4. Kapitel
Verhinderung des Unheils / Gin Sä

[86] Wenn man unter allen Umständen nur dem Verteidigungskrieg das Wort redet, so läßt es sich nicht vermeiden, daß auch Ordnungswidrige erhalten und Pflichtvergessene verteidigt werden. Aber Ordnungswidrige zu erhalten und Pflichtvergessene zu verteidigen ist das größte aller Übel und bringt den Menschen auf Erden den größten Schaden. Erhalten und verteidigen geschieht im besten Fall durch Ermahnungen, im anderen Fall durch Waffengewalt. Will man durch Ermahnungen zurechtkommen, so muß man sich der Mehrheit anpassen. Eine Sache, die man Tag und Nacht in großer Versammlung erwogen, muß man mit Aufbietung aller Geisteskräfte sich einprägen; im Schlaf träumt man davon, man redet sich die Lippen wund und die Lunge trocken, man gibt seinen ganzen Geist aus und schadet seiner Nervenkraft, man sucht Beispiele herbei von den drei Erhabenen und fünf Herrschern, um die Ideen schmackhafter zu machen, oder zitiert die Reden berühmter[86] Männer aus der Zeit der Hegemonien, um die Sache glaubhafter zu machen. Frühmorgens versammelt man den Hof und geht erst in später Nacht auseinander, um die Vertreter des Krieges zu überzeugen, man gibt sich alle Mühe und redet allen zu, um seine Gründe verständlich zu machen. Sind die Gründe alle vorgebracht und die Worte alle zu Ende, und es gelingt doch nicht, so appelliert man schließlich an die Waffengewalt. Der Appell an die Waffengewalt führt notwendig zum Krieg, und es liegt in der Natur des Krieges, daß darin notwendig Menschen getötet werden müssen. Auf diese Weise werden die unschuldigen Untertanen getötet, um die Ordnungswidrigen und Pflichtvergessenen zu schützen. Durch die Unterstützung der Ordnungswidrigen und Pflichtvergessenen wird aber die Schädigung der Welt befördert und der Vorteil der Welt verhindert. Obwohl man einen glücklichen Zufall herbeisehnt, der einem zum Sieg verhilft, so ist das Unheil dennoch im Wachstum begriffen. Die Ordnung der früheren Könige war, die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen. Das ist der Weg des Altertums, der sich nicht verändern läßt. Wenn man nun ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Sache unter allen Umständen den Angriffskrieg verdammen und den Verteidigungskrieg billigen wollte, so wäre das die größte Pflichtvergessenheit und würde den Menschen den größten Schaden tun. Darum darf man nicht den Angriffskrieg an sich verdammen, oder den Angriffskrieg an sich billigen, ebenso wie der Verteidigungskrieg nicht an sich verdammt oder gebilligt werden darf. Es handelt sich nur unter allen Umständen darum, daß ein gerechter Anlaß des Krieges vorhanden ist. Ist ein gerechter Anlaß des Krieges vorhanden, so ist sowohl der Angriffs- als der Verteidigungskrieg berechtigt. Ist kein solcher gerechter Anlaß vorhanden, so ist weder der Angriffs- noch der Verteidigungskrieg berechtigt.

Daß Giä aus dem Hause Hia und Dchou Sin aus dem Hause Yin in solcher groben Weise die Ordnung übertraten, kam daher, weil sie immer Glück hatten. Daß der König Fu Tschai aus Wu und der Dschï Bo Yau so räuberisch auf Eroberungen aus waren, kommt davon her, daß sie Glück hatten. Daß der Fürst Li von[87] Dsin7, der Fürst Ling von Tschen8, der Fürst Kang von Sung9 so schlecht waren, kommt davon her, daß sie Glück hatten.

Angenommen, daß Giä und Dschou Sin es vorher gewußt hätten, daß ihr Reich zugrunde geht und sie selbst dem Tode verfallen und ohne Nachkommen bleiben würden, wer weiß, ob sie es so weit in der Ordnungswidrigkeit getrieben hätten. Angenommen, daß König Fu Tschai von Wu und Dschï Bo Yau es vorher gewußt hätten, daß ihre Länder Einöden und sie selbst der Todesstrafe verfallen würden, wer weiß, ob sie es so weit getrieben hätten in ihren räuberischen Eroberungszügen. Angenommen, daß Herzog Li von Dsin es voraus gewußt hätte, daß er im Hause der Familie Dsiang Li ermordet werden würde, oder daß der Herzog Ling von Tschen es vorausgewußt hätte, daß er durch Hia Dscheng Schu getötet würde, wenn Fürst Kang von Sung es vorausgewußt hätte, daß er in Wen sterben würde, wer weiß, ob sie es so weit in ihrer Schlechtigkeit getrieben hätten.

Diese sieben Fürsten waren aufs äußerste ordnungswidrig und pflichtvergessen. Die unschuldigen Menschen, die von ihnen zu Tode gebracht wurden, lassen sich nicht nach Zehntausenden berechnen. Männer in kräftiger Jugendfrische, Greise und Kinder im Mutterleibe starben in solchen Mengen, daß sie die Ebenen der weiten Gefilde bedeckten und die tiefen Schluchten und großen Täler erfüllten. Sie schwammen in den Strömen und ihre Überreste lagen in Gräben und Kanälen umher. Das Leben war dauernd gefährdet durch schwirrende Pfeile und bloße Schwerter. Dazu kam noch Frost, Hunger, Mangel und Kälte mit ihren Leiden, und so ging es immer weiter bis auf unsere Tage. Darum sind die bleichen Gerippe und Knochen ohne Zahl, und die Massengräber erheben sich wie die Berge so hoch. Wenn es auf Erden gerechte Herren und gütige Ritter gibt, die sich diese Dinge zu Herzen nehmen, so müssen sie davon ergriffen und in Trauer versetzt werden. Wenn wir fragen, woher dies alles kommt, so ist die Antwort: es kommt daher, daß die Ordnungsgemäßen unterdrückt werden und die Ordnungswidrigen freien Lauf haben. Daß die Ordnungswidrigen freien Lauf haben, beruht aber nur auf unverdientem Glück. Das[88] Unglück der Welt kommt nicht davon her, daß man Verteidigungskriege führt, sondern davon, daß die Unwürdigen unverdientes Glück haben. Aber seit die Reden von der Alleinberechtigung des Verteidigungskriegs aufgekommen sind, haben die Unwürdigen erst recht unverdientes Glück und die Lage der Würdigen wird immer bedenklicher. So kommt die größte Unordnung auf Erden davon her, daß man ohne nach dem Recht zu fragen nur blindlings die ausschließliche Berechtigung des Verteidigungskriegs befürwortet.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 86-89.
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