XLVII

Einfluss der geschilderten Eigenthümlichkeit des Gedichts auf die Totalwirkung desselben

[241] Auf Darstellung, auf Darstellung durch die Einbildungskraft, auf Darstellung des ganzen Menschen in seiner äussern Gestalt und seinem innern Wesen geht unser Dichter aus und diesen Zweck erreicht er in einem bewundernswürdigen Grade. Er ist nie bemüht, unsre Phantasie absichtlich weder zu ergötzen noch zu spannen noch überhaupt auf diese oder jene Weise zu bewegen; er hat ein wahres und eigentliches, ein grosses und unermessliches Geschäft, das alle seine Kräfte, seine ganze Energie an sich reisst – die Menschheit und die Natur, die seinem künstlerischen Blick einmal nicht anders, als durchaus dichterisch geformt erscheint, auch uns wieder in derselben Gestalt zu zeigen.

Dadurch weckt er zuerst und hauptsächlich unsern bildenden Sinn; wir suchen und finden überall Festigkeit, Ordnung, Zusammenhang; wir schaffen uns eine durchaus übereinstimmende, durchaus organisirte Natur; die äussern Formen, die wir vor uns erblicken, haben vollkommne Anschaulichkeit, die innern durchgängige Wahrheit; überall erhebt sich die Begeisterung unsrer Einbildungskraft und unsers Gefühls von einem fest zubereiteten Grunde. Nirgends ist etwas Verwirrtes oder Ueberspanntes; alles ist vollkommen klar und natürlich.

Aber es ist auch noch mehr. Die Hauptwirkung jedes[241] Kunstwerks beruht auf der Verbindung seiner Gestalt mit seinem Charakter. Gerade darin liegt am meisten dasjenige, was sich niemals aussprechen oder erklären lässt, weil es allein von dem einfachen Gedanken abhängt, den der Künstler auf eine unbegreifliche Weise seinem Werk einprägt und dadurch zugleich auf uns hinüberträgt. Dass nun in unsrem Gedicht die äussern und inneren Formen so eng auf einander passen, dass sie sich gerade gegenseitig nur bekleiden und erfüllen, dadurch wird der Charakter desselben in dem reinsten und vollsten Sinne, reiner als bei andern modernen und voller als bei den alten Dichtern: Einfachheit, Wahrheit und Natur. Das menschliche Gemüth ist darin in einer gewissen Nacktheit dargelegt, wodurch es auf eine innigere und rührendere Weise auf uns einwirkt, als wir es bei irgend einem anderen Dichter erfahren.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 241-242.
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