestimmungen ist, welche in ihrer Endlichkeit festbleiben und gelten, nicht übergehen sollen, so ist sie wesentlich eine Wissenschaft des Verstandes; und da sie die Fähigkeit hat, dieses auf eine vollkommene Weise zu sein, so ist ihr der Vorzug, den sie vor den anderen Wissenschaften dieser Art hat, vielmehr zu erhalten und weder durch Einmischung des ihr heterogenen Begriffs noch empirischer Zwecke zu verunreinigen. Es bleibt dabei immer offen, daß der Begriff ein bestimmteres Bewußtsein sowohl über die leitenden Verstandesprinzipien als über die Ordnung und deren Notwendigkeit in den arithmetischen Operationen sowohl als in den Sätzen der Geometrie begründe.

Es würde ferner eine überflüssige und undankbare Mühe sein, für den Ausdruck der Gedanken ein solches widerspenstiges und inadäquates Medium, als Raumfiguren und Zahlen sind, gebrauchen zu wollen und dieselben gewaltsam zu diesem Behufe zu behandeln. Die einfachen ersten Figuren und Zahlen eignen sich ihrer Einfachheit wegen, ohne Mißverständnisse zu Symbolen, die jedoch immer für den Gedanken ein heterogener und kümmerlicher Ausdruck sind, angewendet zu werden. Die ersten Versuche des reinen Denkens haben zu diesem Notbehelfe gegriffen; das pythagoreische Zahlensystem ist das berühmte Beispiel davon. Aber bei reicheren Begriffen werden diese Mittel völlig ungenügend, da deren äußerliche Zusammensetzung und die Zufälligkeit der Verknüpfung überhaupt der Natur des Begriffs unangemessen ist und es völlig zweideutig macht, welche der vielen Beziehungen, die an zusammengesetzteren Zahlen und Figuren möglich sind, festgehalten werden sollen. Ohnehin verfliegt das Flüssige des Begriffs in solchem äußerlichen Medium, worin jede Bestimmung in das gleichgültige Außereinander fällt. Jene Zweideutigkeit könnte allein durch die Erklärung gehoben werden. Der wesentliche Ausdruck des Gedankens[53] ist alsdann diese Erklärung, und jenes Symbolisieren ein gehaltloser Überfluß.

Andere mathematische Bestimmungen, wie das Unendliche, Verhältnisse desselben, das Unendlichkleine, Faktoren, Potenzen usf., haben ihre wahrhaften Begriffe in der Philosophie selbst; es ist ungeschickt, sie für diese aus der Mathematik hernehmen und entlehnen zu wollen, wo sie begrifflos, ja so oft sinnlos aufgenommen werden und ihre Berichtigung und Bedeutung vielmehr von der Philosophie zu erwarten haben. Es ist nur die Trägheit, die, um sich das Denken und die Begriffsbestimmung zu ersparen, ihre Zuflucht zu Formeln, die nicht einmal ein unmittelbarer Gedankenausdruck sind, und zu deren schon fertigen Schematen nimmt.

Die wahrhaft philosophische Wissenschaft der Mathematik als Größenlehre würde die Wissenschaft der Maße sein; aber diese setzt schon die reelle Besonderheit der Dinge voraus, welche erst in der konkreten Natur vorhanden ist. Sie würde aber wohl wegen der äußerlichen Natur der Größe die allerschwerste Wissenschaft sein.[54]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 9, Frankfurt a. M. 1979, S. 47-55.
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