LIX

Eigenschaften der dichterischen Einbildungskraft in Beziehung auf jenen Zustand

[260] Die dichterische Einbildungskraft hat dem Stoff des epischen Dichters, um ihn in seiner ganzen Stärke wirken zu lassen, zwei Eigenschaften mitzutheilen: Sinnlichkeit und Einheit. Beide werden in denjenigen Modificationen, die sie zu epischer Sinnlichkeit und epischer Einheit machen, durch den allgemeinen Geist dieser Dichtungsart bestimmt.

Dieser besteht darin, dem Zuhörer die Welt in ihrem ganzen Zusammenhange vor die Augen zu legen, in ihm allein seine beschauenden Kräfte herrschend zu erhalten, dieselben aber zu der höchsten Stärke und zu vollkommener Harmonie anzuspannen und diess alles endlich allein durch die Einbildungskraft auszuführen. Er hat daher nur Gestalt und Bewegung zu suchen, darf sich nicht einmal begnügen, nur die eine oder die andre, sondern muss immer beide mit einander vereint, lauter bewegte Gestalten aufstellen, muss immer allein für das Auge und den Sinn arbeiten oder, wenn er andre Sinne und andre Empfindungen ins Spiel zieht, doch ihre Wirkung immer jenem Haupteindruck unterordnen.

Aber das Auge will nicht bloss durch bestimmte Formen, durch sorgfältig gezeichnete Umrisse gehörig geleitet, es will auch belebt werden. Er muss daher die Trockenheit einer blossen Zeichnung vermeiden, Licht und Schatten, Farben, mit Einem Wort Colorit suchen, aber diess Colorit wieder nur der Eigenthümlichkeit seiner Gattung gemäss gebrauchen. Der Sinn, wenn er episch gestimmt ist, lebt in der freien, heitren Natur; der epische Dichter kann also nie genug Licht, genug Sonne, nie eine hinlängliche Fülle von Gestalten, nie genug lebendige Bewegung derselben, nie genug reiche und mannigfaltige Farbengebung[260] erlangen. Aber mitten in diesem üppigsten Reichthum muss nicht nur überhaupt die Form, sondern in ihm selbst auch durchgängige Harmonie herrschen; ein Ton muss den andern mildern, keiner muss sich schreiend hervordrängen; die Sinne müssen ergötzt, aber nicht in verwirrendem Taumel mit fortgerissen werden. Der epische Dichter hat daher alles Bunte und Schreiende, alles Grelle und Contrastirende zu vermeiden.

Allein diess, wovon wir bis jetzt redeten, sind nur erst die einzelnen Züge zu seinem Gemählde; die grosse Kunst besteht darin, diess Gemählde selbst zusammenzusetzen. Hierbei indess brauchen wir nicht weiter zu verweilen. Diese Kunst ist eben das, womit wir uns in dem ersten Theil dieses Aufsatzes so ausführlich beschäftigt haben, die reine Objectivität, die den Gegenstand in seiner ganzen lebendigen Gestalt vor uns hinstellt. Wir haben gesehen, dass dieselbe vorzüglich durch die ununterbrochene Stetigkeit der Umrisse bewirkt wird, und das Gesetz dieser Stetigkeit ist daher dem epischen Dichter mehr, als irgend einem andern vorgeschrieben.

Der bloss und ruhig beschauende Sinn ist nie, da er nie von einer einzelnen Absicht noch einer einzelnen Empfindung ausgeht, auf Einen Gegenstand ausschliessend geheftet; er schweift immer auf andre, immer auf alles über, was er zugleich vor sich erblickt, sucht immer eine Menge von Objecten oder, wenn er in seiner besten Stimmung ist, immer ein Ganzes derselben. Das Werk des epischen Dichters muss daher, indem es bestimmt ist, auf die ganze Natur eine freie Aussicht zu öfnen, eine Menge von Objecten, eine Mannigfaltigkeit einzelner Gruppen umfassen, und in diesen muss nun jede Gestalt in ihren einzelnen Theilen, jede Gruppe in ihren einzelnen Gestalten, endlich das Ganze in seinen einzelnen Gruppen durch nirgends unterbrochene Umrisse eine einzige Form bilden. Aber diese Stetigkeit wird auch noch ausserdem durch die erforderliche Bewegung nothwendig. Denn jede Unterbrechung derselben würde eben so gut ein Stillstand in dieser, als eine Lücke in der Gestalt seyn.[261]

Jedes epische Gedicht muss daher am Ende eine vollkommene Einheit aufstellen; und da diess keine Einheit nach Begriffen (wie in der Naturbeschreibung und Geschichte) seyn darf, so muss es eine Einheit der Gestalt und der Handlung seyn. Es darf daher nicht mehr als Eine Handlung und muss diese als ein sinnliches, durch sich allein vollständiges, von allem ausser sich unabhängiges Ganzes schildern.

Wie sich die epische Einheit noch besonders von der Einheit andrer Dichtungsarten unterscheidet, diess können wir bequemer in der Folge entwickeln, als hier, wo wir es noch nicht sowohl mit den Gesetzen, als nur mit dem Begriff des epischen Gedichts zu thun haben.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 260-262.
Lizenz:
Kategorien: