2. Donna Elvira

[187] Diese Jungfrau lernen wir aus der Oper Don Juan kennen; und für unsre spätere Untersuchung wird es nicht ohne Bedeutung sein, wenn wir auf die Winke achten, welche dies Stück hinsichtlich ihres früheren Lebens enthält. Sie war eine Nonne; aus dem Frieden des Klosters hat Don Juan sie herausgerissen. Hierdurch wird die ungeheure Gewalt ihrer Leidenschaft angedeutet. Sie war keine kleine Schwätzerin aus einem Mädcheninstitut, welche in der Schule gelernt zu lieben, auf Bällen zu kokettieren; läßt eine solche sich verführen, so hat das nicht viel zu bedeuten. Elvira dagegen ist in der Zucht des Klosters auferzogen; aber diese hat nicht vermocht, die Leidenschaft auszurotten, wenn auch gelehrt, dieselbe niederzuhalten und sie dadurch noch heftiger zu machen, sobald sie nur Luft bekommt, um hervorzubrechen. Für einen Don Juan ist sie eine sichere Beute; er wird verstehen, die Leidenschaft hervorzulocken, wild, unzähmbar, unersättlich, allein zu befriedigen in seiner Liebe. In ihm hat sie alles, und das Vergangene ist nichts; verläßt er sie, dann verliert sie alles, auch das Vergangene. Sie hatte der Welt entsagt; da zeigte sich ihr eine Gestalt, der sie nicht entsagen konnte, und dies war Don Juan. Seit der Stunde sagt sie allem andern ab, um mit ihm zu leben. Je bedeutungsvoller das ist, was sie aufgibt, desto inniger muß sie sich ihm hingeben; je fester sie ihn umschlungen hat, desto schrecklicher ihre Verzweiflung, wenn er ihr den Rücken kehrt. Ist doch schon von Anfang an ihre Liebe Verzweiflung, nichts hat für sie Bedeutung, weder im Himmel noch auf Erden, außer Don Juan.

In der Oper interessiert Elvira uns nur, sofern ihr Verhältnis zu Don Juan für ihn selbst Bedeutung hat. Soll ich mit wenigen Worten diese ihre Bedeutung bezeichnen, so möchte ich sagen: sie ist Don Juans episches Geschick, sowie der Kommodore sein dramatisches.[187] In ihrem Innern glüht ein Haß, welcher Don Juan in jedem Winkel aussuchen will eine lodernde Fackel, welche das tiefste Dunkel erleuchten will; und sollte sie ihn gar nicht entdecken, alsdann ist eine Liebe in ihr, welche ihn finden wird. Sie nimmt mit den andern an der Verfolgung Don Juans teil; aber dächte ich mir, daß alle Bestrebungen seiner Verfolgung einander neutralisiert hätten, und Elvira allein mit Don Juan geblieben, und er in ihre Gewalt gegeben wäre: der Haß würde sie waffnen, ihn zu morden, aber ihre Liebe würde dem wehren, nicht aus Mitleid, denn dazu ist er in ihren Augen zu groß. So müßte sie ihn beständig am Leben erhalten: denn tötete sie ihn, so würde sie sich selbst töten. Wären also in dem Stück gegen Don Juan keine andern Kräfte in Bewegung, als Elvira, so würde es niemals enden, denn sie würde, wenn es möglich wäre, den Blitzstrahl selbst zurückhalten, daß er ihn nicht treffe, um sich zu rächen; und doch wäre sie wieder nicht im stande, selbst Rache nehmen. Auf diese Weise interessiert sie uns in der Oper; aber wir kümmern uns hier nur um ihr Verhältnis zu Don Juan. Es interessieren sich viele für sie, aber in höchst verschiedener Weise. Don Juan interessiert sich für sie, ehe das Stück anfängt, der Zuschauer schenkt ihr sein dramatisches Interesse; wir aber, wir Freunde des Leides folgen ihr nicht bloß auf ihrem nächsten Weg, nicht bloß in dem Augenblick, da sie über die Bühne wandelt; nein, wir folgen ihr auf ihren einsamen Wegen.

Don Juan hat Elvira also verführt und sie verlassen mit der Hast, mit welcher »ein Tiger eine Lilie zertreten kann.« Don Juan hat sie verlassen; da ist aber kein Kreis von Menschen, dem sie ohnmächtig in die Arme fallen kann. Sie braucht nicht zu fürchten, daß andre sich allzu nahe um sie zusammenschließen werden. Im Gegenteil, man wird schon wissen, ihr den Abmarsch zu erleichtern; keiner wird ihren Verlust ihr abdiskutieren, eher möchte der eine oder andre es sich zur Aufgabe machen, ihn ihr vorzudemonstrieren. Allein fleht sie und verlassen, und sie wird von keinem Zweifel angefochten; es ist klar, daß er ein Betrüger war, der ihr alles geraubt und sie der Schande preisgegeben hat. Indessen ist dies, ästhetisch geredet, für sie nicht das Schlimmste: es bewahrt sie eine Zeitlang[188] vor jenem reflektierten Leide, welches unstreitig schmerzlicher ist, als das unmittelbare. Das Faktum steht hier außer allem Zweifel, und die Reflexion vermag es nicht bald so, bald anders umzuwandeln. Eine Marie Beaumarchais mag einen Clavigo ebenso heftig, ebenso wild und leidenschaftlich geliebt haben, aber das Faktum, dem sie gegenübersteht, ist bei weitem zweifelhafter; dessen eigentlicher Charakter bleibt immer ein Geheimnis.

Gedenkt sie der kalten Hinterlist, der unwürdigen Verständigkeit, welche dazu gehört, sie in solcher Art zu betrügen, daß es in den Augen der Welt ein bei weitem milderes Aussehen bekommt, daß sie jeder Art von Teilnahme anheimfällt, welche spricht: »Nun, du lieber Gott, die Sache ist ja nicht so gefährlich!« so kann sie das empören, ja sie kann wahnsinnig werden in dem Gedanken an seine stolze Überlegenheit, der gegenüber sie doch ganz und gar zurücktrat und es sich zurufen lassen mußte: Bis hierher und nicht weiter! Hier gibt's denn allerlei Erklärungen; die Reflexion bekommt daher genug zu thun, und der reflektierte Kummer ist unvermeidlich.

Don Juan hat Elvira verlassen, und in diesem Augenblicke steht alles deutlich vor ihren Augen. Kein Zweifel lockt das Leid in die Kammer der Reflexion: sie verstummt in ihrer Verzweiflung. Diese durchströmt sie mit einem einzigen Pulsschlage, und dieser Strom ergießt sich auch nach außen, so daß die Glut ihrer Leidenschaft in allen ihren Zügen und Gebärden sichtbar wird. Haß, Verzweiflung, Rache, Liebe, alles stellt sich in ihrer Erscheinung dar. In diesem Augenblicke ist sie malerisch. Auch zeigt uns die Phantasie alsbald ein Bild derselben, und das Äußere ist hier keineswegs gleichgültig geworden, die Reflexion darüber durchaus nicht inhaltlos, und ihre Thätigkeit nicht ohne Bedeutung, wenn sie nun das eine und das andre prüft und abwägt.

Ob in dem Momente Elvira selbst eine Aufgabe für künstlerische Darstellung sei, ist eine andre Frage; aber so viel ist gewiß: Elvira, wie wir sie uns denken, ist ihrem Wesen nach sichtbar. Ob die Kunst im stande sei, den Ausdruck ihrer Gebärde zu nüancieren, daß die Pointe ihrer Verzweiflung zur Anschauung kommt, will ich nicht entscheiden; aber beschreiben läßt sie sich, und das hierbei sich zeigende[189] Bild wird keineswegs nur eine Bürde fürs Gedächtnis, welches weder davon noch dazu thut, sondern hat seinen Wert. Und wer hat Elvira nicht gesehen! Es war eine frühe Morgenstunde, als ich in einer der romantischen Gegenden Spaniens eine Fußwanderung vornahm. Die Natur erwachte, die Bäume des Waldes schüttelten ihre Häupter, und die Blätter rieben gleichsam den Schlaf aus den Augen; der eine Baum neigte sich zu dem andern, um zu sehen, ob er aufgestanden sei, und der ganze Wald wogte in der kühlen, frischen Morgenlust. Ein leichter Nebel hob sich von der Erde, die Sonne riß ihn wie einen Teppich weg, unter dem sie in der Nacht geruht hatte, und schaute jetzt wie eine zärtliche Mutter auf die Blumen und auf alles herab, was Leben war, und sprach: »Steht auf, liebe Kinder, die Sonne scheint schon.« Ich trat in einen Hohlweg und mein Auge fiel auf ein Kloster, welches hoch oben auf der Spitze des Berges lag, wohin ein Fußsteig in vielen Krümmungen führte. Mein Gemüt weilte bei dem Anblick; da liegt es, dachte ich, wie ein Gotteshaus, auf einem Felsen fest gegründet. Mein Führer erzählte, es sei ein durch seine strenge Zucht bekanntes Nonnenkloster. Meine Schritte hielten an, sowie meine Gedanken; und was hat man auch zu eilen, wenn man einem Kloster so nahe ist? Vermutlich wäre ich nicht vom Flecke gekommen, wenn mich nicht eine Bewegung in meiner Nähe geweckt hätte. Unwillkürlich wandte ich mich um: es war ein Ritter, der an mir vorbeieilte. Wie schön war er! Sein Gang so leicht und doch so kräftig, so königlich und doch so flüchtig, er wandte das Haupt, um zurückzublicken, sein Angesicht so anziehend, und doch sein Blick so unruhig: es war Don Juan. Eilt er zu einem Rendezvous, oder kehrt er davon zurück? Bald war er jedoch meinem Blick entschwunden und vergessen; mein Auge heftete sich auf das Kloster. Ich versank wieder in Betrachtungen über die Luft des Lebens und den stillen Frieden des Klosters. Da erblickte ich oben auf dem Berge eine weibliche Gestalt. Hastigen Schrittes eilte sie den Fußsteig hinab; aber der Weg war steil, und es sah beständig aus, als stürze sie den Berg herab. Sie kam näher. Ihr Antlitz war bleich; und ihre Augen flammten schrecklich; sie war in allen Gliedern matt, ihr Busen bewegte sich heftig, und doch[190] eilte sie immer rascher vorwärts. Ihre Locken flatterten im Winde; aber selbst die frische Morgenluft und ihr hurtiger Gang waren nicht im stande, ihre bleichen Wangen zu röten; ihr Nonnenschleier war zerrissen und flog zurück. Ihre leichte, weite Tracht hätte einem profanen Blicke manches entdeckt, wenn nicht der leidenschaftliche Ausdruck ihrer Züge die Aufmerksamkeit auch des verdorbensten Menschen gefesselt hätte. Sie eilte an mir vorüber; ich wagte nicht sie anzureden; hierzu war ihre Stirn zu majestätisch, ihr Blick zu königlich, ihre Leidenschaft zu vornehm. Wohin gehört diese Jungfrau? Ins Kloster? Sind hier solche Leidenschaften zu Hause? Oder in die Welt? In dieser Tracht? – Warum eilt sie so? Um ihre Schande zu verbergen? oder um Don Juan einzuholen? – Sie eilt dem Walde zu, und dieser schließt sich um sie zusammen und verbirgt sie. Ich sehe sie nicht mehr, sondern höre nur des Waldes Seufzen. Arme Elvira! Sollten die Bäume etwas erfahren haben? Und doch, die Bäume sind besser als die Menschen: denn die Bäume seufzen und schweigen – die Menschen flüstern.4

In diesem ersten Moment läßt Elvira sich darstellen, und wenn es auch eigentlich nicht Sache der Kunst ist – diese würde kaum den Ausdruck finden können, der uns ihre mannigfachen Leidenschaften offenbarte –, so will die Seele sie doch sehen. Das, und nicht mehr habe ich mit dem kleinen Bilde, welches ich eben rasch skizzierte, beabsichtigt.

Doch zurück zu Elvira! Nun bekommt sie dramatisches Interesse. Mit der Haft, in welcher sie an mir vorüber eilte, holt sie Don Juan ein. Anders kann es nicht sein. Wohl hat er sie verlassen, aber er hat sie auch in den Strudel seines eignen Lebens hineingezogen, darum muß sie zu ihm hin. Findet sie ihn, dann richtet sich ihre ganze Aufmerksamkeit wieder nach außen hin, und das reflektierte Leid ist in ihre Seele noch nicht eingekehrt. Sie hat alles verloren: den Himmel, als sie die Welt erkor, die Welt, als sie Juan verlor! Sie kann also nirgend andershin flüchten, denn allein zu ihm: nur wenn sie bei ihm ist, kann sie der Verzweiflung entgehen. Denn[191] entweder werben die innern Stimmen übertäubt durch den wilden Sturm des Hasses und der Erbitterung, der gerade dann, wenn Don Juan persönlich gegenwärtig ist, in seiner ganzen Kraft losbricht, oder – sie hofft wieder. So sind denn zwar die Momente des reflektierten Leides da, aber sie hatten noch keine Zeit, sich zu sammeln. »Sie muß erst grausam überzeugt werden,« heißt es in Kruses Bearbeitung, – aber diese Forderung verrät vollkommen die innere Disposition. Ist sie nicht jetzt schon davon überzeugt, daß Don Juan ein Betrüger ist, dann wird sie es nie. Aber solange sie einen äußern Beweis fordert, mag sie durch ein unruhig umherschweifendes Leben, in welchem sie immer das eine Ziel vor Augen hat: Don Juan zu verfolgen, der innern Unruhe stiller Verzweiflung entfliehen. Das Paradoxon lagert schon vor der Thür ihrer Seele; aber solange sie ihre Seele durch äußere Beweise, die nicht Vergangenes erklären, sondern über Don Juans gegenwärtigen Zustand Auskunft geben sollen, in Agitation hatten kann, so lange ist ihr Leib noch kein reflektiertes. Haß und Erbitterung erfüllen ihr Herz, bald kommen flehentliche Bitten, bald Flüche über ihre Lippen; aber ihre Seele ist noch nicht zu sich selber zurückgekehrt, sie ist noch nicht in dem Gedanken, daß sie betrogen ist, zur Ruhe gekommen. Von außen her erwartet sie die Erklärung.

Wir lassen Don Juan und Elvira jetzt gegen einander stürmen. Wer wird der Stärkere sein? Ist er es, dann wird ihr ganzes Auftreten keinen Zweck haben. Zwar fordert sie »einen Beweis, um grausam überzeugt zu werden«, und er ist galant genug, ihn zu geben. Aber sie wird natürlich nicht überzeugt und fordert einen neuen Beweis; dieses Suchen und Fragen ist ihr ein Trost, die Ungewißheit ein Balsam für das zerrissene Herz. Aber wenn nun Elvira die Stärkere ist? Wir können es kaum glauben, aber – aus Galanterie für das schwächere Geschlecht wollen wir es thun. Noch steht sie in ihrer vollen Schönheit da. Wohl hat sie geweint, aber die Thränen haben den feurigen Glanz der Augen nicht ausgelöscht; wohl hat sie getrauert, aber die Traurigkeit hat die Blüte ihrer Jugend nicht gebrochen; wohl hat sie sich gegrämt, aber ihr Gram hat die Lebenskraft der Schönheit nicht zerstört – ihre Wangen sind bleich geworden,[192] aber um so seelenvoller ihr Ausdruck; sie schwebt nicht mehr mit den leichten Schritten kindlicher Unschuld vor uns her, aber sie geht mit der festen Energie weiblicher Leidenschaft. So tritt sie Don Juan entgegen.

Sie hat ihn über alles in der Welt geliebt, ja über ihrer Seele Seligkeit, sie hat alles für ihn hingegeben, selbst ihre Ehre, und er ward ihr untreu. Nun glüht in ihrer Seele nur eine Leidenschaft: der Haß; nun bewegt nur ein Gedanke ihr Herz: die Rache. Sie steht ebenso groß wie Don Juan vor uns; denn alle Mädchen verführen ist der männliche Ausdruck für das Weibliche: sich ein einziges Mal von ganzer Seele verführen zu lassen und dann zu lassen, oder – wenn man will – den Verführer mit einer Energie zu lieben, wie es »getrauter Liebe« nicht möglich ist. So tritt sie ihm entgegen. Sie kämpft nicht für moralische Prinzipien, sie kämpft für ihre Liebe, und diese fordert Rache. Aus Liebe zu ihm hat sie ihre Seligkeit hingegeben, aber ob sie ihr noch einmal geschenkt würde, sie gäbe sie wieder hin, um sich zu rächen. Das kann seine Wirkung auf einen Don Juan nicht verfehlen. Er weiß, welch ein Genuß es ist, aus den zartesten und duftigsten Blüten der ersten Jugend süßen Honig zu saugen, er weiß, daß der Genuß nur einen Augenblick währt – hat er es doch, ach, so oft gesehen, wie rasch die bleichen Gestalten verwelken. Aber welch ein Wunder ist hier geschehen! Er hat eine Jungfrau verführt, und sie ist nun schöner denn je. Er kann's nicht leugnen, so hat ihn noch kein Mädchen gefesselt, selbst – Elvira nicht. Denn die unschuldige Nonne war ja trotz all ihrer Schönheit nur ein Mädchen, wie so viele andre; aber diese Jungfrau ist einzigartig in ihrem Geschlechte. Sie ist bewaffnet, sie verbirgt seinen Dolch an ihrem Herzen, aber sie trägt eine Rüstung, zwar nicht sichtbar – denn ihr Haß offenbart sich nicht in beredten Deklamationen –, sondern unsichtbar, und diese ihre verborgene Rüstung ist ihr Haß. Don Juans Leidenschaft erwacht, noch einmal muß sie ihm gehören, aber er erreicht sein Ziel nicht. Ja, wär' sie ein Mädchen, das seine Niederträchtigkeit kennte, die ihn haßte, obgleich sie nicht selber von ihm betrogen worden wäre, dann würde Don Juan siegen; aber dieses Mädchen kann er nicht gewinnen, all[193] seine Verführungskünste sind vergeblich. Wie sich Dido selbst noch im Hades von Äneas abwendet, weil er ihr untreu geworden, so wird sie sich zwar nicht von ihm abwenden, aber sich gegen ihn erheben, kälter noch als eine Dido.

Doch ist dieses Zusammentreffen Elviras mit Don Juan nur ein flüchtiges, sie geht über die Bühne, und der Vorhang fällt; wir aber, liebe Symparanekrômenoi, wir ich schleichen ihr nach, denn erst jetzt wird sie eine Elvira. Solange sie bei Don Juan ist, ist sie nicht bei sich selber; erst wenn sie wieder zu sich kommt, tritt uns das Paradoxon entgegen. Es ist aber – trotz aller Versicherungen der neueren Philosophie – doch immer mit großen Schwierigkeiten verbunden, sich solch innern Widerspruch vorzustellen. Wenn ein junges Mädchen da nicht zum Ziele kommt, so ist es verzeihlich, und doch ist's eben diese Aufgabe, die sie lösen muß: den sie liebt, ein Betrüger! Hier steht sie nicht anders wie Marie Beaumarchais, aber der Weg zum Paradoxon ist für beide ein verschiedener. Bei Marie war das Faktum, mit welchem sie es zu thun hatte, in sich selber so dialektisch, daß die Reflexion es mit ihrer ganzen Konkupiszenz alsobald ergreifen mußte. Für Elvira aber scheint der faktische Beweis dafür, daß Don Juan ein Betrüger war, so evident, daß man nicht recht sieht, wie die Reflexion es erfassen kann.

Elvira hatte alles verloren, und doch liegt ein ganzes Leben vor ihr, und ihre Seele will leben. Auch hier wieder ein Entweder – Oder! Entweder unterwirft sie sich ethischen und religiösen Forderungen, oder sie bewahrt ihre Liebe zu Juan. Will sie ersteres, so steht sie außerhalb unseres Interesses. Mag sie in ein Magdalenen-Asyl gehen, oder wohin sie will, wir wollen's nicht wehren. So leicht würde es ihr indessen nicht werden, denn sie müßte dann erst verzweifeln. Einmal schon hat sie einen Bund mit dem Religiösen gemacht, ein ander Mal würde es höhere Ansprüche erheben. Denn das Religiöse ist für jeden, der sich mit ihm einlassen will, eine gefährliche Macht – es läßt sich nicht spotten. Als sie das Klosterleben erwählte, fand ihre stolze Seele vielleicht eine reiche Befriedigung in demselben; denn man mag sagen, was man will: das Mädchen, das sich mit dem Himmel vermählt, macht doch die brillanteste[194] Partie; nun aber müßte sie als – eine Bußfertige zurückkehren! Und wer weiß, ob sie einen Priester fände, der ihr mit derselben Kraft das ernste Evangelium der Buße verkündigte, wie sie von Don Juan das frohe Evangelium der Lust gehört hatte. So muß sie sich denn an Don Juans Liebe halten, was ihr um so leichter wird, da sie ihn ja doch noch liebt. Um ihrer selbst willen muß sie Don Juan also lieben; siehe da den Sporn der Reflexion, der sie zwingt, dem Paradoxon ins Auge zu schauen: ob sie ihn lieben kann, da er sie betrog. So oft sie verzweifeln will, findet sie in der Erinnerung an Don Juans Liebe einen Zufluchtsort und sucht sich zu überreden, daß er kein Betrüger sei. Eines Weibes Dialektik geht ihre eignen Wege; ich war so glücklich, einige ausgezeichnete Exemplare des schönen Geschlechtes kennen zu lernen, mit denen ich einen ganzen dialektischen Kursus durchgehen konnte. Man findet sie nicht in den großen Städten, wenigstens nicht, wenn man eine edle Spezies sucht, denn der Lärm und die Unruhe des Lebens verbirgt gar vieles; viel eher trifft man sie in der Provinz, in kleinen Städten, auf abgelegenen Herrensitzen. Die ich zunächst im Auge habe, war eine schwedische Dame, ein adliges Fräulein.

Sie hatte in Stockholm einen französischen Grafen kennen gelernt und war ein Opfer seiner treulosen Liebenswürdigkeit geworden. Wie lebendig steht sie noch heute vor mir! Als ich sie zum erstenmal sah, machte sie kaum einen Eindruck auf mich. Sie war noch immer schön, hatte ein stolzes und vornehmes Wesen, und ich wäre vermutlich ebenso klug wieder abgereist, wie ich gekommen war, wenn ich nicht ganz zufällig ihr Geheimnis erfahren hätte. Von dem Augenblick an erhielt sie Bedeutung für mich; sie erinnerte mich so lebhaft an Elvira, daß ich sie immer wieder ansehen mußte. Eines Abends war ich mit ihr in einer großem Gesellschaft; ich war früher als sie gekommen, und trat ans Fenster, um nach ihr auszusehen. Einen Augenblick später hielt ihr Wagen vor der Thür, sie stieg aus, trat mit vornehmer, in der That imponierender Würde in den Saal, verneigte sich vor der ganzen Gesellschaft, und als der Herr des Hauses ihr entgegeneilte, um sie zu begrüßen, verneigte sie sich vor ihm sehr tief, aber obgleich ihre Lippen sich zu einem Lächeln öffneten,[195] sagte sie doch kein Wort. Ich kannte ja ihr Geheimnis und dachte an das, was das Orakel sagte:

»oute legei oute kryptei, alla sêmainei.«5 – – Vieles habe ich von ihr gelernt, auch hat sich mir die Beobachtung, die ich schon oft gemacht, bestätigt, daß nämlich Menschen, die ein Leid in ihrem Herzen tragen, mit der Zeit ein einzelnes Wort oder einen einzelnen Gedanken finden, mit welchem sie sowohl vor sich selber, wie vor den Wenigen, denen sie ihren Kummer anvertraut haben, alles bezeichnen können, was sie bewegt. Ein solches Wort, oder ein solcher Gedanke ist der Größe des Leides gegenüber oft nur wie ein Diminutivum, steht zu dem, was es bezeichnen will, in ganz zufälligem Verhältnis, und hat auch seinen Ursprung fast immer in einem Zufall.

Nachdem ich ihr Vertrauen gewonnen und sie mir alles erzählt hatte, ging ich oft die ganze Skala ihrer Stimmungen mit ihr durch. War sie dazu aber nicht aufgelegt und wollte mir doch andeuten, daß ihre Seele mit ihrem Kummer beschäftigt sei, dann ergriff sie meine Hand, sah mich an und sagte: »Ich war schlanker als das Schilf am Fluß, er herrlicher als die Zeder auf dem Libanon.« Woher sie diese Worte hatte, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt: wenn Charon einst mit seinem Boote kommt, um sie zum Hades hinüberzufahren, dann wird er nicht den Obol, den sie entrichten müßte, in ihrem Munde finden, sondern auf ihren Lippen die Worte: »Ich war schlanker als das Schilf am Fluß, er herrlicher als die Zeder auf dem Libanon.«

Elvira kann also Don Juan nicht auffinden und muß daher allein den Ausgang aus dem Labyrinth bei Lebens suchen, sie muß zu sich selber kommen. Sie lebt jetzt unter andern Menschen; ihre neue Umgebung weiß nichts von ihrem frühern Leben und ahnt nichts, denn in ihrer äußern Erscheinung sieht man nichts von dem tiefen Schmerz, der ihre Seele erfüllt. Sie kann jeden Ausdruck beherrschen; als sie ihre Ehre verlor, hat sie diese Kunst wohl gelernt. So ist jetzt alles in Ordnung, aber was geht in ihrem Innern vor sich? Sorgt sie? Ob sie es thut! Aber wie soll ich diese Sorge nennen?[196] Ich will sie Nahrungssorge nennen; denn der Mensch lebt ja nicht vom Brote allein, auch die Seele will leben. Sie ist noch jung, und doch sind ihre Vorräte schon aufgezehrt; aber daraus folgt noch nicht, daß sie sterben muß; aber sie sorgt immer für den folgenden Tag. Noch immer liebt sie ihn, obgleich er sie betrog; und betrog er sie, so mußte die Liebe die nährende Kraft verlieren. Ja, wenn er sie nicht betrogen hätte, wenn eine höhere Macht ihn ihr entrissen hätte, dann wäre sie so wohl versorgt, wie ein Mädchen es sich nur wünschen kann; denn die Erinnerung an Don Juan war mehr, viel mehr, als was manches Weib an ihrem lebenden Manne hat. Aber wenn sie ihre Liebe fahren läßt, dann ist sie ärmer als eine Bettlerin und muß mit Schmach und Hohn bedeckt ins Kloster zurückkehren. Ja, konnte sie dafür nur seine Liebe wiedererkaufen! Das ist ihr Leben. Heute kann sie noch leben, sind's auch nur Brocken, von denen sie lebt, – aber morgen?!

»Ich will ihn vergessen, sein Bild aus meiner Seele reißen, ja den Gedanken an ihn will ich mit Feuer verzehren, erst dann bin ich gerettet.«

»Nein, hassen will ich ihn; denn nur im Hasse findet meine Seele Ruhe. Alle meine Erinnerungen will ich sammeln und einen Kranz von Flüchen winden, ›verflucht seist du‹ – so sage ich – ›für jeden Kuß, den du mir gegeben, zehnmal verflucht für jede Umar mung,‹ – und für jeden Schwur seiner Liebe will ich schwören, ihn zu hassen mit der ganzen Kraft meiner Seele. Das soll meine Arbeit sein, das der Lebensberuf, dem ich mich weihen will. Im Kloster hab' ich gelernt, den Rosenkranz zu beten – ich bleibe also eine Nonne, die Tag und Nacht betet. Ja, ich will ihn hassen, nur dadurch kann ich mich von ihm losreißen und mir selber zeigen, daß ich seiner nicht bedarf. Und doch? Lebe ich denn nicht von ihm, wenn ich ihn hasse? und ist nicht der Grund meines Hasses – meine Liebe zu ihm?«

»Er war sein Betrüger, er hatte keine Ahnung davon, was ein Weib leiden kann. Sonst hätte er mich nicht verlassen. Er war ein Mann, war sich selbst genug. Ist mir das ein Trost? Gewiß, denn mein Leiden beweist es, wie glücklich ich gewesen bin, so glücklich,[197] wie er es nicht ahnen kann. Warum klage ich denn darüber, daß ein Mann nicht wie ein Weib ist, nicht so glücklich wie sie, wenn sie glücklich ist, nicht so unglücklich wie sie, wenn sie grenzenlos unglücklich ist, da ihr Glück ja ohne Grenzen war?«

»Betrog er mich? Nein! Hatte er mir etwas versprochen? Nein. Mein Juan war kein Freier, kein gemeiner Hühnerdieb; so sehr erniedrigt eine Nonne sich nicht. Er hielt ja nicht um meine Hand an, er reichte mir nur seine Hand, und ich ergriff sie, er sah mich an, öffnete seine Arme, und ich gehörte ihm an. Mein Haupt ruhte an seiner Brust, und ich schaute ihm in das gewaltige Antlitz, mit dem er die Welt beherrschte, und das doch auf mir ruhte, als wäre ich ihm die ganze Welt. Kann ich mehr verlangen? Als die Götter auf Erden wandelten und sich in sterbliche Mädchen verliebten, blieben sie denen treu, die sie geliebt hatten? Und doch klagten jene nicht, daß sie verlassen seien. Warum nicht? Weil ein Mädchen stolz sein muß, wenn ein Gott es geliebt hat. Und was sind alle Götter des Olymp gegen meinen Juan! So will auch ich mich stolz seiner Liebe rühmen und wie einen Schatz bewahren, was er weggeworfen hat.«

»Nein, ich will nicht an ihn denken, ich darf's nicht, denn jeder Gedanke an ihn ist eine neue Sünde; ich fühle eine Angst, eine unbeschreibliche Angst, eine Angst, wie ich sie im Kloster fühlte, wenn ich in meiner einsamen Zelle saß, auf ihn wartete und mit Schrecken an die Verachtung der Priorin dachte, an die schrecklichen Strafen des Klosters und an meine Sünde wider Gott. Und doch war diese Angst mit meiner Liebe zu ihm unzertrennlich verbunden! Aber dann kam er, und die Disharmonie der Angst löste sich in die Harmonie seligster Gewißheit auf. Erinnert mich denn nun diese Angst nicht an ihn? ist sie nicht wie ein Herold, der vor ihm hergeht? Nein, ohne diese Angst kann ich nicht an ihn denken; aber wenn er kommt, dann gebietet er den Stürmen, daß sie schweigen, und die Geister, die mich ihm entreißen wollen, müssen ihm gehorchen, ich bin sein, selig in ihm.« –

Das ist Elviras Bild. Sie gleicht dem Menschen, der auf einem gescheiterten Schiff, unbekümmert um sein Leben, an Bord bleibt, weil er noch etwas retten will und es doch nicht retten[198] kann, denn er weiß nicht, was er retten soll. Auch Elvira ist in derselben Gefahr; aber was geht es sie an, sie sieht den Tod nicht, der ihr droht, möchte noch etwas retten, und weiß doch nicht, was.

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 187-199.
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