γ). Die Krankheit des Individuums
§ 371

[520] In den zwei betrachteten Verhältnissen geht der Prozeß der Selbstvermittlung der Gattung mit sich durch ihre Diremtion in Individuen und das Aufheben ihres Unterschiedes vor. Aber indem sie ferner (§ 357) die Gestalt äußerer Allgemeinheit, der unorganischen Natur gegen das Individuum annimmt, bringt sie auf abstrakte negative Weise sich an ihm zur Existenz. Der einzelne Organismus kann in jenem Verhältnisse der Äußerlichkeit seines Daseins seiner Gattung ebensowohl auch nicht entsprechend sein, als in ihr sich in sich zurückkehrend erhalten (§ 366). – Er befindet sich im Zustande der Krankheit, insofern eines seiner Systeme oder Organe, im Konflikt mit der unorganischen Potenz erregt, sich für sich festsetzt und in seiner besonderen Tätigkeit gegen die Tätigkeit des Ganzen beharrt, dessen Flüssigkeit und durch alle Momente hindurchgehender Prozeß hiermit gehemmt ist.
[520]


§ 372

Die eigentümliche Erscheinung der Krankheit ist daher, daß die Identität des ganzen organischen Prozesses sich als sukzessiver Verlauf der Lebensbewegung durch seine unterschiedenen Momente, die Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion, d.i. als Fieber darstellt, welches aber als Verlauf der Totalität gegen die vereinzelte Tätigkeit ebensosehr der Versuch und Beginn der Heilung ist.
[525]

§ 373

Das Heilmittel erregt den Organismus dazu, die besondere Erregung, in der die formelle Tätigkeit des Ganzen fixiert ist, aufzuheben und die Flüssigkeit des besonderen Organs oder Systems in das Ganze herzustellen. Dies bewirkt das Mittel dadurch, daß es ein Reiz, aber ein schwer zu Assimilierendes und zu Überwindendes ist und daß damit dem Organismus ein Äußerliches dargeboten wird, gegen welches er seine Kraft aufzubieten genötigt ist. Gegen ein Äußerliches sich richtend, tritt er aus der mit ihm identisch gewordenen Beschränktheit, in welcher er befangen war und gegen welche er nicht reagieren kann, insofern es ihm nicht als Objekt ist.

Der Hauptgesichtspunkt, unter welchem die Arzneimittel betrachtet werden müssen, ist, daß sie ein Unverdauliches sind. Aber die Bestimmung von Unverdaulichkeit ist relativ, jedoch nicht in dem unbestimmten Sinne, daß dasjenige nur leicht verdaulich heißt, was schwächere Konstitutionen vertragen können; dergleichen ist für die kräftigere Individualität vielmehr unverdaulich. Die immanente Relativität des Begriffes, welche im Leben ihre Wirklichkeit hat, ist qualitativer Natur und besteht – in quantitativer Rücksicht ausgedrückt, insofern sie hier gilt – in einer um so höheren Homogeneität, je selbständiger in sich die Entgegengesetzten sind. Für die niedrigeren, zu keiner Differenz in sich gekommenen animalischen Gebilde ist nur das individualitätslose Neutrale, das Wasser (wie für die Pflanze) das Verdauliche; für Kinder ist das[529] Verdauliche teils die ganz homogene animalische Lymphe, die Muttermilch, ein schon Verdautes oder vielmehr nur in Animalität unmittelbar und überhaupt Umgewandeltes und in ihm selbst weiter nicht Differenziertes, – teils von differenten Substanzen solche, die noch am wenigsten zur Individualität gereift sind. Substanzen dieser Art sind hingegen unverdaulich für die erstarkten Naturen. Diesen sind dagegen tierische Substanzen als das Individualisierte oder die vom Lichte zu einem kräftigeren Selbst gezeitigten und deswegen geistig genannten vegetabilischen Säfte ein Verdaulicheres als z.B. die noch in der neutralen Farbe – und dem eigentümlichen Chemismus näher – stehenden vegetabilischen Produktionen. Durch ihre intensivere Selbstigkeit machen jene Substanzen einen um so stärkeren Gegensatz; aber eben dadurch sind sie homogenere Reize. – Die Arzneimittel sind insofern negative Reize, Gifte; ein Erregendes und zugleich Unverdauliches wird dem in der Krankheit sich entfremdeten Organismus als ein ihm äußerliches Fremdes dargeboten, gegen welches er sich zusammennehmen und in Prozeß treten muß, durch den er zum Selbstgefühl und zu seiner Subjektivität wieder gelange. – So ein leerer Formalismus der Brownianismus war, wenn er das ganze System der Medizin sein sollte und wenn die Bestimmung der Krankheiten auf Sthenie und Asthenie und etwa noch auf direkte und indirekte Asthenie, und die Wirksamkeit der Mittel auf Stärken und Schwächen, und wenn diese Unterschiede ferner auf Kohlen- und Stickstoff mit Sauer- und Wasserstoff oder magnetisches, elektrisches und chemisches Moment und dergleichen ihn naturphilosophisch machen sollende Formeln reduziert wurden, so hat er doch wohl mit dazu beigetragen, die Ansicht des bloß Partikularen und Spezifischen sowohl der Krankheiten als der Mittel zu erweitern und in beiden vielmehr das Allgemeine als das Wesentliche[530] zu erkennen. Durch seinen Gegensatz gegen die vorherige, im ganzen mehr asthenisierende Methode hat sich auch gezeigt, daß der Organismus gegen die entgegengesetzteste Behandlungsart nicht auf eine so entgegengesetzte, sondern häufig auf eine – wenigstens in den Endresultaten gleiche und daher allgemeine Weise reagiert und daß seine einfache Identität mit sich als die substantielle und wahrhaft wirksame Tätigkeit gegen eine partikuläre Befangenheit einzelner seiner Systeme in spezifischen Reizen sich beweist. – So allgemein und daher im Vergleich mit den so mannigfachen Krankheitserscheinungen ungenügend die im § und in der Anm. vorgetragenen Bestimmungen sind, so sehr ist es nur die feste Grundlage des Begriffs, welche sowohl durch das Besondere hindurchzuführen als vollends das, was der in die Äußerlichkeiten des Spezifischen versenkten Gewohnheit als extravagant und bizarr sowohl in Krankheitserscheinungen als in Heilweisen vorkommt, verständlich zu machen vermag.
[531]


§ 374

In der Krankheit ist das Tier mit einer unorganischen Potenz verwickelt und in einem seiner besonderen Systeme oder Organe gegen die Einheit seiner Lebendigkeit festgehalten. Sein Organismus ist als Dasein von einer quantitativen Stärke, und zwar seine Entzweiung zu überwinden, aber ebensowohl ihr zu unterliegen und darin eine Weise seines Todes zu haben fähig. Überhaupt hebt die Überwindung und das Vorübergehen einzelner Unangemessenheit die allgemeine Unangemessenheit nicht auf, welche das Individuum darin hat, daß seine Idee die unmittelbare ist, als Tier innerhalb der Natur steht und dessen Subjektivität nur an sich der Begriff, aber nicht für sich selbst ist. Die innere Allgemeinheit bleibt daher gegen die natürliche Einzelheit des Lebendigen die negative Macht, von welcher es Gewalt leidet und untergeht, weil sein Dasein als solches nicht selbst diese Allgemeinheit in sich hat, somit nicht deren entsprechende Realität ist.[534]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 9, Frankfurt a. M. 1979, S. 520-521,525-526,529-532,534-535.
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