3. Vergessen

[68] Herzog Ai fragte den Meister Kung und sprach: »Ich habe von einem Menschen gehört, der so vergeßlich war, daß er bei einem Umzug seine Frau vergaß. Ist so etwas möglich?«

Meister Kung erwiderte: »Das ist noch nicht die schlimmste Vergeßlichkeit. Am schlimmsten ist, wenn man sich selbst vergißt.«

Der Herzog sprach: »Darf ich hören, wie das ist?«

Meister Kung sprach: »Da war vor Zeiten Gië aus dem Hause Hia. Er war vornehm genug, war er doch Großkönig. Er war reich genug, alle Welt war ihm untertan. Und da vergaß er den Pfad seiner heiligen Vorfahren, verderbte ihre Gesetze und Regeln und ließ ihre Opfer in Verfall geraten. Betört war er von Lust und Vergnügen und versunken im Wein. Schlaue Diener umkrochen ihn und lasen ihm seine Wünsche an den Augen ab. Die treuen Ritter hielten den Mund und suchten schweigend der Verfolgung zu entgehen. Die ganze Welt6 aber tat sich zusammen, vollzog das Gericht an Gië und nahm sein Reich in Besitz. Das heißt Vergeßlichkeit, die so weit geht, daß man sich selbst vergißt.«

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Absichtlich ist hier nicht Tang der Vollender erwähnt, sondern »die ganze Welt«, so daß das Gericht nicht als die Tat eines einzelnen Menschen, sondern als Naturnotwendigkeit erscheint.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 68.
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