XLVI

Vaterländischer Charakter unsres Dichters, in seiner Vergleichung mit den alten und den neueren Dichtern andrer Nationen gezeigt

[239] Um die besondre Stelle kennen zu lernen, die wir selbst einnehmen, haben wir immer zugleich auf zwei Punkte zu sehen: auf das Alterthum und das Ausland. Es sey uns erlaubt, auch unsern Dichter noch einen Augenblick in dieser doppelten Beziehung zu betrachten.

Er verweilt, wie wir gesehen haben, nicht nur vorzugsweise bei der Schilderung des inneren Menschen, des Gemüths in seinen Gedanken und Empfindungen, sondern er zeigt es uns auch so, wie es etwas Andres und Höheres begehrt, als dessen Befriedigung unmittelbar in der Natur ausser uns liegt, etwas Idealisches, das über die äussre Thätigkeit und den äussren Genuss des Lebens hinausgeht; wie es endlich überhaupt ein innres Daseyn in sich selbst dem äussren in der Welt entgegensetzt, in jenem oft etwas verfolgt, was diesem fremd ist, und nicht gleich dort dasjenige aufgiebt, was hier zu erreichen unmöglich ist. Dadurch unterscheidet er sich von den Alten, die den Menschen immer mehr in der Begleitung der Natur, als im Gegensatz mit derselben darstellen, und diess hat er mit den meisten neueren Dichtern gemein.

Aber die inneren Regungen des Geistes und des Herzens sind sehr verschiedener Töne fähig und unter diesen zeichnen[239] sich vorzüglich zwei aus, die gleichsam zwei Extreme bilden – der hohe und starke und der stille und sanft gehaltene. Der Gedanke gewinnt eine andre Gestalt, wenn er aus dem blossen, von keiner äussern Erfahrung unterstützten Nachdenken hervorgeht oder, durch die Phantasie geformt, als glänzende Sentenz auftritt, und wenn er in einfacher Wahrheit eine Menge von Erfahrungen zusammenfasst und daraus gediegene Weisheit zieht. Das Herz fühlt andre Regungen, wenn es von heftigen Leidenschaften durchstürmt und wenn es, nachdem es alles, was es nur von der Natur zu erfassen vermag, in seinen Kreis gezogen hat, von lauter mächtigen und unendlichen, aber immer mit einander zusammenstimmenden Gefühlen harmonisch durchdrungen, still, aber tief bewegt ist. Diese letztere Stimmung ist es, in der uns Göthe immer das Gemüth schildert; und wenn er Leidenschaften hervorruft, so erheben sie sich, gleich Wellen auf dem unendlichen Meere, auf einem so zubereiteten Grunde und lagern sich wieder auf die klare, nirgends umgränzte, in allen ihren Punkten leicht bewegliche Fläche. Dadurch unterscheidet er sich von den neueren Dichtern andrer Nationen, die durchaus mehr Leidenschaft, als Seele mahlen, mehr Heftigkeit und Feuer, als Innigkeit und Wärme besitzen, und dadurch tritt er wieder dem schönen Gleichgewicht, der stillen Harmonie der Alten näher.

Dieser zwiefache Gegensatz vollendet, man kann es mit stolzer Freude behaupten, seinen Deutschen Charakter. Denn eine sichtbare Neigung zur abgesonderten Beschäftigung des Geistes und des Herzens und ein stärkerer Hang nach Wahrheit und Innigkeit in beiden, als nach in die Augen fallendem Glanz und leidenschaftlicher Heftigkeit sind Hauptzüge der Eigenthümlichkeit unsrer Nation, welche ihre besten philosophischen und dichterischen Producte unverkennbar an sich tragen und durch die, wenn das Genie des Künstlers hinzukommt, seine Werke zugleich einen reichhaltigeren Stoff und eine grössere innere Festigkeit erlangen.

Wenn wir indess hier diesem Gedicht und der neueren[240] Poesie überhaupt etwas zuschreiben, was sie vor der älteren auszeichnet; so ist diess kein Vorzug, der das Wesen der Kunst angeht. In diesem bleiben die Alten immer die Meister und werden nie auch nur erreicht, viel weniger übertroffen werden. Das eigenthümliche Verdienst, von dem wir hier reden, ist nur, die Bahn eröfnet zu haben, den ganzen Reichthum an Gedanken und Empfindungsgehalt der neueren Zeit in das ächt künstlerische Gewand zu kleiden, das man sonst nur bei ihnen antrift.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 239-241.
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