XLV

Eigenthümlichkeit unsres Gedichts in der Verbindung dieses wahrhaft modernen Gehalts mit jener ächt antiken Form

[236] Wir haben nunmehr die einzelnen Eigenschaften des Gedichts entwickelt, von dessen Wirkung wir Rechenschaft zu geben versuchen. Wir haben gefunden, dass es in der rein objectiven Darstellung den Werken der Alten gleichkommt, dass es in diese Form einen für den Geist und die Empfindung so reichen Gehalt kleidet, als wir ihn nur bei neueren Dichtern anzutreffen gewohnt sind, dass es aber denselben dennoch wieder durchaus zu der einfachen und natürlichen Wahrheit der Alten zurückführt. Wir brauchen jetzt nur diese einzelnen Bestandtheile mit einander zu verbinden, um den ganzen Charakter desselben vollkommen darzustellen.

Jeder epische oder auch nur überhaupt beschreibende Dichter müsste sich die rein künstlerische Form zu eigen machen, die wir im Anfange dieses Aufsatzes so ausführlich geschildert haben; jeder neuere müsste streben, unsern Geist und unser Herz auf die Weise zu beschäftigen, mit den Ideen und Empfindungen zu nähren, die unserer Zeit, den Erfahrungen, die wir gesammelt, den Fortschritten, die wir gemacht haben, angemessen sind. Aber in der Art, wie unser Dichter beides thut, liegt auch mitten in dieser allgemeinen Treflichkeit sein individueller und unterscheidender Charakter.

Zuerst ist er ganz und allein wahrer Künstler. Seine[236] Poesie ist rein darstellend, sie ist noch mehr als das, sie ist vollkommen episch; sie bleibt dem allgemeinen Begriffe der Kunst, einen Gegenstand durch die Einbildungskraft zu erzeugen, immer vollkommen nah; sie ist mit dem Style der bildenden eng verschwistert und benutzt zugleich alle ihr selbst durch Bewegung und Ausdruck eigenthümliche Vorzüge. Die Gedanken und Empfindungen, welche sie schildert, sind nur die Seele seiner Gestalten, dienen nur, ihnen Leben und Sprache einzuhauchen.

Indem wir aber nur diesen Gestalten zuzusehen glauben und überall Bewegung und Umrisse vor uns erblicken, werden wir dennoch eigentlich nur von ihrem innern geistigen Wesen gerührt; wir fühlen unsren Busen lebhafter, als bei einem andren Dichter bewegt, dringen tiefer in unser Inneres ein, werden reiner und menschlicher gestimmt. Jene Gestalten scheinen uns jetzt nur der zartgebildete Körper der Seele, die so lebendig aus ihnen hervorstralt.

Dadurch dass Gestalt und Charakter in ihnen immer so genau für einander passen, dass bald jener nur um dieses, bald dieser nur um jenes willen dazustehen scheint, sehen wir bei ihnen immer den ganzen Menschen in seiner natürlichen Wahrheit. Er nimmt ihn in seiner besten und höchsten Eigenthümlichkeit auf und giebt dann diesem Stoff das sichtbarste Gepräge der Kunst, da er ihn durch ein doppeltes Verfahren den Werken der Alten ähnlich macht, einmal, indem er ihn zu der einfachen Wahrheit der Natur zurückführt, und dann, indem er ihm jene rein darstellende Objectivität mittheilt.

Wer den Werther, den Götz und diess Gedicht lebendig in der Seele gegenwärtig hat, der wird die Wahrheit des eben Gesagten von selbst empfinden. Aber um sich zu überzeugen, dass man nicht bloss unentwickelte Gefühle, sondern klare und sichere Resultate aus dem Studium des Dichters mitgebracht hat, ist es nothwendig, es noch einmal in bestimmte und einfache Resultate zusammenzufassen. Löst man daher das, was wir ihm hier eigenthümlich nennen und wodurch er die Wirkung hervorbringt, in der[237] gewöhnlich alle Leser mit einander übereinkommen, in seine Elemente auf, so stösst man vorzüglich auf folgende drei Punkte:

1., Er ist nicht bloss durchaus objectiv und ächt künstlerisch, sondern auch im genauesten Verstande immer bildend und episch; was er zeichnet, ist Gestalt und Bewegung, ist sinnlich anschaulich, ein reines Erzeugniss der bildenden Phantasie.

2., Sein Stoff, das, was sich in seinen Schilderungen eigentlich darstellt, was aus ihnen, wie aus einem feinen Schleier, immer hervorblickt, was wir immerfort, aber nie anders, als in sinnlicher Gestalt und in lebendiger Bewegung sehen, ist die innere Menschheit, die Masse von Gedanken und Gefühlen, zu denen das Gemüth gelangt, wenn es in seinen vollen Kräften sich selbst und die Natur ausser sich umfasst, die Menschheit in ihrer höchsten Vollendung und ihrer einfachsten Wahrheit.

3., Die hohe Wirkung, die einerseits durch den Gehalt, den der Dichter in seinen Stoff legt, andrerseits durch das Dichterische der Darstellung entsteht, wird noch dadurch verstärkt, dass für die letztere nichts mehr gethan ist, als die vollkommene Objectivität erfordert, nirgends aber ein überflüssiges Colorit aufgetragen ist, wodurch nun theils die Formen reiner und bestimmter hervortreten, theils der Stoff selbst einen um so tieferen und rührenderen Eindruck macht, als er nackter und einfacher erscheint.

Verliert nun unser Dichter, wie wir in einem der vorigen Abschnitte (XL.) gezeigt haben, auf der einen Seite gegen die Werke der Alten an sinnlichem Reichthum, so erlangt er diess auf der andren in gleichem Grade und zwar durch eine Kühnheit wieder, durch die er auf einmal alles aufzugeben scheint. Denn nichts droht auf den ersten Anblick aller Kunst so grosse Gefahr, als die schlichte Wahrheit, die so leicht zu dem bloss Prosaischen heruntersinkt, als die Innigkeit, die zu tief in uns herabzusteigen, zu sehr in unser wirkliches Gefühl einzugreifen scheint, um sich noch wieder von da zu einem idealischen und künstlerischen zu erheben. Gerade hier aber zeigt sich die[238] Stärke des Dichters und das gerechte Vertrauen zu seiner Kraft. Nicht indem er seiner Stimmung einen heftigen und leidenschaftlichen Schwung giebt, sondern indem er seinem Gegenstande dadurch, dass er alles in ihm zusammenfasst, eine unendliche Ausdehnung ertheilt, hebt er ihn aus der Wirklichkeit empor; nicht dadurch, dass er ihn von der Natur entfernt, sondern dadurch, dass er ihn ganz in ihr, aber sie selbst mit ihm in ihrer wahren und ursprünglichen Gestalt auffasst, erhält er ihn innerhalb des Gebiets der Einbildungskraft.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 236-239.
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