LXXXII

Gesetze der Epopee – Gesetz der höchsten Sinnlichkeit

[310] Das Hauptresultat des Begriffs der Epopee läuft darauf hinaus, dass dieselbe unter allen Dichtungsarten die am meisten objective genannt werden kann. Denn keine andre strebt so sehr nur die äussre Wirklichkeit im Gegensatz der innern Veränderungen des Gemüths, keine einen so grossen Theil derselben, keine endlich diesen Stoff in so lebendiger und sinnlicher Klarheit darzustellen. Alle Mittel, welche überhaupt dazu beitragen, Objectivität zu befördern, sind daher vorzugsweise das Eigenthum des epischen Dichters, und alle Gesetze, die er als verbindend anerkennen soll, müssen dahin zusammenkommen. Einzeln lassen sich dieselben aus den drei hauptsächlichsten Bestandtheilen der Definition der Epopee ableiten: aus dem Begriff der dichterischen Erzählung einer Handlung, aus ihrer Bestimmung, das Gemüth in den Zustand sinnlicher Betrachtung zu versetzen und in dieser Betrachtung so innig als möglich die Menschheit mit der Welt zu verknüpfen; und dieser Ableitung zufolge dürfte es vielleicht nicht unbequem seyn, sie unter folgende Benennungen zusammenzufassen.

1. Das Gesetz der höchsten Sinnlichkeit. Diess ist überhaupt ein allgemeines Gesetz aller Kunst und der darstellenden insbesondre. Aber von dem epischen Dichter wird die Befolgung desselben mit doppeltem Rechte gefordert, da er es mit lauter äussern, also rein sinnlichen Dingen zu thun hat und auch das Gemüth in eine, auf diese gerichtete Stimmung versetzen soll. Er muss daher nicht allein bloss[310] Gestalten und Bewegung, sondern von beiden auch eine beträchtlich grosse Masse aufführen, muss ein Colorit wählen, das unmittelbar Licht und Klarheit ankündigt, einen Ton annehmen, der uns freundlich aus uns herauszugehen einladet und uns zu einem hohen und weiten Schwunge der Phantasie erhebt, Gedanken anregen, welche uns in die grossen Verhältnisse der Menschheit zu der Welt eine tiefe Einsicht gewähren, Empfindungen anstimmen, die uns harmonisch mit der Natur verbinden, und seinen Stoff überall noch durch den Reichthum und die Sinnlichkeit seines Vertrags, seiner Diction und seines Rhythmus beleben.

Vorzugsweise ist die höchste Sinnlichkeit ein Eigenthum der heroischen Epopee, die eben so gleichsam ein Maximum des epischen Gedichts, als dieses selbst ein Maximum aller darstellenden Kunst überhaupt genannt werden kann. Daher gehören unter dieses Gesetz die gewöhnlichen Regeln von der Grösse der Handlung, der Einmischung des Wunderbaren, der Mitwirkung der Götter, der Ankündigung [des Gegenstandes] des Gesanges und des Anrufs der Muse. Da die entgegengesetzte Art der Epopee sich gerade hierin von der heroischen unterscheidet, so muss sie sich sehr hüten, nicht durch eine zu wenig sinnliche Behandlung gar unter dem Epischen oder dem Dichterischen überhaupt zu bleiben.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 310-311.
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