Der Antinomie der reinen Vernunft neunter Abschnitt
Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft, in Ansehung aller kosmologischen Ideen

[477] Da es, wie wir mehrmalen gezeigt haben, keinen transzendentalen Gebrauch, so wenig von reinen Verstandes- als Vernunftbegriffen gibt, da die absolute Totalität der Reihen der Bedingungen in der Sinnenwelt sich lediglich auf einen transzendentalen Gebrauch der Vernunft fußet, welche diese unbedingte Vollständigkeit von demjenigen fodert, was sie als Ding an sich selbst voraussetzt; da die Sinnenwelt aber dergleichen nicht enthält: so kann die Rede niemals mehr von der absoluten Größe der Reihen in derselben sein, ob sie begrenzt, oder an sich unbegrenzt sein mögen, sondern nur, wie weit wir im empirischen Regressus, bei Zurückführung der Erfahrung auf ihre Bedingungen, zurückgehen sollen, um nach der Regel der Vernunft bei keiner andern, als dem Gegenstande angemessenen Beantwortung der Fragen derselben stehen zu bleiben.

Es ist also nur die Gültigkeit des Vernunftprinzips. als einer Regel der Fortsetzung und Größe einer möglichen Erfahrung, die uns allein übrig bleibt, nachdem seine Ungültigkeit, als eines konstitutiven Grundsatzes der Erscheinungen an sich selbst, hinlänglich dargetan worden. Auch wird, wenn wir jene ungezweifelt vor Augen legen können, der Streit der Vernunft mit sich selbst völlig geendigt, indem nicht allein durch kritische Auflösung der Schein, der sie mit sich entzweiete, aufgehoben worden, sondern an dessen Statt der Sinn, in welchem sie mit sich selbst zusammenstimmt und dessen Mißdeutung allein den Streit veranlaßte, aufgeschlossen, und ein sonst dialektischer Grundsatz in einen doktrinalen verwandelt wird. In der Tat, wenn dieser, seiner subjektiven Bedeutung nach, den größtmöglichen Verstandesgebrauch in der Erfahrung den Gegenständen derselben angemessen zu bestimmen, bewähret[477] werden kann: so ist es gerade eben so viel, als ob er wie ein Axiom (welches aus reiner Vernunft unmöglich ist) die Gegenstände an sich selbst a priori bestimmete; denn auch dieses könnte in Ansehung der Objekte der Erfahrung keinen größeren Einfluß auf die Erweiterung und Berichtigung unserer Erkenntnis haben, als daß es sich in dem ausgebreitetsten Erfahrungsgebrauche unseres Verstandes tätig bewiese.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 4, Frankfurt am Main 1977, S. 477-478.
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