2. Kapitel
Ermahnung zur Bildung / Küan Hüo

[43] Die Könige der Urzeit förderten die Kultur, indem sie nichts mehr auszeichneten als die kindliche Ehrfurcht und nichts mehr bevorzugten als treue Gewissenhaftigkeit. Gewissenhaftigkeit und Ehrfurcht ist der höchste Wunsch der Fürsten und Väter unter den Menschen. Bevorzugung und Auszeichnung ist der liebste Gedanke der Söhne und Beamten unter den Menschen. Daß es dennoch dahin kommen konnte, daß Fürsten und Väter ihren Wunsch nicht erreichten und Söhne und Beamte ihre Gedanken nicht verwirklichen konnten, das kommt von der Unkenntnis der Grundsätze der Vernunft22. Die Unkenntnis der Grundsätze der Vernunft entsteht durch Mangel an Bildung. Wer sich bildet bei einem erfahrenen Lehrer und die nötige Begabung hat, der muß ein Weiser werden; ich wüßte nicht, wie es anders möglich wäre. Ist aber ein Weiser da, so ist die Welt in Ordnung. Weilt er zur Rechten, so ist die Rechte wichtig, weilt er zur Linken, so is die Linke wichtig. Darum haben die weisen Könige des Altertums alle ihre Lehrer geehrt. Ehrt man seinen Lehrer, so fragt man nichts danach, ob er vornehm oder gering, arm oder reich ist. Auf diese Weise wird der Name berühmt,[43] und das geistige Wesen gewinnt nach außen hin Einfluß. Die Lehrer fragten bei ihrer Belehrung nichts danach, ob der Schüler Einfluß hatte oder nicht, ob er vornehm oder gering, arm oder reich war, sondern sie fragten danach, wie er sich zur Wahrheit verhielt. Ist der Mensch brauchbar, so werden seine Handlungen stets brauchbar sein. Was er sucht, wird er alles finden, was er wünscht, wird er alles vollenden. Diese Erfolge kommen daher, daß man es erreicht, weise zu werden. Ein Weiser wird man aber dadurch, daß man sich um seine Bildung Mühe gibt. Es ist noch nie vorgekommen, daß jemand, der sich um seine Bildung nicht Mühe gab, ein großer Gelehrter und berühmter Mann geworden wäre. Die Mühe um die Bildung besteht darin, daß man seinen Lehrer ehrt. Ehrt man seinen Lehrer, so folgt man seinen Worten, und er teilt uns die Wahrheit mit. Wer auszieht, um andere zu belehren, kann keinen Einfluß gewinnen. Wer sich seinen Lehrer bestellt, wird nicht von ihm beeinflußt werden23.

Wer sich selbst entwürdigt, der findet kein Gehör; wer den Lehrer entwürdigt, der hört nicht auf ihn. Wenn nun ein Lehrer eine Methode, durch die er weder Einfluß noch Gehör findet, ausübt und mit Gewalt den andern belehren will, um ihn anzuleiten zu einem ehrenwerten Benehmen, ist der nicht weit vom Ziel? Wenn ein Lernender in einer Lage verweilt, die Beeinflussung und Hören unmöglich macht und durch dieses Benehmen einen berühmten Namen und ein gesichertes Leben zu erlangen wünscht, der macht es wie jemand, der etwas Verfaultes am Busen hält und duften möchte, oder wie jemand, der ins Wasser geht und nicht naß werden möchte. Der Unterricht bedarf der Strenge, er darf nicht zum Spiel ausarten. Heutzutage sind die Unterrichtenden häufig nicht imstande, ihren Schülern mit Strenge zu begegnen, sondern suchen sie im Gegenteil zu erheitern. Aber wenn man nicht imstande ist, streng zu sein, sondern den Schüler erheitern will, so macht man es gerade so, wie wenn man einen Ertrinkenden retten würde und ihn nachher mit einem Stein vor den Kopf schlüge, oder wie wenn man einen Kranken heilen würde und ihm nachher Schirling zu trinken gäbe.[44]

Dadurch kommt die Welt immer mehr in Verwirrung, und untaugliche Herrscher werden dadurch immer mehr verblendet. Darum besteht die Aufgabe der Lehrer darin, daß sie der Vernunft zum Siege verhelfen und die Pflicht durchführen. Siegt die Vernunft und steht die Pflicht fest, so ist die Stellung der Lehrer geehrt. Könige, Fürsten und Vornehme werden es dann nicht wagen, ihnen hochmütig zu begegnen. Bis hinauf zum Himmelssohn werden sie sich bei ihm einfinden, ohne sich dessen zu schämen. Daß ein Lehrer mit einem Fürsten zusammentrifft, der zu ihm paßt, ist Zufall. Ein solches Zusammentreffen läßt sich nicht erzwingen. Wenn nun einer die Vernunft im Stiche läßt und die Pflicht vernachlässigt, um etwas zu erreichen, das sich nicht erzwingen läßt und dann noch dazuhin möchte, daß er geehrt wird, der sucht etwas Unmögliches zu vollbringen. Vielmehr muß ein Lehrer der Vernunft zum Sieg verhelfen und die Pflicht durchführen, dann wird er geehrt werden. Dsong Dsï sprach: »Wenn ein Edler auf der Straße geht, so kann man es aus seinem Benehmen sehen, ob er einen Vater, ob er einen Lehrer hat. Wer keinen Vater, keinen Lehrer hat, benimmt sich ganz anders. Was besagt dieses Wort? Es sagt, daß man dem Lehrer ebenso dienen müsse, wie man dem Vater dienen muß.«

Dsong Diän, der Vater Dsong Schens, hatte diesen einmal ausgeschickt, und er war über die Zeit nicht zurückgekommen. Da kamen die Leute alle zu Dsong Diän und sprachen: »Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein!« Dsong Diän erwiderte: »Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, so wäre das ja noch zu meinen Lebzeiten. Wie sollte er daher es wagen, sich etwas zustoßen zu lassen!«

Als Meister Kung in Gefahr war in Kuang, blieb Yän Hui zurück.

Meister Kung sprach: »Ich fürchtete schon, du seiest ums Leben gekommen.«

Yän Hui antwortete: »Wie sollte ich es wagen, ums Leben zu kommen, solange der Meister noch lebt24

Das Benehmen des Yän Hui Meister Kung gegenüber war genau dasselbe wie das des Dsong Schen seinem Vater gegenüber.[45] Weil nun die tüchtigen Männer des Altertums ihre Lehrer also ehrten, darum erschöpften die Lehrer ihre Weisheit und gingen bis auf den Grund der Wahrheit, um sie zu belehren.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 43-46.
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