Die Wechsel-Wirtschaft

Versuch einer sozialen Klugheitslehre

[221] [221] CHREMYLOS.

189. ... hesti pantôn plêsmonê.

190. erôtos,

KARIÔN.

artôn.

CHREMYLOS.

mousikês.

KARIÔN.

tragêmatôn.

CHREMYLOS.

191. timês,

KARIÔN.

plakountôn,

CHREMYLOS.

andragathias,

KARIÔN.

ischadôn.

CHREMYLOS.

192. philotimias,

KARIÔN.

mazês,

CHREMYLOS.

stratêgias,

KARIÔN.

phakês.


Cfr. Aristophanis Plutus v. 189 sqq.
[222]

***


CHREMYLOS.

... an allem bekommt man endlich Überdruß.

An Liebe,

KARION.

Semmel,

CHREMYLOS.

Musenkunst

KARION.

und Zuckerwerk.

CHREMYLOS.

An Ehre,

KARION.

Kuchen,

CHREMYLOS.

Tapferkeit

KARION.

und Feigenschnitt.

CHREMYLOS.

An Ruhm,

KARION.

an Rührei,

CHREMYLOS.

an Kommando,

KARION.

am Gemüse.


Cfr. Aristophanes' Plutos. Droysens Übersetzung.[223]


Von einem Grundsatz ausgehen – behaupten erfahrene Menschen – soll sehr verständig sein. Angenommen! Ich gehe von dem Grundsatz aus, daß alle Menschen langweilig sind. Oder wäre jemand so über alle Maßen langweilig, daß er mir zu widersprechen wagte? Dieser Grundsatz hat nun im allerhöchsten Grade die abstoßende Kraft, die man immer von dem Negativen fordert, das ja im Grunde das Prinzip der Bewegung ist. Es ist nicht nur abstoßend, sondern unendlich abschreckend, und wer diesen Grundsatz hinter sich hat, muß notwendigerweise unendlich viele Entdeckungen machen. Wenn nämlich meine Behauptung wahr ist, so braucht man nur in demselben Grade, in welchem man seinen impetus dämpfen oder beschleunigen will, mehr oder weniger temperiert bei sich selber zu überlegen, wie verderblich die Langeweile für den Menschen ist, und will man die Schnelligkeit der Bewegung fast mit der Kraft einer Lokomotive aufs höchste treiben, so braucht man nur zu sich selber zu sagen: die Langeweile ist eine Wurzel alles Übels. Merkwürdig, daß die Langeweile, die in sich selber ein so ruhiges und gefetztes Wesen ist, mit solcher Kraft andre in Bewegung setzen kann. Ja, sie übt einen wahrhaft magischen Einfluß aus, nur daß sie nicht anzieht, sondern abstößt.

Wie schrecklich die Langeweile ist, das erkennen nun auch die Menschen in ihrem Verhältnis zu den Kindern ganz und voll an. Solange die Kinder sich amüsieren, so lange sind sie stets liebe, artige Kinder, und das meinen wir in ganzem, vollem Ernst; denn werden sie beim Spiel wild und unbändig, so kann man ziemlich sicher annehmen, daß die Langeweile bei ihnen im Anmarsch ist. Wenn man[225] sich daher ein Kindermädchen mietet, so sieht man nicht nur darauf, daß sie nüchtern, treu und ordentlich ist, sondern nimmt auch ästhetische Rücksichten, ob sie die Kinder recht unterhalten kann. Und unbedenklich würde man ein Kindermädchen aus dem Dienst entlassen, wenn sie diese ihre Pflicht nicht erfüllen könnte, und wäre sie sonst auch noch so gut. Hier sieht man ja klar und deutlich, daß das Prinzip anerkannt wird; aber wie seltsam geht es doch in der Welt her: der Dienst eines Kindermädchens ist das einzige Verhältnis, in welchem der Ästhetik ihr Recht wird. Wollte man sich von seiner Frau scheiden, oder einen König absetzen, einen Pfarrer in die Verbannung schicken, einem Minister den Abschied geben, oder über einen Journalisten das Todesurteil sprechen, nur weil sie langweilig, oft rasend langweilig seien, so würde man schwerlich zum Ziele kommen. Was Wunder denn, daß es mit der Welt nicht vorwärts will, und das Böse mehr und mehr um sich greift, da es ja immer langweiliger auf Erden wird und die Langeweile eine Wurzel alles Übels ist. Das kann man von Anfang der Welt her verfolgen. Adam langweilte sich, weil er allein war, deshalb wurde ihm Eva gegeben; darauf langweilten sich Adam und Eva, und Kain und Abel en famille; dann mehrten sich die Menschen, und die Menschen langweilten sich en masse. Um sich zu zerstreuen, wollten sie einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reichte. Dieser Gedanke ist gerade so langweilig wie der Turm hoch war, und ein schrecklicher Beweis dafür, daß die Langeweile schon eine große Macht geworden war. Dann wurden die Menschen über die ganze Erde zerstreut – man reist ja auch heute noch ins Ausland, um sich zu zerstreuen - , aber sie horten nicht auf, sich zu langweilen. Und welche traurigen Folgen hatte nicht diese Langeweile. Der Mensch stand hoch und fiel tief; zuerst durch Eva, dann vom babylonischen Turm.

Was hielt anderseits den Untergang Roms auf? Waren es nicht panis und circenses. Was thut man in unsrer Zeit? Sinnt man auf neue Zerstreuungen? Im Gegenteil, man verkündigt den Untergang der Welt. Man will einen Reichstag berufen. Kann es etwas Langweiligeres geben, sowohl für die Herren Abgeordneten selber, wie für die, welche ihre Reden lesen und hören müssen? Man will[226] die Finanzen des Staates durch Ersparungen verbessern. Kann es etwas Langweiligeres geben? Statt die Schuld zu vermehren, will man sie abzahlen. Wie thöricht! Warum nimmt man nicht eine Staatsanleihe auf, aber nicht um Schulden abzuzahlen, sondern um dem Volke angenehme Zerstreuungen zu verschaffen. Laßt uns das tausendjährige Reich feiern und alle Tage herrlich und in Freuden leben. Überall müßten Teller mit Geld stehen. Alles würde gratis sein; das Theater, der zoologische Garten, das Tivoli u.s.w., und gratis würde man beerdigt. Ich sage absichtlich gratis; denn wenn man immer Geld hat, so ist alles gewissermaßen gratis. Keiner darf einen festen Besitz haben. Nur mit mir muß eine Ausnahme gemacht werden. Ich behalte mir 100 Thaler täglich vor, die auf der Londoner Bank gesichert sein müßten, teils weil ich so viel haben muß, teils weil ich diese Idee angegeben habe, und schließlich, weil man nicht wissen kann, ob mir eine neue Idee einfällt, wenn die Staatsanleihe verbraucht ist.

Was würde geschehen, wenn meine Idee sich realisierte? Alles, was groß und herrlich in der Welt ist, würde nach Kopenhagen strömen; die größten Künstler, die berühmtesten Schauspieler, die Schönsten Tänzerinnen. Kopenhagen würde ein zweites Athen werden. Auch die reichsten Männer der Welt würden sich in unsrer Stadt niederlassen. Es würden z. B, auch der Schah von Persien und der König von England zu uns kommen. Seht da, meine zweite Idee. Man bemächtige sich der Person des Schah! Aber würde dann nicht ein Aufruhr in Persien entstehen und ein neuer Schah den Thron seiner Väter besteigen? Und der alte Schah – würde im Preise sinken. Nun wohl, so verkaufe man ihn an den Türken! Der würde schon Geld aus ihm machen? Dazu kommt noch eins, was unsre Politiker ganz zu übersehen scheinen. In Dänemark ruht das Gleichgewicht Europas. Keine glücklichere Existenz! Ich weiß es aus eigner Erfahrung, da ich einmal die Ehre gehabt habe, das Gleichgewicht einer Familie zu bilden. Ich konnte thun, was ich wollte; nie zog man über mich her, sondern immer über die andern. O möchte meine Stimme zu euch dringen, ihr Männer des Königs und des Volkes, weise und verständige Staatsbürger aller Klassen![227] Seht euch doch vor. Das alte Dänemark geht unter, das ist fatal, es geht an Langeweile zu Gründe, das ist das Allerfatalste. In alten Zeiten wurde derjenige König, der das schönste Lied zu Ehren des Verstorbenen singen konnte; in unsrer Zeit müßte König werden, der den besten Witz machte, und Kronprinz, der die Veranlassung gäbe, daß der hefte Witz gemacht ward.

Alle Menschen sind langweilig. Das Wort selber weist auf die Möglichkeit einer Einteilung hin. Es kann sowohl einen Menschen bezeichnen, der andre langweilt, wie auch einen, der sich selber langweilt; die erstern sind die Plebs, die große Menge; die letztern die Auserwählten, der Adel; und es ist seltsam, aber wahr: diejenigen, welche sich selber nicht langweilen, langweilen im allgemeinen andre; diejenigen dagegen, die sich selber langweilen, unterhalten andre.

Müßiggang, so pflegt man zu sagen, ist eine Wurzel alles Übels. Um das Übel aus der Welt zu schaffen, hat man die Arbeit empfohlen. Diese Betrachtung ist jedoch, wie man aus dem eben Gesagten leicht ersehen kann, sehr plebejischer Extraktion. Müßiggang als solcher ist keineswegs eine Wurzel des Übels, im Gegenteil, er ist ein wahrhaft göttliches Leben, wenn man sich mir nicht langweilt. Natürlich kann der Müßiggang es veranlassen, daß man sein Vermögen verliert; aber davor fürchtet sich die adlige Seele nicht, wohl aber vor der Langeweile. Die olympischen Götter langweilten sich nicht, sie lebten glücklich in glücklichem Müßiggang. Eine weibliche Schönheit, die nicht näht noch spinnt, nicht strickt noch liest, auch nicht musiziert, ist in ihrem Müßiggang glücklich; denn sie langweilt sich nicht. Der Müßiggang ist also durchaus nicht die Wurzel des Übels, sondern viel eher das wahrhaft Gute.

Es gibt eine unermüdliche Thätigkeit, welche einen Menschen von der Welt des Geistes ausschließt und ihn in die Klasse der Tiere versetzt, die instinktmäßig immer in Bewegung sein müssen. So gibt es auch Menschen, die eine außerordentliche Gabe haben, alles in ein Geschäft zu verwandeln; ihr ganzes Leben ist ein Geschäft, sie verlieben sich und heiraten, sie hören einen guten Witz und bewundern klassische Musik mit demselben Geschäftseifer, mit welchem sie im Kontorarbeiten. Das lateinische Sprichwort: otium est pulvinar[228] diaboli ist ganz richtig; aber der Teufel findet die Zeit nicht, seinen Kopf auf dieses Kissen zu legen, wenn man sich nicht langweilt.

Die Langeweile ist der dämonische Pantheismus. Bleibt man bei demselben als solchem stehen, so wird er das Übel; sobald er dagegen aufgehoben wird, ist er wahr; er wird aber nur dadurch aufgehoben, daß man sich amüsiert – ergo muß man sich amüsieren. Behaupten, er werde durch Arbeit aufgehoben, verrät einen unklaren Denker. Denn wohl kann der Müßiggang durch Arbeit gehoben werden, weil diese sein Gegensatz ist, aber nicht die Langeweile, wie man ja auch sieht, daß die allerfleißigsten Arbeiter, die in ihrem emsigen Brummen am meisten summenden Insekten, die allerlangweiligsten sind; und langweilen sie sich nicht, so hat das seinen Grund darin, daß sie keine Ahnung davon haben, was Langeweile ist; aber dadurch wird die Langeweile nicht gehoben.

Die Langeweile ist teils eine unmittelbare Genialität, teils eine erworbene Unmittelbarkeit. Die englische Nation ist im großen und ganzen die paradigmatische Nation. Die wahre geniale Indolenz trifft man seltener, in der Natur findet sie sich nicht, sie gehört der Welt des Geistes. Man begegnet zuweilen reisenden Engländern, die eine Inkarnation dieser Genialität sind, schwere unbewegliche Murmeltiere, deren ganzer Sprachreichtum in einen einzigen einsilbigen Wort aufgeht, in einer Interjektion, durch welche sie ihre höchste Bewunderung und ihre tiefste Gleichgültigkeit ausdrücken, weil Bewunderung und Gleichgültigkeit sich in der Einheit der Langeweile indifferentieren. Nur die englische Nation bringt solche Naturmerkwürdigkeiten hervor; unter allen andern Völkern sind die Menschen immer etwas lebhafter, nicht so absolut totgeboren. Die einzige, mir bekannte Analogie sind die Apostel der leeren Begeisterung, welche ihre Reise durch das Leben ebenfalls nur mit einer Interjektion machen, Menschen, die überall aus Profession begeistert, überall gegenwärtig sind, und wo etwas passiert, mag es nun bedeutend oder unbedeutend sein, rufen: »Ah!« oder »O!«; denn die Differenz des Bedeutenden und des Unbedeutenden hat sich ihnen in einer nichtssagenden, blind lärmenden Begeisterung indifferentiert. Die später auftretende Langeweile ist eine Frucht mißverstandener Zerstreuung;[229] denn eine falsche, im allgemeinen exzentrische Zerstreuung pflegt den Keim der Langeweile in sich zu tragen.

Die Langeweile ruht auf dem Nichts, das sich durch das menschliche Leben hindurchzieht, und führt daher leicht zu Schwindel, der uns ja dann ergreift, wenn wir in einen tiefen Abgrund sehen. Daß jene exzentrische Zerstreuung auf Langeweile gegründet ist, kann man auch daran erkennen, daß die Zerstreuung keinen Widerhall hat, denn in einem Nichts ist ein Widerhall eine absolute Unmöglichkeit.

Wenn nun aber, wie oben nachgewiesen, die Langeweile eine Wurzel alles Übels ist, was ist dann natürlicher, als daß man sie zu überwinden sucht? Doch dürfen wir uns nicht überstürzen und zu rasch in unserm Urteil sein; denn wer von der Langeweile dämonisch besessen ist, arbeitet sich leicht noch tiefer hinein, während er ihr entfliehen möchte. Nach Veränderung schreien alle, die sich langweilen. Vollkommen einverstanden, nur muß man nach einem Prinzip handeln.

Meine von der allgemeinen abweichende Ansicht ist mit dem Worte »Wechselwirtschaft« deutlich ausgesprochen. In dem Worte liegt – wenigstens scheinbar – – etwas Zweideutiges, und wollte ich mit demselben die allgemeine Methode, die ich im Auge habe, bezeichnen, so müßte ich sagen, die Wechselwirtschaft besteht darin, daß man stets den Acker wechselt und zu jeder neuen Saat neues Land nimmt. In diesem Sinn gebraucht übrigens der Landmann den Ausdruck nicht. Doch will ich ihn einen Augenblick so benutzen, um von der Wechselwirtschaft zu sprechen, die auf der grenzenlosen Unendlichkeit der Veränderung, ihrer extensiven Dimension beruht.

Diese Wechselwirtschaft ist die vulgäre, die unkünstlerische, und hat ihren Grund in einer Illusion. Man mag nicht mehr auf dem Lande leben, und reist deshalb in die Residenz; man mag nicht mehr in seinem Vaterlande leben, man reist ins Ausland; man ist »europamüde« und reist nach Amerika u.s.w.; man schwelgt in der schwärmerischen Hoffnung einer unendlichen Reise von einem Stern zum andern. Oder die Bewegung nimmt eine andre, wenn auch noch extensivere Richtung. Man mag nicht mehr von Porzellan essen, man ißt von Silber oder von Gold; man brennt das halbe Rom ab, um[230] den Brand Trojas zu sehen. Diese Methode hebt sich selber auf. Denn was erreichte Nero? Nein, da war Kaiser Antonio klüger, er sagt: anabiônai soi exestin; ide palin ta pragmata, hôs heôras; en toutô gar to anabiônai (Biblion Z., b.).6

Die Methode, die ich vorschlage, liegt nicht darin, daß man immer neues Land nimmt; man würde dann auch bald am Ende sein. Die wahre Wechselwirtschaft besteht darin, daß man bald diese, bald jene Methode wählt und mit der Saat wechselt. Und da haben wir auch gleich das Prinzip der Beschränkung, das einzige, welches uns retten kann. Je mehr man sich selber beschränkt, um so erfinderischer wird nun. Ein Gefangener, der sein ganzes Leben in einsamer Zelle zubringen muß, von allen andern Gefangenen abgeschlossen, ist sehr erfinderisch; eine Spinne kann ihm die größte Unterhaltung sein. Hier haben wir das Prinzip, das durch seine Intensität, nicht durch seine Extensität Befriedigung sucht.

Je erfinderischer ein Mensch in dem Wechseln der Methode ist, um so besser; aber für jede einzelne Veränderung gilt doch die allgemeine Regel, die im Verhältnis des Sich-erinnerns und Vergessens zur Anwendung kommt. In diesen beiden Strömungen bewegt sich das ganze Leben, weshalb man dieselben stets in seiner Macht zu haben suchen muß. Erst nachdem man die Hoffnung über Bord geworfen hat, fingt man an, künstlerisch zu leben; denn solange man noch hofft, kann man sich nicht beschränken. Die Hoffnung ist auf stürmischem Meere ein schlechter Kompaß. Sie war daher auch eine der bedenklichten Gaben des Prometheus. Den sterblichen Menschen schenkte er die Hoffnung, da sie nicht, wie die Götter, in die Zukunft sehen konnten.

Vergessen – ja, das wollen alle Menschen. Wenn ihnen etwas Unangenehmes begegnet, sagen sie stets: Ach, wer doch vergessen könnte. Aber das ist eine Kunst, da man erst lernen muß. Und ob ich vergessen kann, das hängt davon ab, wie ich mich erinnere; und dieses letztere richtet sich wieder danach, wie ich das wirkliche Leben auffasse.[231] Wer sich mit seiner Hoffnung im Herzen festrennt, der wird sich dessen so lebhaft erinnern, daß er es nicht vergessen kann. Nil admirari ist daher die eigentliche Lebensweisheit. Kein Lebensmoment darf so viel Bedeutung für uns haben, daß wir ihn nicht in jedem Augenblick vergessen könnten, anderseits aber doch auch wieder so viel Bedeutung, daß wir uns desselben jeder Zeit erinnern könnten. Das Alter, welches am besten lernt, ist zugleich das vergeßlichste: das Alter der Kindheit.

Die Kunst zu vergessen ist nicht so leicht, und nur wenige Menschen verstehen sie recht. Sie wollen das Unangenehme vergessen, nicht das Angenehme. Das aber verrät große Einseitigkeit. Vergessen ist nämlich der rechte Ausdruck für die eigentliche Assimilation, die das, was man erlebt hat, am Resonanzboden absetzt. Deshalb ist die Natur so groß, weil sie es vergessen hat, daß sie ein Chaos war; aber der Gedanke an das Chaos kann zu jeder Zeit wieder auftauchen. Da man meistens nur das Unangenehme vergessen will, stellt man sich das Vergessen oft als eine wilde Nacht vor, die alles andre übertäubt, aber man muß sowohl das Angenehme wie das Unangenehme vergessen können. Auch das Angenehme kann, besonders wenn es vergangen ist, etwas Unangenehmes in sich haben und an einen Mangel erinnern – auch dieses Unangenehme wird durch das Vergessen gehoben. Will man sich indessen nur als ein Pfuscher in der Kunst des Vergessens das Unangenehme ganz und gar aus dem Sinn schlagen, so wird man bald sehen, daß das keinen Zweck hat. In einem unbewachten Augenblick überrascht es einen oft mit der ganzen Macht des Plötzlichen und Unerwarteten. Das Vergessen ist die Schere, mit welcher man wegschneidet, was man nicht gebrauchen kann, aber wohlgemerkt, unter allerhöchsten Aufsicht der Erinnerung. Vergessen und Sich- erinnern sind daher identisch und die künstlerisch hergestellte Identität des archimedischen Punktes, mit welchem man die ganze Welt emporhebt.

Die Kunst des Vergessens und Sich-erinnerns wird uns auch davor bewahren, daß wir uns nicht in einem einzelnen Lebensverhältnis festrennen.

Man hüte sich daher vor der Freundschaft. Wie müssen wir[232] einen Freund definieren? Ein Freund ist nicht das, was die Philosophen das notwendige Andre nennen, sondern das überflüssige Dritte. Was sind die Zeremonien der Freundschaft? Man trinkt Brüderschaft, öffnet eine Ader und mischt sein Blut mit dem des Freundes. Wann dieser Augenblick kommt, ist schwer zu sagen, aber er kündigt sich selber in rätselhafter Weise an; man fühlt's, daß man sich nicht mehr »Sie« nennen kann. Wenn dieses Gefühl einen ergriffen hat, dann hat man sich nicht getäuscht, wie Geert Vestphaler es that, als er mit dem Scharfrichter Brüderschaft trank.

Was sind die sichern Merkmale der Freundschaft? Das Altertum antwortet – aber äußerst langweilig: idem velle, idem nolle, ea demum firma amicitia. Was ist die Bedeutung der Freundschaft? Gegenseitige Assistenz mit Rat und That. Darum schließen zwei Freunde sich so eng aneinander an, und zwar obgleich einer dem andern oft nur im Wege steht. Ja, man kann einander in Geldverlegenheiten unterstützen, kann einander helfen, wenn man den Überzieher an- oder auszieht, und einer ist des andern gehorsamster Diener; man kann einander seine aufrichtigsten Neujahrswünsche bringen, item seine Gratulationen zur Hochzeit, zur Taufe, zur Beerdigung.

Aber muß man sich auch vor der Freundschaft hüten, so soll man deshalb doch nicht ganz und gar ohne Berührung mit den Menschen leben. Im Gegenteil, es können diese Verhältnisse zuweilen auch einen tieferen Schwung annehmen, nur daß man immer, auch wenn man eine Weile die Bewegung teilt, davon laufen kann. Nun meint man wohl, es könne unangenehme Erinnerungen hinterlassen, wenn ein Verhältnis aufgelöst werde. Das ist jedoch ein Mißverständnis. Das Unangenehme ist nämlich ein pikantes Ingrediens in den Mühseligkeiten des Lebens. Außerdem kann dasselbe Verhältnis in andrer Weise eine neue Bedeutung erlangen. Auf eins muß man sehen und das ist dies: man renne sich niemals fest und habe daher immer das Vergessen zur Hand. Der erfahrene Landmann bracht dann und wann, und die soziale Klugheitslehre empfiehlt dasselbe. Alles kehrt wieder, aber stets in andrer Weise; was einmal in die Rotation aufgenommen ist, bleibt in derselben, wird aber in der[233] Betriebs-Methode variiert. Ganz konsequent hofft man also seine alten Freunde und Bekannt; in einer bessern Welt wiederzufinden, aber man teilt nicht die Furcht der Menge, sie möchten sich so sehr verändert haben, daß man sie nicht wiedererkennen werde; man fürchtet eher, sie möchten ganz unverändert geblieben sein. Es ist wirklich unglaublich, was selbst der unbedeutendste Mensch durch solche vernünftige Behandlung gewinnen kann.

Man hüte sich vor der Ehe. Braut und Bräutigam geloben einander Liebe für immer und ewig. Das ist freilich gar nicht so schwer, hat aber auch nicht viel zu bedeuten. Versprächen sie sich jedoch Liebe und Treue nicht für immer und ewig, sondern etwa bis Ostern oder bis zum ersten Mai künftigen Jahres, so hätten ihre Worte noch Sinn, denn das kann man möglicherweise halten. Wie geht's denn in der Ehe? Nach kurzer Zeit merkt der eine Teil, daß es nicht so ist, wie es sein müßte; nun klagt der andre Teil und schreit es so laut, daß es alle hören können: Untreu, untreu! Nach einiger Zeit kommt der andre Teil zum selben Resultat, und es wird eine Neutralität arrangiert, bei welcher die gegenseitige Untreue zu gemeinsamer Zufriedenheit quittiert. Denn eine Scheidung ist ja mit großen Schwierigkeiten verbunden.

Wenn es sich so mit der Ehe verhält, ist's da zu verwundern, daß man sie mit den verschiedensten moralischen Stützen zu halten sucht? Will sich einer von seinem Weibe scheiden lassen, so ruft man: er ist ein niedriger, gemeiner Mensch, ein Schurke u.s.w. Wie thöricht! Ja, ist's nicht geradezu ein indirekter Angriff auf die Ehe selber? Entweder ist die Ehe in sich selber eine Realität, und dann ist er ja genügend gestraft, wenn das Verhältnis gelöst wird; oder sie hat keine Realität, und dann ist's ungereimt, ihn zu schmähen, weil er weiser denn andre ist. Wenn jemand seines Geldes überdrüssig geworden ist und es aus dem Fenster wirst, wird gewiß niemand sagen, er sei ein niedriger, gemeiner Mensch; denn entweder ist das Gelb etwas Reales, und dann ist er ja genügend gestraft, wenn er sich desselben beraubt hat, oder nicht, und dann ist er ein weiser Mann gewesen.

Man muß sich immer hüten, ein Lebensverhältnis einzugehen,[234] durch welches aus einem mehrere werden können. Deshalb ist schon die Freundschaft gefährlich, aber noch viel gefährlicher die Ehe. Wohl sagt man, daß Mann und Weib eins werden; aber das ist eine sehr dunkle und mystische Rede. Sind aus einem mehrere geworden, so hat der eine seine Freiheit verloren und kann nicht mehr reisen, wann er will, kann nicht mehr unstet umher schwärmen. Hat man eine Frau, so ist es schwierig; hat man Frau und vielleicht Kinder, so ist es beschwerlich; hat man Frau und Kinder, geradezu unmöglich. Wohl wird erzählt, eine Zigeunerin habe ihren Mann auf dem Rücken durchs Leben getragen, aber einerseits ist das eine Seltenheit, und anderseits auf die Dauer ermüdend – ich meine für den Mann, Außerdem gerät man durch die Ehe in eine höchst fatale Kontinuität mit Sitten und Gebräuchen, und diese haben wie Wind und Wetter immer etwas Unbestimmtes. In Japan ist es z.B., soviel ich weiß, Sitte und Gebrauch, daß auch die Männer in Wochen kommen. Warum könnte nicht die Zeit kommen, daß Europa die Sitten fremder Länder bei sich einführen wollte?

Die Freundschaft ist schon gefährlich, die Ehe noch viel mehr. Denn das Weib ist und bleibt doch des Mannes Ruin, sobald man ein dauerndes Verhältnis mit ihr eingeht. Nimm einen jungen Mann, feurig wie ein arabisches Pferd, laß ihn heiraten, und er ist verloren. Zuerst ist das Weib stolz, dann – schwach. Sie wird ohnmächtig, dann er, schließlich die ganze Familie. Eines Weibes Liebe ist nur Verstellung und Schwachheit.

Weil man aber nicht heiraten will, braucht das Leben noch nicht ohne Erotik zu sein. Auch das Erotische muß eine Unendlichkeit haben, aber eine poetische Unendlichkeit, die sich ebensosehr in einer Stunde wie in einem Monat denken läßt wenn zwei Menschen sich in einander verlieben und meinen, daß sie für einander bestimmt sind, dann gilt's: Mut haben und auseinandergehen; denn bleiben sie bei einander, so können sie nur alles verlieren, nichts gewinnen. Das scheint ein Paradoxon zu sein und ist's auch für das Gefühl, aber nicht für den Verstand. Auf diesem Gebiet kommt es ganz besonders darauf an, daß man Stimmungen zu verwenden weiß; dadurch ist eine unerschöpfliche Abwechselung von Kombinationen gegeben.[235]

Man übernehme niemals irgend eine Berufsarbeit. Thut man's, so wird man bald ein kleines Rädchen an der Staatsmaschine, aber hört Selber auf, der Herr der Betriebswirtschaft zu sein. Da kann die Theorie nur wenig helfen. Man erhält einen Titel, und darin liegt die ganze Konsequenz der Sünde und des Bösen. Das Gesetz, dessen Sklave man dadurch wird, ist gleich langweilig, ob man nun rasch oder langsam avanciert. Und den Titel wird man ja nie wieder los – selbst wenn man ihn durch ein Vergehen verliert, erhält man ihn durch eine gnädige Resolution des Königs bald wieder.

Aber wenn mau sich auch vor Berufsarbeiten hüten muß, darf man doch nicht unthätig sein; man treibe allerlei brotlose Künste. Doch muß man sich weniger extensiv als intensiv entwickeln und je älter man wird, die Wahrheit des alten Wortes erweisen, daß nicht viel dazu gehört, um Kindern eine Freude zu machen.

Die erste Regel der sozialen Klugheitslehre ist also, man variiere in gewissem Grade mit dem Lande – denn wollte man nur mit einem Menschen zusammenleben, so würde es mit der Wechselwirtschaft traurig aussehen; ungefähr so, wie wenn ein Landmann mir einen kleinen Acker hätte und daher niemals – was ja so unendlich wichtig ist – brachen könnte. Und die zweite Regel der sozialen Klugheitslehre – das eigentliche Geheimnis derselben – ist diese: man variiere auch stets mit sich selber. Zu dem Ende muß man stets die Stimmungen beherrschen können. Zwar wird man sie nie hervorbringen können, wann man will, das ist nicht möglich, aber die Klugheit lehrt, den Augenblick zu ergreifen, die Zeit auszukaufen.

Wie ein erfahrener Seemann stets forschend das Wasser und die Wolken betrachtet, und es schon vorher weiß, daß ein Sturm losbrechen wird, so muß man auch die Stimmungen immer etwas vorhersehen. Wir müssen es wissen, wie diese auf uns selber und auf andre wirken, noch ehe sie bei uns einkehren und Wohnung in uns machen. Man streicht die Instrumente erst, um reine Töne hervorbringen zu können, und je mehr man sich übt, um so leichter wird man sich davon überzeugen, daß in der Seele eines Menschen viele Töne schlummern, die des Künstlers Hand hervorzaubern kann.

Das ganze Geheimnis liegt in der Willkür. Man glaubt ja oft,[236] willkürlich sein sei keine Kunst, und doch setzt es ein tiefes Studium voraus, wenigstens wenn man in dem Sinne willkürlich werden will, daß man sich nicht selber darin verirrt, sondern daß man auch Freude daran hat. Man genießt nicht unmittelbar, sondern etwas ganz andres, was man selber willkürlich hineinlegt. Man sieht nur einen oder den andern Akt eines Schauspiels; man liest den dritten Teil eines Buches. Das bereitet einen ganz andern Genuß als den, welchen der Verfasser einem freundlichst zugemessen hat.

Ich will ein Beispiel anführen. Ich kannte einen Menschen, mit dem ich durch äußere Lebensverhältnisse verbunden war, und dessen Gespräche ich daher nolens volens oft anhören mußte. Er langweilte mich mit seinen kleinen philosophischen Vorträgen gründlich. Ich war her Verzweiflung nahe, als ich plötzlich endeckte, daß er beim Sprechen ungewöhnlich stark schwitzte. Das zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah es, wie die Schweißperlen sich auf seiner Stirn sammelten, sich dann zu einem Bach vereinigten, an seiner Nase herabströmten und in einem tropfenförmigen Körper endigten, der an der äußersten Spitze der Nase hängen blieb. Von diesem Augenblick an war alles anders, ja nun hatte ich meine Freude an seiner Unterhaltung und konnte ihn sogar zu seinen philosophischen Exkursionen ermuntern, nur um den Schweiß auf seiner Stirne und an seiner Nase beobachten zu können.

Es ist äußerst angenehm, so die Realitäten des Lebens sich in einem willkürlichen Interesse indifferentieren zu lassen. Man macht etwas Zufälliges zum Absoluten und als solches zum Sujet absoluter Bewunderung. Das wirkt besonders gut, wenn die Geister in Bewegung sind. Je konsequenter man an der Willkür festhält, um so interessanter werden die Kombinationen. Der Grad der Konsequenz erweist es immer, ob man ein Künstler oder – ein Pfuscher ist. Das Auge, mit welchem man das wirkliche Leben ansieht, muß sich stets ändern.

Die Neu-Platoniker nahmen an, daß die Menschen, die auf Erden weniger vollkommen gewesen seien, nach dem Tode in mehr oder weniger unvollkommene Tiere oder pflanzen verwandelt würden, ganz nach ihren Verdiensten. Detaillisten z.B. werden zu Bienen.[237] Eine solche Lebensanschauung, die hier auf Erden alle Menschen in Tiere oder Pflanzen verwandelt sieht, bietet eine reiche Abwechslung dar. Ich habe von einem Maler gehört, der jeden Menschen zu einem Tier idealisierte. Seine Methode hat den Fehler, daß sie zu ernst ist und eine wirkliche Ähnlichkeit zu entdecken sucht.

Mit der Willkür in uns selber korrespondiert der Zufall um uns her. Wir müssen daher immer ein offenes Auge für das Zufällige haben, immer expediti sein, wenn uns etwas begegnet. Die sogenannten geselligen Freuden, auf welche man sich acht bis vierzehn Tage vorbereitet, haben nicht viel zu bedeuten; dagegen kann selbst das Unbedeutendste durch einen Zufall reichen Stoff zur Unterhaltung bieten. Auf Details kann man sich hier nicht einlassen, das ist keiner Theorie möglich. Selbst die ausführlichste Theorie ist doch nur Armut dem gegenüber, was das Genie in seiner Ubiquität leicht entdeckt.[238]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 221-239.
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