1. Über die Sitte

[110] Meister Kung weilte in Muße. Dsï Dschang, Dsï Gung und Yen Yu standen vor ihm. Das Gespräch kam auf die Sitte. Meister Kung sprach: »Setzt euch, ihr drei, ich sage euch, durch die Sitte vermögt ihr in allen Lagen euch vollkommen durchzufinden.«

Dsï Gung nahm das Wort und erwiderte: »Darf ich fragen, wieso?«

Der Meister sprach: »Ehrfurcht ohne Sitte ist grob, Höflichkeit ohne Sitte ist Geschwätz, Mut ohne Sitte ist widerspenstig.« Der Meister fügte hinzu: »Der Schwätzer heuchelt Liebe.«

Dsï Gung sprach: »Darf ich fragen, wie kann man den Kern davon treffen?«

Der Meister sprach: »Der Sitte? Die Sitte stellt eben fest, was der Kern ist.«

Dsï Gung setzte sich und Yen Yu trat vor und sprach: »Darf ich fragen: Dann ist die Wirkung dieser Sitte wohl, daß sie das Schlechte beseitigt und das Gute vervollkommnet?«

Der Meister bejahte.

Yen Yu fragte: »Wieso das?«

Der Meister sprach: »Die Sitten für die Opfer auf dem Himmels- und Erdaltar weisen uns den Weg, den Überirdischen[110] unsere Liebe zu zeigen. Die Sitten für die Opfer im Ahnentempel weisen den Weg, den hingegangenen Geschlechtern unsere Liebe zu zeigen. Die Sitten für die Totenspenden weisen uns den Weg, den Abgeschiedenen unsere Liebe zu zeigen. Die Sitten für die Schützenfeste weisen uns den Weg, den Landsleuten unsere Liebe zu zeigen. Die Sitten für die Gastmähler weisen uns den Weg, den Gästen unsere Liebe zu zeigen. Wer den Sinn des Opfers für den Himmel und die Sitten des Ahnenopfers verstünde, der vermöchte das Reich zu regieren so leicht, als läge es vor ihm auf der Hand.

Wenn also im Hause Sitte herrscht, so nehmen Alter und Jugend ihre verschiedenen Stellen ein. Wenn in den Frauengemächern Sitte herrscht, so sind die Verwandten in Frieden. Wenn bei Hofe Sitte herrscht, so haben alle Beamten den gebührenden Rang. Wenn bei den Jagden Sitte herrscht, so bekommt man Leichtigkeit im Gebrauch der Waffen. Wenn im Heere Sitte herrscht, so werden kriegerische Werke vollbracht.

Auf diese Weise finden Schlösser und andere Gebäude ihren Stil, die Dreifüße und Platten ihre Form, die Arbeiten ihre rechte Zeit, die Musik ihren Rhythmus, die Wagen ihre Gestalt, die Überirdischen ihre Opfer, die Trauerbräuche ihren Ernst, die Wissenschaft ihre zuständigen Vertreter, die Beamten ihre Solidarität, die Geschäfte ihre Erledigung. Wendet man dies auf seine eigene Person an und gibt dadurch ein Vorbild, so treffen alle Bewegungen des ganzen Volkes das Richtige.«

Yen Yu setzte sich. Dsï Dschang trat vor und sprach: »Darf ich fragen, was ist der Sinn der Sitte?«

Der Meister sprach: »Die Sitte ist die Ordnung in allem Tun. Der Edle findet für jedes Geschäft, das er zu tun hat, die entsprechende Ordnung. Ein Reich ordnen zu wollen ohne Sitte, das ist wie ein Blinder ohne Führer, der unsicher tastend seinen Weg sucht; das ist, wie wenn man bei Nacht[111] in einem dunklen Zimmer etwas suchte. Wenn man kein Licht hat, was will man dann sehen? Ohne Sitte weiß man nicht, was man mit Hand und Fuß anfangen soll, worauf man hören und sehen soll, wann man vortreten und zurücktreten, Verbeugungen machen und den Vortritt lassen soll. Wenn keine solchen Bestimmungen vorhanden sind, so verlieren im Haus alt und jung ihre geziemende Stellung; im Frauengemach verlieren die Verwandten ihren Frieden; bei Hof verlieren die Beamten ihre Rangordnung; bei den Jagden verliert der Gebrauch der Waffen seine Leichtigkeit, und das Heer verliert seine Schlagfertigkeit.

Die Gebäude verlieren ihren Stil, die Geräte verlieren die edle Form, die Geschäfte verlieren die angemessene Zeit, die Musik verliert den Rhythmus, die Wagen verlieren die zweckmäßige Bauart, die Überirdischen werden ihrer Opfer nicht mehr teilhaftig, die Trauerbräuche werden ohne Ernst erledigt, die Wissenschaft verliert ihre zuständigen Vertreter, die Beamten verlieren ihre Solidarität, die Staatsgeschäfte bleiben unerledigt liegen. Auf die eigene Person angewendet gibt man dadurch den anderen ein schlechtes Beispiel, und alle Bewegungen des ganzen Volkes verfehlen ihren Sinn und Zweck. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, auf dem Wege der Ahnen die Welt zur Harmonie zu bringen.«

Der Meister sprach: »Hört sorgfältig zu, ihr drei, ich sage euch, es gibt noch neun Dinge, und bei den großen Gastmählern kommen besonders vier davon zur Ausübung. Wer diese kennt, der ist selbst inmitten der Rieselfelder ein berufener Heiliger1. Wenn zwei Fürsten sich treffen, so machen sie eine Verbeugung, lassen sich gegenseitig den Vortritt und treten dann ein. Wenn sie durch das Tor gehen, erhebt sich die Musik der Klangsteine und Glocken. Nach abermaligen Verbeugungen und einander den Vortritt lassend, steigen sie zur Halle empor. Sind sie zur Halle emporgestiegen, so hört die Musik auf.

Dann spielen unten die Holzbläser, und es wird ein Kriegstanz[112] vorgeführt, auf den ein friedlicher Tanz mit Flöten folgt.

Dann werden die Tafelgeräte aufgestellt und die Zeremonien und die Musik in der richtigen Reihenfolge angeordnet und die Beamten vollzählig aufgestellt. An diesen Vorbereitungen erkennt der Edle die Güte des Gastgebers. Die Bewegungen beim Gehen sind kreisförmig. Die Glocken der Wagen sind auf die Melodie Tsai Dsi gestimmt. Der Gast wird hinausgeleitet unter den Klängen der Yung-Ode2. Abgeräumt werden die Geräte unter den Klängen der Dschen-Yu-Musik.

Darum gibt es für den Edlen nichts, das nicht unter die Regeln der Sitte fiele. Daß beim Eintritt die Metallinstrumente spielen, zeigt die freundliche Gesinnung des Wirtes an. Durch den Gesang der Tsing-Miau-Ode3 beim Emporsteigen zeigt er seine Tugend. Durch die Tänze, die unten im Hofe zur Begleitung der Musik aufgeführt werden, zeigt der Wirt seinem Gaste die Zustände in seinem Land.

Die Edlen des Altertums brauchten darum nicht notwendig selbst miteinander zu reden. Durch ihre Sitten und ihre Musik zeigten sie einander ihre Art.

Die Sitte ist vernunftgemäße Ordnung, Musik ist Rhythmus. Ohne Sitte kann man sich nicht frei bewegen, ohne Rhythmus kann man nicht schaffen. Wer von der Poesie nichts versteht, der geht in Beziehung auf die Sitte in die Irre. Wer von Musik nichts versteht, der ist in Beziehung auf die Sitte zu trocken. Wer keine Geisteskraft besitzt, dessen Ausübung der Sitte bleibt äußerlich.«

Dsï Gung stand auf und sprach: »Dann war also der Einbein beschränkt?4«

Der Meister sprach: »Die Männer des Altertums und des höchsten Altertums nannten einen, der nur etwas von der Sitte verstand, aber nichts von der Musik, trocken, und einen, der nur von der Musik etwas verstand, aber nichts von der Sitte, einseitig. Der Einbein verstand nur etwas von[113] der Musik, aber nichts von der Sitte, darum ist er unter diesem Namen auf die Nachwelt gekommen. Er war ein Mann des Altertums.

Alle staatlichen Einrichtungen beruhen auf der Sitte, alle Kultur beruht auf der Sitte. Die Ausführung aber beruht auf den Menschen.«

Als die drei Schüler diese Rede des Meisters vernommen, wurden sie erleuchtet, als wachten sie aus einer Blindheit auf.

1

Anspielung auf die Sage von Schun, der vom Feld weg an den Hof von Yau berufen wurde.

2

Schï Ging 282; Strauß S. 483. Vg. Lun Yü 3, 2; Wilhelm S. 18–19, über den Mißbrauch dieser Ode.

3

Schï Ging 266; Strauß S. 467.

4

Der Einbein Kui war der sagenhafte Erfinder der Musik, siehe Lië Dsï S. 26, Lü Schï Tschun Tsiu S. 400.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 110-114.
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