Als Buch bei Amazon

LX

In der Verbindung des Zustandes allgemeiner Beschauung und der dichterischen Einbildungskraft treten der Form nach gleichartige Eigenschaften mit einander in Wechselwirkung – Einfluss, welchen diess auf die epische Stimmung ausübt

[262] Wenn, wie wir im Vorigen gezeigt haben, jede eigne Dichtungsart dadurch entsteht, dass sich in dem menschlichen Gemüth eine eigne Stimmung vorfindet, deren sich nur die dichterische Einbildungskraft zu ihrem Gebrauche bedient (obgleich in dem Augenblick, wo diess geschieht, immer sie es ist, welche dieselbe hervorruft), so kann das volle Wesen derselben nicht anders, als durch die Verbindung dieser beiden Elemente sichtbar werden.

Wir haben jetzt in Rücksicht auf die Epopee beide, die beschauende Stimmung des Gemüths und die auf sie bezogene Einbildungskraft, einzeln untersucht. Die erstere zeichnete sich durch Objectivität, durch Totalität und durch Einheit, die aber freilich eine Einheit nach Begriffen war, aus; die letztere trug im Ganzen denselben Charakter an sich, auch Objectivität, auch Totalität, auch Einheit, nur aber eine sinnliche, und nur alle diese Eigenschaften, da sie es nicht mit der, immer an sich beschränkten und uns nie ganz verständlichen Wirklichkeit zu thun hat, in grösserer Vollkommenheit und Reinheit.[262]

Da also die Einbildungskraft hier eine Stimmung des Gemüths bearbeitet, die ihrer eignen Natur schon von selbst nahe kommt, so ist es natürlich, dass alle jene Eigenschaften in doppelter Stärke auftreten müssen; aber das Wichtigste ist dabei das, was gerade aus dem Umstande selbst entspringt, dass sie sich an einem, ihr selbst der Form nach ähnlichen Stoff versucht. Da von dieser Seite ganz und gar kein Misklang entstehen kann, so hat sie, indem sie ihre Form geltend macht, keine Schwierigkeit zu bekämpfen, keinen Streit zu schlichten, keinen Widerspruch aufzulösen. Es muss also von allen Seiten Ruhe hervorgehn:

1., aus der Partheilosigkeit, welche jeder bloss betrachtenden Stimmung eigen ist;

2., aus der Idealität und der Einheit der Kunst;

3., endlich aus der Anwendung der Kunst auf jene Stimmung, als einen ihr ähnlichen Stoff.

Aber in Rücksicht der Materie ist diese Aehnlichkeit nicht in gleichem Grade vorhanden, da die beschauende Stimmung vermöge des darin zugleich herrschenden intellectuellen Vermögens nicht durchaus sinnlich und durch ihre bloss objective Partheilosigkeit und Allgemeinheit gewissermassen kalt und trocken ist. Die Einbildungskraft muss demselben also von ihrer Sinnlichkeit und ihrem Feuer leihen und sich daher zu einer Kraft stimmen, welche nicht der rüstigen und furchtbaren gleicht, mit der Hindernisse bekämpft, sondern der wohlthätigen und üppigen, mit der neues Daseyn hervorgebracht oder schon vorhandnes gestärkt und genährt wird.

Die volle und ruhige Kraft ist es, welche das Leben erhält und erhöht. Denn sie kann nicht aus Armuth erschöpft und nicht durch Widerstand aufgerieben werden. Keinem andren Dichter kann man daher mit Recht so viel Leben zuschreiben, als dem epischen; und wo fände man auch wohl ein höheres, regeres, sinnlicheres, als in der Ilias und Odyssee?[263]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 262-264.
Lizenz:
Kategorien: