5. Kapitel
Der runde Weg / Yüan Dau

[37] Des Himmels Weg ist rund, der Erde Weg ist eckig. Die heiligen Könige haben also das zum Vorbild genommen und dementsprechend Herren und Diener eingesetzt.

Was ist darunter zu verstehen, daß des Himmels Weg rund ist? Die Lebenskraft dringt nach oben und dringt nach unten, in rundem Kreislauf in sich geschlossen, ohne Stockung und Hemmnis. Darum heißt es: Des Himmels Weg ist rund.

Was ist darunter zu verstehen, daß der Erde Weg eckig ist? Alle Wesen sind verschieden an Art, verschieden an Gestalt. Alle haben sie ihre bestimmten Funktionen, die sie nicht miteinander vertauschen können. Darum heißt es, der Erde Weg ist eckig. Der Herrscher muß sich an das Runde halten, der Diener im Eckigen weilen. Wo eckig und rund nicht vertauscht sind, da blüht der Staat.

Der regelmäßige Wechsel von Tag und Nacht gehört zum runden Weg. Des Mondes Wanderung durch die 28 Mondhäuser vom Raben bis zur Jungfrau24, gehört zum runden Weg. Des Lichtes Wanderung25 durch die vier Jahreszeiten, einmal oben, einmal unten, daß jede zu ihrem Rechte kommt, gehört zum runden Weg. Wenn die Geschöpfe sich regen, so keimen sie; vom Keimen geht es zum Leben, vom Leben zum Wachstum, vom Wachstum zur Größe, von der Größe zur Reife, von der Reife zum Verfall, vom Verfall zum Sterben, nach dem Tode zur Erde zurück. Das gehört zum runden Weg.

Die Wolken und Winde wandern nach Westen in unaufhörlichem Zuge26 und halten nicht inne im Sommer noch Winter. Wasserquellen fließen nach Osten und hören nicht auf Tag und Nacht. Oben versiegen sie nicht, und die Tiefe wird nicht voll. Die kleinen Bächlein werden groß, und die schweren Wasser im Meer werden leicht und steigen als Wolken empor. Das gehört zum runden Weg.

Huang Di sprach: »Der Herrscher darf keinen bestimmten Platz haben; hat er einen Platz, so hat er keinen Platz.« Das heißt:[38] Er darf nirgends hängen bleiben. Das gehört auch zum runden Weg27.

Der Mensch hat neun Öffnungen. Wenn er mit seiner Aufmerksamkeit bei der einen verharrt, so stehen die andern acht leer. Stehen aber die andern acht dauernd leer, so stirbt der Leib. So hört bei gleichzeitigem Hören und Schmecken der Geschmack auf28. Bei gleichzeitigem Hören und Sehen hört das Hören auf. Das heißt: Wenn man an dem einen Gefallen findet, so darf man in dem einen nicht stecken bleiben. Hemmung des Kreislaufes führt zum Untergang. Das gehört auch zum runden Weg. Das Eine ist das Wichtigste. Man kennt nicht seinen Ursprung, man kennt nicht sein Ende, man weiß nicht, von wannen es kommt, man weiß nicht, wohin es führt. Und doch beruhen alle Dinge auf ihm als seinem Ahn. Die weisen Könige ahmen ihm nach, um ihr Wesen dadurch gesetzmäßig zu machen, um ihr Herrschen dadurch zu festigen und so Befehle erlassen zu können. Der Befehl geht aus dem Mund des Herrn hervor. Die Diener empfangen ihn und führen ihn aus. Tag und Nacht gibt's keine Unterbrechung; überallhin erstrecken sich seine Wirkungen. Er harmoniert mit dem Herzen des Volks und reicht nach allen vier Himmelsrichtungen. Ringsum verändert er seinen Kreislauf und kehrt zurück zum Ort des Herrschers. Das gehört auch zum runden Weg.

Ist ein Befehl rund, so vermögen Billigung und Mißbilligung, Lob und Tadel ihn nicht in seiner Wirkung zu behindern. Wenn nichts ihn zu behindern vermag, so ist der Weg des Herrschers wirkungsvoll. Darum sind die Befehle das, womit der Herrscher den Willen Gottes durchführt. Würdigkeit und Untauglichkeit sind es, durch die Wohlergehen oder Bestrafung bestimmt wird. Die Brauchbarkeit von Leib und Gliedern eines Menschen beruht darauf, daß sie empfänglich sind für die Einwirkungen der Seele. Wenn sie für diese Einwirkungen nicht empfänglich sind, so vermag man seinen Leib und seine Glieder nicht zu gebrauchen. Mit den Dienern eines Fürsten verhält es sich ebenso. Wenn die Befehle sie nicht beeinflussen, so vermag er sie nicht zu gebrauchen.[39] Wenn ein Fürst Diener besitzt, die er nicht gebrauchen kann, so wäre es besser, er hätte gar keine; steht ein wahrer Fürst auf, so macht er, daß jener sie auch noch verliert29. Schun, Yü, Tang und Wu machten es alle gleich. Noch ehe sie König wurden, setzten sie hohe Beamte ein und waren vor allem darauf aus, daß jene sich im Eckigen hielten30. Durch diese Eckigkeit wurden die Pflichten jedes einzelnen festgelegt. Sind die Pflichten festgelegt, so kommt es nicht vor, daß die Untergebenen unter einer Decke stecken.

Yau und Schun waren würdige Herrscher, beide hinterließen das Reich dem Würdigsten und gaben es nicht ihren Söhnen und Enkeln; und dennoch machten sie es ebenso: sie sorgten dafür, daß die Beamten »eckig« waren (d.h. jeder seine bestimmten Pflichten hatte)31.

Die Herrscher heutzutage wünschen alle, daß die Thronfolge in ihrer Familie nicht verloren gehe und geben ihre Reiche ihren Söhnen und Enkeln. Aber bei der Einsetzung der Beamten sind sie nicht imstande, ihnen eckige (d.h. klar umgrenzte) Pflichten zuzuweisen. Sie richten durch ihre egoistischen Wünsche Verwirrung an. Was soll das aber heißen? Ihre Wünsche richten sich auf die ferne Zukunft, und ihre Erkenntnis ist aufs allernächste beschränkt.

Die fünf Töne der Tonleiter stimmen alle überein, weil ihre Tonhöhe genau bestimmt ist. Die Noten Gung, Dschï, Schang, Yü, Güo haben alle ihren bestimmten Platz, und die entsprechenden Töne harmonieren, so daß keine Dissonanz möglich ist. Deshalb ertragen sie jede mögliche Verbindung untereinander. Ein würdiger Fürst wird es beim Einsetzen von Beamten ebenso machen. Jeder Beamte steht in seinem Amt und sorgt für seine Geschäfte in Abhängigkeit vom Fürsten. Dann wird der Fürst ganz sicher seine Ruhe haben. Wenn auf diese Weise ein Reich regiert wird, so wird das Reich sicher den Nutzen davon haben. Wenn man auf diese Weise dem Unheil vorbeugt, so kann sich das Unheil auf keine Weise nahen.

Fußnoten

1 Das Zeichen We (Magen) enthält drei Sterne der Fliege. Tsi Sing (Siebensterne) sind das Herz der Hydra (nicht unter den 28 Mondhäusern). Kiän Niu (Kuhhirt) ist Atair im Adler (der Stern ist ebenfalls nicht unter den 28 Mondhäusern).

Die Tonart Gu Siän (Reinigung) ist eine männliche Tonart.


2 Das Zeichen We (Magen) enthält drei Sterne der Fliege. Tsi Sing (Siebensterne) sind das Herz der Hydra (nicht unter den 28 Mondhäusern). Kiän Niu (Kuhhirt) ist Atair im Adler (der Stern ist ebenfalls nicht unter den 28 Mondhäusern).

Die Tonart Gu Siän (Reinigung) ist eine männliche Tonart.


3 Vgl. Buch I, Anm. 10.


4 Die Farbe dieser Kleider wird nach den besten Kommentaren mit der frischer Maulbeerblätter verglichen. Das Opfer soll Segen für die Seidenzucht bewirken.


5 Da der Himmelssohn in diesem Monat zuerst wieder zu Schiff geht, um zu fischen, müssen die Schiffe sorgfältig untersucht werden, ob sie nicht leck sind.


6 Um eventuelle Vorkehrungen gegen Überschwemmungen zu treffen.


7 Die neun Tore sind die Palasttore oder aber die Tore der Hauptstadt. Der Sinn ist, daß die Jagd in diesem Monat noch nicht aufgenommen werden darf. Fadenpfeile sind Pfeile, an deren hinterem Ende Fäden befestigt sind, so daß die erlegten Vögel herbeigezogen werden können.


8 Je mehr Seide aus den gelieferten Cocons gesponnen wird, desto besser ist die Arbeit.


9 Es handelt sich wohl um Überreste alter Vegetationsfeste. Auch in Lun Yü ist die Sitte, bei der es ähnlich wie zur Faschingszeit ziemlich toll hergegangen zu sein scheint, erwähnt. Diese Sitte, No genannt, bestand darin, daß man in den Häusern die Winkel und dunklen Ecken durchstöberte unter Trommeln und Schreien, um die bösen Geister zu verscheuchen. Wenn die Luft nicht normal ist, so kommen diese bösen Geister zur Wirkung. Darum zerriß man Hunde und Schafe, um auf diese Weise die Kraft des Holzes, die im Frühling herrscht, völlig zu machen, und so jene schädlichen Einflüsse auszugleichen (vgl. Lun Yü X, 10).


10 Wörtlich: die sich in Vertiefungen drehenden Türachsen werden nicht wurmstichig.


11 Es handelt sich hier um Anweisungen analog denen der indischen Yogapraxis, wie sie in den taoistischen Kreisen Chinas geübt wurden. Durch Einziehen neuer Luft und Ausstoßen des verbrauchten Atems wird dem Körper Pranakraft zugeführt. Dadurch wird der durch das Rückenmark laufende für gewöhnlich geschlossene Kanal (indisch suschumna genannt) für die Pranakraft durchlässig, die auf diese Weise zum Haupt emporsteigt und den ganzen Körper durchdringen und kräftigen kann. Der taoistische wahre Mensch (dschen jen) ist dasselbe wie der indische Yogin.


12 Gemeint sind die obengenannten schlechten Herrscher, Dschou Sin bzw. König Yu und König Li.


13 Gemeint sind die obengenannten schlechten Herrscher, Dschou Sin bzw. König Yu und König Li.


14 Die fünf Herrscher sind: Huang Di, Gau Yang, Gau Sin, Yau und Schun.


15 Die drei Herrscherhäuser sind: Hia, Schang und Dschou. Korrigiert nach Yu Lan 77.


16 Die im Kommentar genannten sind die sogenannten früheren Wu Be, nämlich: Kun Wu unter der Hia-Dynastie, Da Pong und Dschï We unter der Schang-Dynastie, Fürst Huan von Tsi und Wen von Dsin unter der Dschou- Dynastie.


17 Es liegt hier eine Parallelerzählung zu der Beschwörung von Gan vor, Schu Ging III, 2, 1. Doch ist im Schu Ging nicht von dem Mißerfolg und der darauffolgenden Buße des Königs Ki die Rede. Diese Geschichte erinnert vielmehr an die Bekehrung der Barbaren unter Schun durch Yü, vgl. Schu Ging I, 3, 21.


18 Dem Kommentar nach ist der Sinn dieser Stelle der: Wie ein Weber die Fäden in der Hand hat und damit die Zeichnung des Gewebes nach Belieben vollendet, ebenso hat ein guter Wagenlenker die Zügel in der Hand und versteht damit die Füße der Pferde nach Belieben zu lenken, so daß ihre Fußstapfen auch eine beliebige Zeichnung hervorbringen.


19 Gia Yü 13 10 ist statt des Fürsten Ai von Lu der Fürst Ling von We genannt, ebenso in Schuo Yüan 7, 2.


20 Wörtlich: er häuft Muskeln und Haut. Es liegt eine Textkorruption vor.


21 Wörtlich: bei gedoppeltem Essen. Der Text ist nicht ganz klar. Vermutlich soll es bedeuten, daß statt mehrerer Fütterungen nur eine stattfindet.


22 Es handelt sich um Herrscher wie Giä und Dschou Sin.


23 Die Gründer der drei Dynastien sind Yü, Tang und Wen Wang.


24 Jungfrau (Güo) ist das erste und Rabe (Tschen) ist das letzte der achtundzwanzig Mondhäuser.


25 Der Lauf der Sonne in der Ekliptik.


26 Gemeint ist der Monsun, der Regen bringt.


27 Nach Dschu Dsï Ping I 21, 8. Der Sinn ist: Der Herrscher muß sich über den Parteien halten und durch Nichthandeln seinen geistigen Einfluß ausüben. Wenn er sich auf eine bestimmte Partei stellt, so wird er ins Parteitreiben hineingezogen und verliert dadurch seinen eigentlichen Platz.


28 Vermutlich Anspielung auf die Geschichte von Konfuzius, daß er, als er die Schaumusik gehört, für drei Monate den Geschmack für Fleisch verloren.


29 Gemeint sind die Tyrannen Giä und Dschou Sin, deren Beamte von Tang und Wu Wang abspenstig gemacht wurden.


30 Vgl. oben den Gegensatz von rund und eckig.


31 Vgl. Dschu Dsï Ping I Band 22, Seite 9.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 37-40.
Lizenz:

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