Schlußanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft

[510] So lange wir mit unseren Vernunftbegriffen bloß die Totalität der Bedingungen in der Sinnenwelt, und was in Ansehung ihrer der Vernunft zu Diensten geschehen kann, zum Gegenstande haben: so sind unsere Ideen zwar transzendental, aber doch kosmologisch. So bald wir aber das Unbedingte (um das es doch eigentlich zu tun ist) in demjenigen setzen, was ganz außerhalb der Sinnenwelt, mithin außer[510] aller möglichen Erfahrung ist, so werden die Ideen transzendent; sie dienen nicht bloß zur Vollendung des empirischen Vernunftgebrauchs (der immer eine nie auszuführende, aber dennoch zu befolgende Idee bleibt), sondern sie trennen sich davon gänzlich, und machen sich selbst Gegenstände, deren Stoff nicht aus Erfahrung genommen, deren objektive Realität auch nicht auf der Vollendung der empirischen Reihe, sondern auf reinen Begriffen a priori beruht. Dergleichen transzendente Ideen haben einen bloß intelligibelen Gegenstand, welchen als ein transzendentales Objekt, von dem man übrigens nichts weiß, zuzulassen, allerdings erlaubt ist, wozu aber, um es als ein durch seine unterscheidende und innere Prädikate bestimmbares Ding zu denken, wir weder Gründe der Möglichkeit (als unabhängig von allen Erfahrungsbegriffen), noch die mindeste Rechtfertigung, einen solchen Gegenstand anzunehmen, auf unserer Seite haben, und welches daher ein bloßes Gedankending ist. Gleichwohl dringt uns, unter allen kosmologischen Ideen, diejenige, so die vierte Antinomie veranlaßte, diesen Schritt zu wagen. Denn das in sich selbst ganz und gar nicht gegründete, sondern stets bedingte, Dasein der Erscheinungen fodert uns auf: uns nach etwas von allen Erscheinungen Unterschiedenem, mithin einem intelligibelen Gegenstande umzusehen, bei welchem diese Zufälligkeit aufhöre. Weil aber, wenn wir uns einmal die Erlaubnis genommen haben, außer dem Felde der gesamten Sinnlichkeit eine vor sich bestehende Wirklichkeit anzunehmen, Erscheinungen nur als zufällige Vorstellungsarten intelligibeler Gegenstände, von solchen Wesen, die selbst Intelligenzen sind, anzusehen: so bleibt uns nichts anders übrig, als die Analogie, nach der wir die Erfahrungsbegriffe nutzen, um uns von intelligibelen Dingen, von denen wir an sich nicht die mindeste Kenntnis haben, doch irgend einigen Begriff zu machen. Weil wir das Zufällige nicht anders als durch Erfahrung kennen lernen, hier aber von Dingen, die gar nicht Gegenstände der Erfahrung sein sollen, die Rede ist,[511] so werden wir ihre Kenntnis aus dem, was an sich notwendig ist, aus reinen Begriffen von Dingen überhaupt, ableiten müssen. Daher nötigt uns der erste Schritt, den wir außer der Sinnenwelt tun, unsere neue Kenntnisse von der Untersuchung des schlechthinnotwendigen Wesens anzufangen, und von den Begriffen desselben die Begriffe von allen Dingen, so fern sie bloß intelligibel sind, abzuleiten, und diesen Versuch wollen wir in dem folgenden Hauptstücke anstellen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 4, Frankfurt am Main 1977, S. 510-512.
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