Der Antinomie der reinen Vernunft
vierter Widerstreit der transzendentalen Ideen
Thesis

[434] Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Teil, oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist.


Beweis

Die Sinnenwelt, als das Ganze aller Erscheinungen, enthält zugleich eine Reihe von Veränderungen. Denn, ohne diese, würde selbst die Vorstellung der Zeitreihe, als einer Bedingung der Möglichkeit der Sinnenwelt, uns nicht gegeben sein.50 Eine jede Veränderung aber steht unter ihrer Bedingung, die der Zeit nach vorhergeht, und unter welcher sie notwendig ist. Nun setzt ein jedes Bedingte, das gegeben ist, in Ansehung seiner Existenz, eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten voraus, welches allein absolutnotwendig ist. Also muß etwas Absolutnotwendiges existieren, wenn eine Veränderung als seine Folge existiert. Dieses Notwendige aber gehöret selber zur Sinnenwelt. Denn setzet, es sei außer derselben, so würde von ihm die Reihe der Weltveränderungen ihren Anfang ableiten, ohne daß doch diese notwendige Ursache selbst zur Sinnenwelt gehörete. Nun ist dieses unmöglich. Denn, da der Anfang einer Zeitreihe nur durch dasjenige, was der Zeit nach vorhergeht, bestimmt werden kann: so muß die oberste Bedingung des Anfangs einer Reihe von Veränderungen in der Zeit existieren, da diese noch nicht war (denn der Anfang ist ein Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht, darin das Ding, welches anfängt, noch nicht war). Also gehöret die Kausalität der notwendigen Ursache der Veränderungen, mithin auch die Ursache selbst, zu der Zeit, mithin zur Erscheinung (an welcher die Zeit allein als derenForm möglich ist), folglich kann sie von der Sinnenwelt, als dem Inbegriff aller Erscheinungen, nicht abgesondert gedacht werden. Also ist in der Welt selbst etwas Schlechthinnotwendiges enthalten (es mag nun dieses die ganze Weltreihe selbst, oder ein Teil derselben sein).




Anmerkung zur vierten Antinomie
I. zur Thesis

Um das Dasein eines notwendigen Wesens zu beweisen, liegt mir hier ob, kein anderes als kosmologisches Argument zu brauchen, welches nämlich von dem Bedingten in der Erscheinung zum Unbedingten im Begriffe aufsteigt, indem man dieses als die notwendige Bedingung der absoluten Totalität der Reihe ansieht. Den Beweis, aus der bloßen Idee eines obersten aller Wesen überhaupt, zu versuchen, gehört zu einem andern Prinzip der Vernunft, und ein solcher wird daher besonders vorkommen müssen.

Der reine kosmologische Beweis kann nun das Dasein eines notwendigen Wesens nicht anders dartun, als daß er es zugleich unausgemacht lasse, ob dasselbe die Welt selbst, oder ein von ihr unterschiedenes Ding sei. Denn, um das letztere auszumitteln, dazu werden Grundsätze erfordert, die nicht mehr kosmologisch sind, und nicht in der Reihe der Erscheinungen fortgehen, sondern Begriffe von zufälligen Wesen überhaupt (so fern sie bloß als Gegenstände des Verstandes erwogen werden), und ein Prinzip, solche mit einem notwendigen Wesen, durch bloße Begriffe, zu verknüpfen, welches alles für eine transzendente Philosophie gehört, für welche hier noch nicht der Platz ist.

Wenn man aber einmal den Beweis kosmologisch anfängt, indem man die Reihe von Erscheinungen, und den Regressus in derselben nach empirischen Gesetzen der Kausalität, zum Grunde legt: so kann man nachher davon nicht abspringen und auf etwas übergehen, was gar nicht in die Reihe als ein Glied gehört. Denn in eben derselben Bedeutung muß etwas als Bedingung angesehen werden, in welcher die Relation des Bedingten zu seiner Bedingung inder Reihe genommen wurde, die auf diese höchste Bedingung in kontinuierlichen Fortschritte führen sollte. Ist nun dieses Verhältnis sinnlich und gehört zum möglichen empirischen Verstandesgebrauch, so kann die oberste Bedingung oder Ursache nur nach Gesetzen der Sinnlichkeit, mithin nur als zur Zeitreihe gehörig den Regressus beschließen, und das notwendige Wesen muß als das oberste Glied der Weltreihe angesehen werden.

Gleichwohl hat man sich die Freiheit genommen, einen solchen Absprung (metabasis eis allo genos) zu tun. Man schloß nämlich aus den Veränderungen in der Welt auf die empirische Zufälligkeit, d.i. die Abhängigkeit derselben von empirischbestimmenden Ursachen, und bekam eine aufsteigende Reihe empirischer Bedingungen, welches auch ganz recht war. Da man aber hierin keinen ersten Anfang und kein oberstes Glied finden konnte, so ging man plötzlich vom empirischen Begriff der Zufälligkeit ab und nahm die reine Kategorie, welche alsdenn eine bloß intelligibele Reihe veranlaßte, deren Vollständigkeit auf dem Dasein einer schlechthinnotwendigen Ursache beruhete, die nunmehr, da sie an keine sinnliche Bedingungen gebunden war, auch von der Zeitbedingung, ihre Kausalität selbst anzufangen, befreiet wurde. Dieses Verfahren ist aber ganz widerrechtlich, wie man aus Folgendem schließen kann.

Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist. Nun kann man aus der empirischen Zufälligkeit auf jene intelligibele gar nicht schließen. Was verändert wird, dessen Gegenteil (seines Zustandes) ist zu einer andern Zeit wirklich, mithin auch möglich; mithin ist dieses nicht das kontradiktorische Gegenteil des vorigen Zustandes, wozu erfodert wird, daß in derselben Zeit, da der vorige Zustand war, an der Stelle desselben sein Gegenteil hätte sein können, welches aus der Veränderung gar nicht geschlossen werden kann. Ein Körper, der in Bewegung war = A, kömmt in Ruhe = non A. Daraus nun, daß ein entgegengesetzter Zustand vom Zustande A auf diesen folgt, kann gar nicht geschlossen werden,daß das kontradiktorische Gegenteil von A möglich, mithin A zufällig sei; denn dazu würde erfordert werden, daß in derselben Zeit, da die Bewegung war, anstatt derselben die Ruhe habe sein können. Nun wissen wir nichts weiter, als daß die Ruhe in der folgenden Zeit wirklich, mithin auch möglich war. Bewegung aber zu einer Zeit, und Ruhe zu einer andern Zeit, sind einander nicht kontradiktorisch entgegengesetzt. Also beweiset die Sukzession entgegengesetzter Bestimmungen, d.i. die Veränderung, keinesweges die Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes, und kann also auch nicht auf das Dasein eines notwendigen Wesens, nach reinen Verstandesbegriffen, führen. Die Veränderung beweiset nur die empirische Zufälligkeit, d.i. daß der neue Zustand für sich selbst, ohne eine Ursache, die zur vorigen Zeit gehört, gar nicht hätte stattfinden können, zu Folge dem Gesetze der Kausalität. Diese Ursache, und wenn sie auch als schlechthin notwendig angenommen wird, muß auf diese Art doch in der Zeit angetroffen werden, und zur Reihe der Erscheinungen gehören.[440]


Antithesis

Es existiert überall kein schlechthinnotwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache.


Beweis

Setzet: die Welt selber, oder in ihr, sei ein notwendiges Wesen, so würde, in der Reihe ihrer Veränderungen, entweder ein Anfang sein, der unbedingtnotwendig, mithin ohne Ursache wäre, welches dem dynamischen Gesetze der Bestimmung aller Erscheinungen in der Zeit widerstreitet; oder die Reihe selbst wäre ohne allen Anfang, und, obgleich in allen ihren Teilen zufällig und bedingt, im Ganzen dennoch schlechthinnotwendig und unbedingt, welches sich selbst widerspricht, weil das Dasein einer Menge nicht notwendig sein kann, wenn kein einziger Teil derselben ein an sich notwendiges Dasein besitzt.

Setzet dagegen: es gebe eine schlechthin notwendige Weltursache außer der Welt, so würde dieselbe, als das oberste Glied in der Reihe der Ursachen der Weltveränderungen, das Dasein der letzteren und ihre Reihe zuerst anfangen51. Nun müßte sie aber alsdenn auch anfangen zu handeln, und ihre Kausalität würde in die Zeit, eben darum aber in den Inbegriff der Erscheinungen, d.i. in die Welt gehören, folglich sie selbst, die Ursache, nicht außer der Welt sein, welches der Voraussetzung widerspricht. Also ist weder in der Welt, noch außer derselben (aber mit ihr in Kausalverbindung) irgend ein schlechthin notwendiges Wesen.
[435]

II. Anmerkung zur Antithesis

Wenn man, beim Aufsteigen in der Reihe der Erscheinungen, wider das Dasein einer schlechthin notwendigen obersten Ursache, Schwierigkeiten anzutreffen vermeint, so müssen sich diese auch nicht auf bloße Begriffe vom notwendigen Dasein eines Dinges überhaupt gründen, und mithin nicht ontologisch sein, sondern sich aus der Kausalverbindung mit einer Reihe von Erscheinungen, um zu derselben eine Bedingung anzunehmen, die selbst unbedingt ist, hervor finden, folglich kosmologisch und nach empirischen Gesetzen gefolgert sein. Es muß sich nämlich zeigen, daß das Aufsteigen in der Reihe der Ursachen (in der Sinnenwelt) niemals bei einer empirisch unbedingten Bedingung endigen könne, und daß das kosmologische Argument aus der Zufälligkeit der Weltzustände, laut ihrer Veränderungen, wider die Annehmung einer ersten und die Reihe schlechthin zuerst anhebenden Ursache ausfalle.

Es zeiget sich aber in dieser Antinomie ein seltsamer Kontrast: daß nämlich aus eben demselben Beweisgrunde, woraus in der Thesis das Dasein eines Urwesens geschlossen wurde, in der Antithesis das Nichtsein desselben, und zwar mit derselben Schärfe, geschlossen wird. Erst hieß es: es ist ein notwendiges Wesen, weil die ganze vergangene Zeit die Reihe aller Bedingungen und hiemit also auch das Unbedingte (Notwendige) in sich faßt. Nun heißt es: es ist kein notwendiges Wesen, eben darum, weil die ganze verflossene Zeit die Reihe aller Bedingungen (die mithin insgesamt wiederum bedingt sind) in sich faßt. Die Ursache hievon ist diese. Das erste Argument siehet nur auf die absolute Totalität der Reihe der Bedingungen, dereneine die andere in der Zeit bestimmt, und bekommt dadurch ein Unbedingtes und Notwendiges. Das zweite zieht dagegen die Zufälligkeit alles dessen, was in der Zeitreihe bestimmt ist, in Betrachtung (weil vor jedem eine Zeit vorhergeht, darin die Bedingung selbst wiederum als bedingt bestimmt sein muß), wodurch denn alles Unbedingte, und alle absolute Notwendigkeit, gänzlich wegfällt. Indessen ist die Schlußart, in beiden, selbst der gemeinen Menschenvernunft ganz angemessen, welche mehrmalen in den Fall gerät, sich mit sich selbst zu entzweien, nachdem sie ihren Gegenstand aus zwei verschiedenen Standpunkten erwägt. Herr von Mairan hielt den Streit zweier berühmter Astronomen, der aus einer ähnlichen Schwierigkeit über die Wahl des Standpunkts entsprang, für ein genugsam merkwürdiges Phänomen, um darüber eine besondere Abhandlung abzufassen. Der eine schloß nämlich so: der Mond drehet sich um seine Achse, darum, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt; der andere: der Mond drehet sich nicht um seine Achse, eben darum, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt. Beide Schlüsse waren richtig, nachdem man den Standpunkt nahm, aus dem man die Mondsbewegung beobachten wollte.[439]

50

Die Zeit geht zwar als formale Bedingung der Möglichkeit der Veränderungen vor dieser objektiv vorher, allein subjektiv, und in der Wirklichkeit des Bewußtseins, ist diese Vorstellung doch nur, so wie jede andere, durch Veranlassung der Wahrnehmungen gegeben.

51

Das Wort: Anfangen, wird in zwiefacher Bedeutung genommen. Die erste ist aktiv, da die Ursache eine Reihe von Zuständen als ihre Wirkung anfängt (infit). Die zweite passiv, da die Kausalität in der Ursache selbst anhebt (fit). Ich schließe hier aus der ersteren auf die letzte.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 4, Frankfurt am Main 1977, S. 434-441.
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