5. Nachfolger des Proklos

[486] Proklos ist die Spitze der neuplatonischen Philosophie; dieses Philosophieren zieht sich nun weit hinein in späte Zeiten, selbst durch das ganze Mittelalter. Proklos hatte noch mehrere Nachfolger auf dem Lehrstuhl zu Athen, Marinos, seinen Lebensbeschreiber, dann Isidoros von Gaza, endlich Damaskios. Von dem letzten sind auch noch sehr interessante Schriften da. Er war der letzte Lehrer der neuplatonischen Philosophie in der Akademie. Denn 529 n. Chr. ließ Kaiser Justinian diese Schule schließen und trieb alle heidnischen Philosophen aus seinem Reiche. Unter ihnen befand sich auch Simplicius, ein berühmter Kommentator des Aristoteles, von dessen Kommentaren mehrere gar noch nicht gedruckt sind. Sie suchten und fanden Schutz und Freiheit in Persien unter Kosroes. Nach einiger Zeit durften sie zwar auch wieder ins Römische Reich zurückkehren, konnten aber keine Schule zu Athen mehr bilden; und die heidnische Philosophie ging so auch in ihrer äußerlichen Existenz zugrunde. Eunapios handelt von dieser letzten Zeit; und Cousin hat sie in einer kleinen Schrift behandelt. Obgleich dieses äußerlich aufgehört hat, so haben sich die neuplatonischen Ideen, besonders die Philosophie des Proklos, doch noch lange in der Kirche festgesetzt und erhalten; und wir werden späterhin noch mehrmals darauf zurückweisen. Die[486] älteren, reineren, mystischen Scholastiker haben dasselbe, was wir bei Proklos sahen; und bis auf die späteren Zeiten auch in der katholischen Kirche, wenn mystisch tief von Gott gesprochen wird, so sind dies neuplatonische Vorstellungen.


Dies sind einige Proben oder vielleicht das Beste der neuplatonischen Philosophie; in ihr hat sich die Welt des Gedankens gleichsam konsolidiert. Nicht als ob sie neben einer sinnlichen Welt auch Gedanken gehabt hätten; sondern die sinnliche Welt ist verschwunden und das Ganze in den Geist erhoben, und dies Ganze Gott und sein Leben in ihm genannt.

Hier stehen wir an einer großen Umkehrung. Damit ist nun die erste Periode, die der griechischen Philosophie, geschlossen. Das griechische Prinzip ist Freiheit als Schönheit, Versöhnung in der Phantasie, natürliches freies Versöhntsein unmittelbar realisiert, sinnliche Idee in sinnlicher Gestalt. Durch die Philosophie will sich der Gedanke dem Sinnlichen entreißen; sie ist Ausbildung des Gedankens zur Totalität jenseits des Sinnlichen und der Phantasie. Es ist darin dieser einfache Fortgang; die Gesichtspunkte, die wir hatten, sind in kurzer Übersicht die. Zuerst sahen wir das Abstrakte in natürlicher Form; dann den abstrakten Gedanken in seiner Unmittelbarkeit: so das Eine, das Sein. Das sind reine Gedanken, der Gedanke ist nicht als Gedanke aufgefaßt; sie sind für uns Gedanken, allgemeine Gedanken, das Bewußtsein des Gedankens fehlt. Sokrates ist die zweite Stufe, die Stufe des Selbst, des Gedankens als Selbst; das Absolute ist das Denken selbst, nous. Der Inhalt ist nicht nur bestimmt, Sein, Atom, sondern konkret, in sich bestimmtes, subjektives Denken; er ist aber nur an sich konkret. Drittens wird dieses wieder als konkret gewußt; bis dahin ging die griechische Philosophie.

Das Selbst ist die einfachste Form des Konkreten, das Selbst ist inhaltslos; insofern es bestimmt ist, wird es konkret: so[487] Sokrates, die Platonische Idee. Dieser Inhalt ist aber nur an sich konkret, er wird noch nicht als konkret gewußt. Platon, vom Gegebenen anfangend, nimmt den bestimmteren Inhalt aus demselben, der Anschauung. Aristoteles hat die höchste Idee, das Denken des Denkens, steht in der obersten Spitze; außer ihr ist die Welt, der Inhalt. Das Konkrete ist mannigfaltig Konkretes, es soll zur Einheit zurückgeführt werden; das Selbst ist die letzte, einfache Einheit des Konkreten. Oder umgekehrt das Abstrakte, das Prinzip soll Inhalt gewinnen; so sahen wir die Systeme des Dogmatismus entstehen. Jenes Denken des Denkens ist im Stoizismus als Prinzip aller Welt; es ist Versuch, Aufgabe, sie als Denken zu fassen. Der Skeptizismus vernichtet allen solchen Inhalt; er ist Selbstbewußtsein, Denken in seiner reinen Einsamkeit mit sich, die Reflexion auf jenes Voraussetzen und Anfangen von Voraussetzungen.

Drittens wird das Absolute als Konkretes gewußt. Im System ist nur Sollen vorhanden, Beziehung des Unterschiedes auf die Einheit; die Identität kommt nicht zustande, es ist nur innere Forderung. Zuletzt, in der neuplatonischen Schule, wird das Absolute also als konkret gewußt, die Idee in ihrer ganz konkreten Bestimmung als Dreieinigkeit, Dreiheit von Dreiheiten, so daß diese immer noch weiter emanieren. Jedes ist aber ein Dreieiniges in sich, so daß die abstrakten Momente dieser Trias selbst auch gefaßt sind als Totalität. Als wahr gilt nur ein solches, das sich manifestiert und darin sich als das Eine erhält. Die Alexandriner sind konkrete Totalität an sich; sie haben die Natur des Geistes aufgefaßt. Sie sind aber nicht α) ausgegangen von unendlicher Subjektivität, der Tiefe, dem absoluten Bruch, haben nicht β) die absolute (abstrakte) Freiheit, das Ich, den unendlichen Wert des Subjekts.

Dies ist nicht so ein Einfall der Philosophie, sondern ein Ruck des Menschengeistes, der Welt, des Weltgeistes. Die Offenbarung Gottes ist nicht als ihm von einem Fremden geschehen. Was wir so trocken, abstrakt hier betrachten, ist[488] konkret. Solches Zeug, sagt man, die Abstraktionen, die wir betrachten, wenn wir so in unserem Kabinett die Philosophen sich zanken und streiten lassen und es so oder so ausmachen, sind Wort-Abstraktionen. – Nein! Nein! Es sind Taten des Weltgeistes, meine Herren, und darum des Schicksals. Die Philosophen sind dabei dem Herrn näher, als die sich nähren von den Brosamen des Geistes; sie lesen oder schreiben diese Kabinettsordres gleich im Original: sie sind gehalten, diese mitzuschreiben. Die Philosophen sind die mystai, die beim Ruck im innersten Heiligtum mit- und dabeigewesen; die anderen haben ihr besonderes Interesse: diese Herrschaft, diesen Reichtum, dies Mädchen. – Wozu der Weltgeist 100 und 1000 Jahre brauche, das machen wir schneller, weil wir den Vorteil haben, daß es eine Vergangenheit [ist] und in der Abstraktion geschieht.[489]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 486-491.
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