3. Kapitel
Bei sich selber anfangen / Siän Gi

[31] Tang fragte den I Yin: »Wie macht man's, wenn man die Welt gewinnen will?« I Yin erwiderte: »Wenn man die Welt gewinnen will, läßt sich die Welt nicht gewinnen; aber sie läßt sich gewinnen, wenn man zuerst seinen eigenen Leib gewinnt.«

Die Grundlage aller Dinge ist es, daß man zuerst den eigenen Leib in Ordnung bringt und ihn als kostbares Gut zu schätzen weiß. Man muß stets neue Kräfte benützen und die veralteten abstoßen, so werden die Nervenbahnen gute Leiter der Lebenskraft11. Wenn man die Lebenskraft täglich erneuert und die störenden Kräfte alle entfernt, so wird man seines Lebens Jahre vollenden. Wer das kann, heißt ein wahrer Mensch.

Die weisen Könige des Altertums vollendeten sich selbst, und das Erdreich wurde vollendet; sie brachten sich selbst in Ordnung, und das Erdreich kam in Ordnung. So achtet der, der ein gutes Echo hervorbringen kann, nicht auf das Echo, sondern auf den Ton. Wer einen schönen Schatten werfen kann, achtet nicht auf den Schatten sondern auf den Körper. Wer das Weltreich handhaben kann, achtet nicht auf das Weltreich, sondern auf sich selbst. In den Liedern12 heißt es:


Ein herrlicher Mann ist unser Fürst

Und sein Benehmen ohne Tadel.

Da sein Benehmen ohne Tadel,

Folgt ihm des ganzen Landes Adel.


Damit ist gesagt, wer seine eigene Person beherrscht, der verwirklicht seine Lehren, und die Person wird gut. Wenn er das Rechte übt, so werden dadurch auch die anderen Menschen gut. Wenn es seine Freude ist, seinen Fürstenberuf vollkommen zu erfüllen, so kommen eben dadurch alle seine Diener in Ordnung, und alles Volk hat seinen Vorteil davon. Diese drei Dinge werden bewirkt durch das »Nichthandeln«. Vom Weg des Nichthandelns heißt es, daß er die Natur überwindet. Rechthandeln, das heißt sich selber nützen. Fürst sein, das heißt frei sein von sich selber. Wer frei ist von sich selber, der vermag gerecht zu hören. Sich[32] selber nützt man durch Gleichmut und Ruhe. Wer die Natur überwindet, der paßt sich den göttlichen Gesetzen seines Wesens an. Wer den göttlichen Gesetzen seines Wesens folgt, der wird verständig, klarblickend und langlebend. Wer Gleichmut und Ruhe besitzt, der fördert den Besitz seines Volkes und macht es seinem Einfluß geneigt. Wer recht zu hören versteht, der unterbindet die Falschheit und bleibt frei von Betörung.

So auch im umgekehrten Falle. Wenn der Herrscher von seinem Wege abweicht, so werden seine Grenzen von den Feinden erobert. Wenn er im geheimen vom rechten Wandel abweicht, so wird sein Name geschmäht in der Öffentlichkeit. Es ist gleich wie bei einem hundert Klafter hohen Tannenbaum: wenn er unten an der Wurzel beschädigt wird, so verdorren oben seine Zweige. So haben die Herrscher aus den Häusern Schang und Dschou13 erst falsche Gedanken in ihrer Brust gehegt, und deshalb versagten ihre Befehle in der Außenwelt.

Wem es gelingt, die richtige Gesinnung zu erlangen, dem gelingt es, sich Gehör zu verschaffen. Wem es gelingt, sich Gehör zu verschaffen, dem gelingen seine Unternehmungen. Wem seine Unternehmungen gelingen, dem gelingt Erfolg und Ruhm. Die fünf Herrscher trachteten erst nach der Wahrheit und ließen die Sorge für ihre Tugend dahinten. Darum erlangten sie eine Tugend, die von niemand übertroffen werden konnte14. Die drei Königsgeschlechter trachteten zuerst nach Tugend und stellten die Unternehmungen in den Hintergrund. Darum erreichten sie in ihren Unternehmungen schönere Erfolge als irgendwer15.

Den fünf Führern der Fürsten war es zuerst um die Unternehmungen zu tun. Sie stellten die Militärmacht in den Hintergrund, darum besaßen sie eine stärkere Kriegsmacht als irgendwer16.

Heutzutage tauchen allenthalben schlaue Pläne auf, und verräterische Methoden bieten sich zum Gebrauch dar. Die Angriffskriege hören nicht auf, und dennoch mehren sich die untergehenden Staaten und die in Schimpf und Schande geratenen Fürsten immer mehr. Das kommt davon, daß sie ihr Augenmerk auf das Äußerlichste richten.[33]

Fürst Ki aus dem Haus der Herren von Hia, kämpfte mit dem Herrn von Hu auf dem Felde von Gan und besiegte ihn nicht17. Die sechs hohen Räte baten ihn darauf, den Kampf zu wiederholen, aber der Fürst Ki aus dem Haus der Herren von Hia sprach: »Wir dürfen es nicht. Mein Land ist nicht klein, mein Volk ist nicht wenig, und dennoch habe ich nicht gesiegt. das kommt daher, daß meine Tugend zu schwach und meine Belehrung des Volkes zu ungenügend ist.« Darauf unterzog er sich allen möglichen Einschränkungen. Er gebrauchte keine doppelten Polster zum Sitzen, es gab keine zwei Gänge beim Essen, die Zithern und Lauten waren nicht bespannt, die Glocken und Pakuen wurden nicht aufgestellt, seine Söhne und Töchter trugen keinen Schmuck, er liebte seinen Nächsten und hatte Ehrfurcht vor dem Alter; er ehrte die Würdigen und gebrauchte die Tüchtigen. Kaum war ein Jahr vergangen, da unterwarf sich der Herr von Hu.

Darum: Wer andere besiegen will, muß sich erst selbst besiegen; wer andere richten will, muß sich erst selbst richten; wer andere kennen will, muß sich erst selbst kennen. In den Liedern heißt es: Er faßte den Zügel wie ein Gewebe18.

Meister Kung sprach: »Wer dieses Wort versteht, vermag dar Erdreich zu beherrschen.«

Dsï Gung sprach: »Was bedarf es dazu solcher Eile?«

Meister Kung sprach: »Ich meine nicht die Eile, sondern ich meine damit, daß, was man hier wirkt, dort als feste Linie der Ordnung wieder hervortritt. So webt der Weise gleichsam die Kultur seiner Persönlichkeit, und als Folge davon erscheinen die festen Linien der Ordnung im Weltreich.«

So sprach der Meister Hua Dsï: »Wenn Hügel und Berge vollendet sind, so finden die Höhlentiere ihre Ruhe. Wenn die große Tiefe des Weltmeers vollendet ist, so finden die Fische und Schildkröten ihre Ruhe. Wenn Kiefern und Zypressen ausgewachsen sind, so finden die Wanderer auf dem Wege Schatten.«

Meister Kung trat vor den Fürsten Ai von Lu19. Der Fürst Ai sprach: »Es hat jemand zu mir gesagt, den Staat lenken könne man vom Schloß aus. Ich halte das für übertriebenes Wort.«[34]

Meister Kung sprach: »Das ist kein übertriebenes Wort. Ich habe sagen hören, daß man dazu, was man bei sich selber fertigbringen kann, auch die andern bringen kann, und daß das, was einem bei sich selber mißlingt, auch bei andern mißlingt. Ohne aus der Tür zu gehen, das Erdreich zu beherrschen, dazu ist nur der imstande, der erkannt hat, daß man alles auf die eigene Person zurückführen muß.«

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 31-35.
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