LXXXI

Resultat des Ganzen – Eigentlicher Stoff des Gedichts

[308] Ein furchtbares Ereigniss, das ganze Völkerschaften aus ihrer Heimath vertreibt, führt also eine schönere und edlere Natur in eine entfernte, noch minder cultivirte Gegend; es führt sie gerade der Familie, dem Jünglinge zu, der sie zu verstehen, zu fassen Sinn hat; es vereinigt beide mit einander, und indem es unaufhaltsam in seinem Laufe weiter forteilt, lässt es den Samen eines neuen Geschlechts, einer schöneren und besseren Menschheit zurück. Nicht der Zufall, nicht ein blindes Verhängniss, nein! die wohlthätige Hand eines Gottes, die wachsame Sorgfalt des Genius unsres Geschlechts scheint diese wunderbare Verkettung von Umständen geleitet zu haben; und wenn der Dichter der Mitwirkung höherer Mächte im Einzelnen entbehren musste, so führt er uns dieselbe auf die schönste und rührendste Weise durch das Ganze seiner Dichtung in das Gemüth zurück.

Wer erinnert sich nun nicht hierbei der frühesten Zeiten unsrer Geschichte, wo wohlthätige Pflanzvölker in weit entfernte Länder Menschlichkeit und Gesetzesliebe und die ersten Keime der Wissenschaft und Kunst hinübertrugen? und der späteren, wo einzelne Königstöchter, von dem Zauber sanfter Weiblichkeit und der Macht der Liebe unterstützt, barbarischen Völkern die milden Gesinnungen einer menschlicheren Religion einflössten? wem scheint das Bild, das ihm der Dichter darstellt, nicht darum noch erhebender, als jene, weil der Stamm, der hier noch veredelt werden soll, schon selbst so gesunde und trefliche Früchte trägt? wer rettet sich nicht gern und mit einer gewissen stillen Andacht aus den Gräueln der Jahre, die wir durchlebt haben, zu Scenen dieser Art hin, die ihm allein nur noch[308] zuzurufen scheinen, dass sich nicht darum alles bewegt und umkehrt, um alles auf einmal in derselben Verwirrung zu begraben, sondern um die Welt und die Menschheit neu und besser zu gestalten?

Vorzüglich hat unser Dichter der bildenden Kraft des weiblichen Geschlechts ein schönes und rührendes Denkmahl gesetzt. Denn wenn Herrmann sanfter und menschlicher, vielseitiger und empfänglicher ist, als sein Vater, können wir darin den wohlthätigen Einfluss des stillen und einfachen Wesens seiner liebenden Mutter auf seine Natur verkennen? wenn er schon in dem Augenblick, in dem wir ihn zuerst handeln sehen, einen höheren und edleren Enthusiasmus gewonnen hat, ist es nicht Dorotheens Gestalt, die ihn dazu entflammt? und sehen wir nicht deutlich an der Macht, welche sie auf alle ausübt, die sich ihr nähern, die schönere Bildung, die sich von ihr aus auf ihre Familie, auf die ganze Gemeine, die ganze Gegend verbreiten wird?

Auch hierin bleibt der Dichter der Natur unverbrüchlich treu. Das weibliche Geschlecht übt den entscheidendsten Einfluss in dem Kreise der Familie aus; nun aber muss aller politischen Cultur moralische Charakterbildung zum Grunde liegen und zu jeder Vollkommenheit des Charakters kann der Keim nur im Schooss des Familienlebens aufblühen. Auch ist die weibliche Natur unendlich mehr geschickt zu verbessern, ohne zugleich zu zerstören; sie besitzt eine sanftere und doch stärkere Gewalt über die Gemüther, ist dem Neuen mehr offen und dem Alten weniger feind, behandelt diess weniger gewaltsam und ergreift jenes begieriger. Sie fühlt zu tief, dass ihr selbst alles fremd bleibt, was sich nicht durchaus mit ihren Gedanken und Empfindungen verwebt, und will daher auch der Welt und der Menschheit nichts Aehnliches aufdrängen.

Die fortschreitende Veredlung unsres Geschlechts, geleitet durch die Fügung des Schicksals, macht also, in einer einzelnen Begebenheit dargestellt, den Stoff unsres Gedichts aus. Sieht man denselben nunmehr von dieser Seite an, so wird man ihm gewiss weder Grösse noch Umfang noch endlich epische Tauglichkeit absprechen können. Nur liegt die[309] Grösse desselben freilich nicht so, wie bei der heroischen Epopee, in der Begebenheit selbst, sondern in dem, was sich in ihr darstellt. Wer diess verkennt oder wer auf der andern Seite nicht vollkommen fühlt, dass derselbe dennoch durchaus künstlerisch, objectiv und episch behandelt ist, der wird immer entweder dem allgemeinen oder dem künstlerischen und in beiden Fällen dem epischen Werth des Gedichts zu nahe treten.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 308-310.
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