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XXXII

Die Wirkung des Mädchens auf den Jüngling ist nicht in einer unbestimmten Grösse, sondern in dem bestimmten Begriff der vollkommnen Angemessenheit beider Naturen gezeichnet

[197] Wenn wir hier einen Augenblick bei dem Eindruck verweilten, den Herrmanns Schilderung macht, so entfernten wir uns darum nicht von Dorotheen. Denn dieser Eindruck, die heftige Bewegung, die sie in dem Herzen des Jünglings hervorgebracht hat, und die furchtbaren Folgen, die diess einen Augenblick auf die Ruhe und das Glück einer Familie zu haben droht, die uns werth geworden ist, sind zusammengenommen das kräftigste Mittel, ihr Wesen und ihre Gestalt selbst (da beides hier immer Hand in Hand geht) mächtig herauszuheben. Es wäre überflüssig, diess einzeln auszuführen. Man erlaube mir nur auch hier, an die im Vorigen gemachte Bemerkung zu erinnern, dass der Dichter, wie überall, so auch hier, um der höchsten und poetischsten Wirkung gewiss zu seyn, nie das Glänzendste und Kühnste, sondern immer das Kräftigste und Gehaltvollste ausgewählt hat.

Herrmann ist auf einmal aus allen gewohnten Gleisen[197] seines Lebens herausgeworfen; das Erste, nach welchem er fasst, als er den engen Kreis seines bisherigen Lebens verlasse, ist auch das Höchste: das Schicksal seines Vaterlandes, seiner Nation, der Welt; es ist ihm zuwider, noch ferner unthätig zu seyn, er will wirken; er fühlt, dass es vergeblich seyn wird, aber sein Leben soll auch vergebens dahingehn.

Eine natürliche Wirkung der heftigen Leidenschaft. Sobald das bisherige Leben einmal unschmackhaft geworden ist, kann eine kräftige Natur nichts andres, als das gerade Gegentheil wollen; sie darf nicht einmal ihrer Thätigkeit einen andren, als einen unglücklichen Erfolg wünschen. Sich vergeblich aufzureiben, ist das Streben aller Verzweiflung. Sogar der Selbstmörder, der den Faden seines Lebens in diesem Zustand abschneidet, thut es nicht, um eines Daseyns los zu werden, dessen er müde ist, sondern um Kräfte, die etwas wirken könnten und die das Schicksal nun einmal nicht nach seiner Weise wirken lassen will, nun auch absichtlich umsonst wegzuwerfen. Solche Verzweiflung aber erregt bloss die Unmöglichkeit, dasjenige zu erreichen, was uns durchaus gemäss ist. Sobald diess nicht der Fall ist, giebt uns das Entbehren dessen, was wir umsonst zu besitzen wünschen, wohl eine andere Richtung, aber schleudert uns nicht in das gerade Gegentheil hin. Diess ist Ein Punkt.

Ein zweiter ist folgender. Herrmann geht mit seiner Mutter zum Vater, dessen Einwilligung zur Verbindung mit Dorotheen zu suchen. Wie er die Worte ausgesprochen hat:


die gebt mir, Vater; mein Herz hat

Rein und sicher gewählt;


erkennt auch der Geistliche, dass diese Worte in einem Augenblick gesagt sind, der besser, als alle Berathung über das Leben und das Geschick des Menschen entscheidet. Was wir nur wünschen, worüber wir rathschlagen, dessen können wir noch entbehren. Was uns unentbehrlich und nothwendig ist, was unsre Natur unmittelbar fordert, das spricht ein einziger Augenblick aus. Ein solcher ist jetzt für Herrmann gekommen.[198]

Aber bei ihm kann man (und diess ist der dritte Punkt) noch sicherer seyn; was er begehrt, das ist ihm gemäss und das hält er fest.

Wenn es uns gelungen ist, den Leser durch die bisherigen Betrachtungen auf den rechten Standpunkt zu führen, den Charakter dieses Gedichts treu und wahr aufzufassen; so muss derselbe bereits fühlen, dass unser Dichter nie unbestimmt nach dem Grossen, Starken, Erhabenen, sondern immer nach dem Vollkommnen und Vollendeten strebt, dass er nicht auf die Erreichung eines hohen Grades, sondern des Absoluten ausgeht. Diess beweist, mehr als eine andre, die hier ausgehobene Stelle.

Ein anderer Dichter hätte sich begnügt, die Treflichkeit des Mädchens in der blossen Stärke der Wirkung zu schildern, die es auf den Jüngling gemacht hat, und diess Mittel wäre auf keine Weise verwerflich gewesen. Der unsrige thut zugleich weniger und mehr. Er scheint anfangs wenig darum bekümmert, den Eindruck zu mahlen, den Herrmann erfahren hat; er lässt ihn in seiner Erzählung keinen Augenblick aus seinem ruhigen, einfachen, beschreibenden Ton herausgehen; aber er führt die Umstände so, dass er unwiderstehlich darthut, dass Dorothea ganz und gar und nur sie dem Wesen des Jünglings angemessen ist, dass sie sein werden muss und dass er aus seiner ganzen Natur herausgehoben ist, wenn er sie nicht besitzt.

Wie viele Vortheile gewinnt er nun auf einmal! Alles, wodurch Herrmanns Charakter überhaupt geschildert ist, wirkt nun auf diesen einzigen Moment und dieser wieder darauf zurück. Dorothea erscheint nicht bloss in einer unbestimmten Grösse, in einer Wirkung, aus der sich der Gegenstand, der sie hervorgebracht hat, immer nur schwankend erkennen lässt; sie steht in den bestimmtesten Umrissen da. Denn wir kennen Herrmann, und sie ist das Mädchen, das ein solcher Jüngling bedarf. Dadurch ist sie zugleich gerade in der Gattung von Treflichkeit gezeichnet, die am besten zu dem Geist des ganzen Gedichts passt: als eine reine, kräftige, sichre Natur – als die zuverlässige Gattin Herrmanns. Mit wie starken und lebendigen Farben[199] der Dichter die Leidenschaft Herrmanns gemahlt hätte, so würde er nie das erreicht haben, was er jetzt erlangt; wenigstens hätte er es nicht als epischer Dichter erreicht. Denn wenn der lyrische das, was über alle Wirklichkeit erhaben ist, als das letzte Ziel aller Kunst, oft nur durch ein Aufsteigen zu immer höheren Graden in der Unendlichkeit aufsuchen darf, so muss der epische es immer in der Totalität eines geschlossenen Kreises zu finden verstehn.

Aber nachdem der Dichter die Umrisse seiner beiden Hauptfiguren so bestimmt gezeichnet, sie uns so fest eingeprägt, unser Herz so innig für sie erwärmt hat, giebt er auf einmal unsrer Einbildungskraft einen kühneren Schwung, versetzt er den Gegenstand, der uns, noch immer abwesend, so einzig beschäftigt, plötzlich wie in höhere Sphären.


O, mein Vater,

ruft Herrmann aus,

sie ist nicht hergelaufen, das Mädchen,

Keine, die durch das Land auf Abenteuer umherschweift

Und den Jüngling bestrickt, den unerfahrnen, mit Ränken.

Nein; das wilde Geschick des allverderblichen Krieges,

Das die Welt zerstört und manches feste Gebäude

Schon aus dem Grunde gehoben, hat auch die Arme vertrieben.

Streifen nicht herrliche Männer von hoher Geburt nun im Elend?

Fürsten fliehen vermummt, und Könige leben verbannet.


Das Schicksal der Welt knüpft sich nun an das ihrige an und leiht ihr einen neuen befremdenden Glanz.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 197-200.
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