2. Gesetz und Sitte

[124] Jan Yu befragte den Meister Kung und sprach: »Die alten Könige hatten ein Gesetz, daß die leiblichen Strafen nicht hinaufreichten bis zu den hohen Würdenträgern und die Sitten nicht herunterreichten bis auf den Mann aus dem Volk. Wenn nun aber ein hoher Würdenträger ein Verbrechen begeht, soll der dann nicht der Strafe verfallen? Und soll der Wandel des gemeinen Mannes nicht auch durch die Sitte geleitet werden?« Meister Kung sprach: »So ist es nicht. Um einen Edlen in Ordnung zu halten, muß man durch die Sitte auf seine Gesinnung wirken und ihn durch die Berufung auf sein Ehrgefühl zu freiwilliger Anerkennung bringen. Darum: Wenn in alter Zeit unter den hohen Würdenträgern einer war, der sich Unehrlichkeit und Bestechlichkeit hatte zuschulden kommen lassen, so entfernte man ihn aus seiner Stellung nicht mit der Begründung, daß er unehrlich und bestechlich sei, sondern man entfernte ihn aus seiner Stellung mit der Begründung, daß seine Einkünfte nicht geregelt seien1. Wenn sich einer einen unsittlichen Lebenswandel zuschulden kommen ließ, so entfernte man ihn aus seiner Stellung nicht mit der Begründung, daß er einen zuchtlosen Lebenswandel führe, sondern mit der Begründung, daß seine Familienverhältnisse nicht in Ordnung seien2. Wenn sich einer Widerspenstigkeit gegen die Oberen und Untreue zuschulden kommen ließ, so lautete die Begründung nicht, daß er widerspenstig und treulos sei, sondern daß er die Tugenden eines Beamten noch nicht genügend entfalte. Wenn sich einer Schwäche und Unfähigkeit im Amt zuschulden kommen ließ, so lautete die Begründung nicht, er sei schwach und unfähig im Amt, sondern sie lautete, seine Untergebenen täten ihre Pflicht nicht. Wenn[124] sich einer eigenmächtige Mißachtung der Grundgesetze des Staates zuschulden kommen ließ, so lautete die Begründung nicht, er habe eigenmächtig in die Grundgesetze des Staates eingegriffen, sondern sie lautete, er habe bei seinen Handlungen sich nicht vorher die Genehmigung eingeholt.

In diesen fünf Fällen wußten die hohen Würdenträger von selbst, welche Verschuldung sie auf sich geladen hatten. Deshalb vermied man es schonend, es ihnen geradeheraus auf den Kopf zuzusagen. Indem man sie auf diese Weise schonte, suchte man auf ihr Ehrgefühl zu wirken.

Wenn ein hoher Würdenträger sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte, das in den Bereich der fünf leiblichen Strafen fiel, so machte der Herrscher, wenn er davon hörte, ihm unumwunden Vorwürfe; darauf begab sich der Betreffende im Trauergewand mit einer Schüssel Wasser, über der ein Schwert lag, zum Palast und bat selbst um seine Bestrafung. Der Fürst sandte keine Häscher, um ihn festnehmen, binden und herbeischleifen zu lassen.

Wenn einer ein todeswürdiges Verbrechen begangen und das Urteil des Herrschers vernommen hatte, dann wandte er sich dem Fürsten zu, verneigte sich zweimal, kniete nieder und tötete sich selbst. Der Fürst sandte nicht Häscher aus, um ihn gefangenführen und hinrichten zu lassen. Dann konnte er sagen: Der Würdenträger hat sein Schicksal selbst gewählt, ich habe ihn behandelt, wie es die Sitte will.

Obwohl also die Strafe nicht hinaufreichte bis zu den hohen Würdenträgern, entgingen sie dennoch der Bestrafung nicht. Das war eine Folge ihrer Kultur.

Was nun das andere anlangt, daß die Sitte sich nicht bis herunter auf den gemeinen Mann erstreckte, so ist der Sinn der, daß der gemeine Mann seinen Geschäften nachgehen muß und nicht imstande ist, den Anforderungen der Sitte in allen Stücken nachzukommen, und daß man deshalb keine vollkommene Beachtung aller dieser Regeln ihm zumuten darf.«[125]

Jan Kiu verbeugte sich, erhob sich von seiner Matte und sprach: »Diese Worte sind wahrlich schön, ich habe so etwas noch nie gehört.«

Dann zog er sich zurück und schrieb sie auf.

1

wörtlich: daß seine bei den Opfern gebrauchten Körbe nicht in guter Verfassung seien.

2

wörtlich: daß seine Tür- und Bettvorhänge nicht in Ordnung seien.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 124-126.
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