Erster Teil. Vom Dienst Gottes in einer Religion überhaupt

[822] Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.58 Diejenige, in welcher ich vorher wissen muß, daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen, ist die geoffenbarte (oder einer Offenbarung benötigte) Religion: dagegen diejenige, in der ich zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann, ist die natürliche Religion. – Der, welcher bloß die natürliche Religion für moralischnotwendig, d.i. für Pflicht erklärt, kann auch der Rationalist (in Glaubenssachen) genannt werden. Wenn dieser die Wirklichkeit aller übernatürlichen göttlichen Offenbarung verneint, so heißt er Naturalist; läßt er nun diese zwar zu, behauptet aber, daß sie zu kennen und für wirklich anzunehmen zur Religion nicht notwendig erfordert wird, so würde er ein reiner Rationalist[822] genannt werden können; hält er aber den Glauben an dieselbe zur allgemeinen Religion für notwendig, so würde er der reine Supernaturalist in Glaubenssachen heißen können.

Der Rationalist muß sich, vermöge dieses seines Titels, von selbst schon innerhalb der Schranken der menschlichen Einsicht halten. Daher wird er nie als Naturalist absprechen, und weder die innere Möglichkeit der Offenbarung überhaupt, noch die Notwendigkeit einer Offenbarung als eines göttlichen Mittels zur Introduktion der wahren Religion bestreiten; denn hierüber kann kein Mensch durch Vernunft etwas ausmachen. Also kann die Streitfrage nur die wechselseitigen Ansprüche des reinen Rationalisten und des Supernaturalisten in Glaubenssachen, oder dasjenige betreffen, was der eine oder der andere, als zur alleinigen wahren Religion notwendig, und hinlänglich, oder nur als zufällig an ihr annimmt.

Wenn man die Religion nicht nach ihrem ersten Ursprunge und ihrer innern Möglichkeit (da sie in natürliche und geoffenbarte eingeteilt wird), sondern bloß nach Beschaffenheit derselben, die sie der äußern Mitteilung[823] fähig macht, einteilt, so kann sie von zweierlei Art sein: entweder die natürliche, von der (wenn sie einmal da ist) jedermann durch seine Vernunft überzeugt werden kann, oder eine gelehrte Religion, von der man andere nur vermittelst der Gelehrsamkeit (in und durch welche sie geleitet werden müssen) überzeugen kann. – Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, denn man kann aus dem Ursprunge einer Religion allein auf ihre Tauglichkeit oder Untauglichkeit, eine allgemeine Menschenreligion zu sein, nichts folgern, wohl aber aus ihrer Beschaffenheit, allgemein mitteilbar zu sein, oder nicht; die erstere Eigenschaft aber macht den wesentlichen Charakter derjenigen Religion aus, die jeden Menschen verbinden soll.

Es kann demnach eine Religion die natürliche, gleichwohl aber auch geoffenbart sein, wenn sie so beschaffen ist, daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können, und sollen, ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden, mithin eine Offenbarung derselben, zu einer gewissen Zeit, und an einem gewissen Ort, weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein konnte, so doch, daß, wenn die dadurch eingeführte Religion einmal da ist, und öffentlich bekannt gemacht worden, forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann. In diesem Falle ist die Religion objektiv eine natürliche, obwohl subjektiv eine geoffenbarte; weshalb ihr auch der erstere Namen eigentlich gebührt. Denn es könnte in der Folge allenfalls gänzlich in Vergessenheit kommen, daß eine solche übernatürliche Offenbarung je vorgegangen sei, ohne daß dabei jene Religion doch das mindeste weder an ihrer Faßlichkeit, noch an Gewißheit, noch an ihrer Kraft über die Gemüter verlöre. Mit der Religion aber, die ihrer innern Beschaffenheit wegen nur als geoffenbart angesehen werden kann, ist es anders bewandt. Wenn sie nicht in einer ganz sichern Tradition oder in heiligen Büchern als Urkunden aufbehalten würde, so würde sie aus der Welt verschwinden, und es[824] müßte entweder eine von Zeit zu Zeit öffentlich wiederholte, oder in jedem Menschen innerlich eine kontinuierlich fortdauernde übernatürliche Offenbarung vorgehen, ohne welche die Ausbreitung und Fortpflanzung eines solchen Glaubens nicht möglich sein würde.

Aber einem Teile nach wenigstens muß jede, selbst die geoffenbarte Religion doch auch gewisse Prinzipien der natürlichen enthalten. Denn Offenbarung kann zum Begriff einer Religion nur durch die Vernunft hinzugedacht werden; weil dieser Begriff selbst, als von einer Verbindlichkeit unter dem Willen eines moralischen Gesetzgebers abgeleitet, ein reiner Vernunftbegriff ist. Also werden wir selbst eine geoffenbarte Religion einerseits noch als natürliche, andererseits aber als gelehrte Religion betrachten, prüfen, und, was, oder wie viel ihr von der einen oder der andern Quelle zustehe, unterscheiden können.

Es läßt sich aber, wenn wir von einer geoffenbarten (wenigstens einer dafür angenommenen) Religion zu reden die Absicht haben, dieses nicht wohl tun, ohne irgend ein Beispiel davon aus der Geschichte herzunehmen, weil wir uns doch Fälle als Beispiele erdenken müßten, um verständlich zu werden, welcher Fälle Möglichkeit uns aber sonst bestritten werden könnte. Wir können aber nicht besser tun, als irgend ein Buch, welches dergleichen enthält, vornehmlich ein solches, welches mit sittlichen, folglich mit vernunftverwandten Lehren innigst verwebt ist, zum Zwischenmittel der Erläuterungen unserer Idee einer geoffenbarten Religion überhaupt zur Hand zu nehmen, welches wir dann, als eines von den mancherlei Büchern, die von Religion und Tugend unter dem Kredit einer Offenbarung handeln, zum Beispiele des an sich nützlichen Verfahrens, das, was uns darin reine, mithin allgemeine Vernunftreligion sein mag, herauszusuchen, vor uns nehmen, ohne dabei in das Geschäfte derer, denen die Auslegung desselben Buchs als Inbegriffs positiver Offenbarungslehren anvertraut ist, einzugreifen, und ihre Auslegung, die sich auf Gelehrsamkeit gründet, dadurch anfechten zu wollen. Es ist der letzteren[825] vielmehr vorteilhaft, da sie mit den Philosophen auf einen und denselben Zweck, nämlich das Moralischgute ausgeht, diese durch ihre eigene Vernunftgründe eben dahin zu bringen, wohin sie auf einem andern Wege selbst zu gelangen denkt. – Dieses Buch mag nun hier das N. T., als Quelle der christlichen Glaubenslehre sein. Unserer Absicht zufolge wollen wir nun in zwei Abschnitten erstlich die christliche Religion als natürliche, und dann zweitens als gelehrte Religion nach ihrem Inhalte und nach den darin vorkommenden Prinzipien vorstellig machen.

58

Durch diese Definition wird mancher fehlerhaften Deutung des Begriffs einer Religion überhaupt vorgebeugt. Erstlich: daß in ihr, was das theoretische Erkenntnis und Bekenntnis betrifft, kein assertorisches Wissen (selbst des Daseins Gottes nicht) gefordert wird, weil bei dem Mangel unserer Einsicht übersinnlicher Gegenstände dieses Bekenntnisses schon geheuchelt sein könnte; sondern nur ein der Spekulation nach über die oberste Ursache der Dinge problematisches Annehmen (Hypothesis), in Ansehung des Gegenstandes aber, wohin uns unsere moralisch-gebietende Vernunft zu wirken anweiset, ein dieser ihrer Endabsicht Effekt verheißendes praktisches, mithin freies assertorisches Glauben vorausgesetzt wird, welches nur der Idee von Gott, auf die alle moralische ernstliche (und darum gläubige) Bearbeitung zum Guten unvermeidlich geraten muß, bedarf, ohne sich anzumaßen, ihr durch theoretische Erkenntnis die objektive Realität sichern zu können. Zu dem, was jedem Menschen zur Pflicht gemacht werden kann, muß das Minimum der Erkenntnis (es ist möglich, daß ein Gott sei) subjektiv schon hinreichend sein. Zweitens wird durch diese Definition einer Religion überhaupt der irrigen Vorstellung, als sei sie ein Inbegriff besonderer auf Gott unmittelbar bezogenen Pflichten, vorgebeugt, und dadurch verhütet, daß wir nicht (wie dazu Menschen ohnedem sehr geneigt sein) außer den ethischbürgerlichen Menschenpflichten (von Menschen gegen Menschen) noch Hofdienste annehmen, und hernach wohl gar die Ermangelung in Ansehung der ersteren durch die letztere gut zu machen suchen. Es gibt keine besondere Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf und für ihn nicht wirken. Wollte man die schuldige Ehrfurcht gegen ihn zu einer solchen Pflicht machen, so bedenkt man nicht, daß diese nicht eine besondere Handlung der Religion, sondern die religiöse Gesinnung bei allen unsern pflichtmäßigen Handlungen überhaupt sei. Wenn es auch heißt: »man soll Gott mehr gehorchen, als den Menschen«, so bedeutet das nichts anders, als: wenn statutarische Gebote, in Ansehung deren Menschen Gesetzgeber und Richter sein können, mit Pflichten, die die Vernunft unbedingt vorschreibt, und über deren Befolgung oder Übertretung Gott allein Richter sein kann, in Streit kommen, so muß jener ihr Ansehn diesen weichen. Wollte man aber unter dem, worin Gott mehr als dem Menschen gehorcht werden muß, die statutarischen von einer Kirche dafür ausgegebenen Gebote Gottes verstehen: so würde jener Grundsatz leichtlich das mehrmalen gehörte Feldgeschrei heuchlerischer und herrschsüchtiger Pfaffen zum Aufruhr wider ihre bürgerliche Obrigkeit werden können. Denn das Erlaubte, was die letztere gebietet, ist gewiß Pflicht: ob aber etwas zwar an sich Erlaubtes, aber nur durch göttliche Offenbarung für uns Erkennbares wirklich von Gott geboten sei, ist (wenigstens größtenteils) höchst ungewiß.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 822-826.
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