5. Kapitel
Gnade üben / Huai Tschung

[89] Was ein Edler redet, ist nicht bloß Gelehrsamkeit; was ein Staatsmann spricht, sind nicht bloße Worte. Nur was der Vernunft entspricht, das redet er, nur was der Gerechtigkeit entspricht, das spricht er. Darum bewirkt ihr Reden und Sprechen, daß Könige, Fürsten und Große um so mehr die Vernunft lieben, die Ritter, Bürger und Volksmassen um so mehr die Gerechtigkeit üben. Wenn die Lehren der Gerechtigkeit und Vernunft klar sind, so hören die Kunstgriffe der Grausamkeit, Falschheit und Vergewaltigung auf. Grausamkeit und Falschheit sind das Gegenteil von Vernunft und Gerechtigkeit. Es liegt in ihrem Wesen, daß sie nicht beide siegen können, ja nicht einmal nebeneinander bestehen können. Darum, wenn die Heere in feindliche Länder eindringen, so sollen die Bürger wissen, daß sie Schutz genießen, und die Volksmassen wissen, daß sie nicht getötet werden sollen. Wenn sie auch vordringen bis zu dem Anger vor der Hauptstadt, so schädigen sie das Getreide doch nicht, sie entweihen nicht die Gräber, sie fällen nicht die Bäume, sie verbrennen nicht die Vorräte, zünden nicht die Häuser an, rauben nicht das Vieh, und wenn sie Gefangene machen von den Bürgern, so schicken sie sie wieder in die Freiheit zurück, um deutlich zu machen, daß sie nur die Fürsten hassen und die Untertanen lieben. Indem sie mit den Bürgern zu einem Verständnis kommen, nehmen sie dem feindlichen Herrscher die Grundlagen seiner Macht weg. Wenn trotz dieser[89] Handlungsweise halsstarrige, widerspenstige und verbrecherische Elemente da sind, die nicht hören wollen, gegen die mag man wohl mit Waffengewalt einschreiten.

Zuerst erkläre man in einer deutlichen Bekanntmachung: Unsere Heere sind gekommen, um die Bürger vom Tode zu retten. Euer Fürst sitzt auf seinem Thron, zuchtlos und übermütig. Er ist müßig, habgierig, tyrannisch, ausschweifend und eigensinnig. Er entfernt sich von den Einrichtungen der Heiligen, verunziert die Reihen seiner Ahnen und zerstört die alten Grundlagen des Staates. Nach oben hin gehorcht er nicht dem Himmel, nach unten hin liebt er nicht sein Volk. Er legt Lasten und Abgaben auf ohne Ende und erpreßt und fordert unersättlich. Er verurteilt die Unschuldigen zum Tod und belohnt und fördert die Unwürdigen. Einen solchen Menschen rottet der Himmel aus, und die Menschheit haßt ihn. Er ist nicht würdig Fürst zu sein. Nun sind unsere Heere gekommen um den, der seines Fürstentums unwürdig sich erwiesen hat, auszurotten, den Feind des Volkes zu beseitigen und so der Ordnung des Himmels zu gehorchen. Wenn unter den Bürgern solche sind, die des Himmels Ordnung widerstreben und den Feind der Menschheit schützen, so werden sie selbst getötet und ihre Familien ausgerottet ohne Erbarmen. Wer auf diese Worte hört mit seinem ganzen Haus, der soll zusammen mit seiner Familie belohnt werden. Wer mit seinem ganzen Weiler gehorcht, der soll belohnt werden mit einem Weiler. Wer mit seinem Landstrich gehorcht, der soll belohnt werden mit einem Landstrich; wer mit einer Stadt gehorcht, der soll belohnt werden mit einer Stadt; wer mit einer Großstadt gehorcht, der soll belohnt werden mit einer Großstadt.

Auf diese Weise unterwirft man einen Staat, aber man unterdrückt nicht seine Bürger. Man vollziehe die Strafe an dem, der gestraft werden soll und halte dann ein. Man erhebe seine bedeutenden Staatsmänner und belehne sie mit Besitztümern. Man ziehe seine würdigen und tüchtigen Männer heran und mache sie geehrt und berühmt. Man frage nach Witwen und Waisen und wende ihnen Hilfe und Barmherzigkeit zu. Man besuche die Angesehenen und Alten und erweise ihnen Ehrfurcht und Höflichkeit;[90] man vermehre ihr Einkommen und erhöhe ihren Stand. Man untersuche die Verurteilten und setze sie in Freiheit. Man verteile das Metall der Vorratskammern und das Korn der Speicher, um auf diese Weise die Massen zu beruhigen. Man eigne sich die Reichtümer nicht selbst an. Man frage nach den Heiligtümern und religiösen Bräuchen. Dinge, deren Abschaffung das Volk nicht wünschte, richte man wieder ein und vervollständige die Liste derer, deren Andenken durch Opfer geehrt werden soll.

Wer so handelt, dessen Namen werden die Würdigen rühmen, dessen Frömmigkeit werden die Alten preisen und dessen Tugend wird das Volk im Herzen tragen. Wenn es einen Mann gäbe, der auch nur einen Menschen vom Tod zum Leben zu erwecken vermöchte, so würde sich die ganze Welt im Wetteifer herzudrängen, um ihm zu dienen. Nun aber wird durch gerechte Kriege vielen Menschen das Leben gerettet. Wer sollte sie nicht preisen? Darum, wenn Heere, die einen gerechten Krieg führen, sich nahen, so fallen ihnen die Bürger der Nachbarstaaten zu wie Wasserströme, und die Bürger der bestraften Staaten hoffen auf sie, wie auf ihre Eltern. Je weiter sie vordringen, desto mehr Volks wird, noch ehe die Waffen gekreuzt werden, wie verwandelt.

Fußnoten

1 Der erste Herbstmonat ist der siebente Monat nach der Rechnung der Hiadynastie. Das Zeichen I enthält zehn Sterne des Bechers, Dou sechs Sterne des Schützen, Bi ist Aldebaran und die Hyaden.


2 Der Herbst entspricht dem Westen und steht unter der Herrschaft des Metalls. Vom Zehnerzyklus haben die beiden Zeichen Gong und Sin die Bedeutung: Metall. Schau Hau ist nach der Sage der Sohn des Di Gu. Er herrschte in der Macht des Metalls. Darum hat er den Beinamen der Herr des Goldenen Himmels. Nach seinem Tode wurde er als Gott des Westens und des Metalls verehrt. Jou Schou (der Schnitter) gilt als Nachkomme von ihm, er wird als Schutzgeist des Metalls verehrt. Die behaarten Tiere haben als Schutzgott den Tiger (der weiße Tiger ist der westliche Himmelsquadrant). Schang ist die Note des Metalls. I Dso (als Regel zu nehmen) ist eine männliche Tonart. Die Zahl der Elemente ist fünf, das Metall ist das Vierte. Daher 4 + 5 = 9. Der scharfe Geschmack entspricht dem Metall. Da in diesem Monat zuerst die Ernte eingebracht wird durch die Tore, so opfert man dem Torgeist. Die Leber ist ebenfalls dem Metall zugeordnet.


3 Der Falke tötet in diesem Monat mehr Vögel als er frißt und breitet sie ringsum als Opfergaben für seine Vorfahren aus.


4 Die klare Vollendung (Dsung Dschang) ist der westliche Flügel der Ming Tang. Das linke Gemach ist das am weitesten südliche.


5 Zur Zeit Huang Dis, der durch die Erdkraft regierte, machte Yän Di, der Feuerherr, einen Aufstand durch die Kraft des Feuers, die Huang Di durch die Kraft des Wassers dämpfte.


6 Tschï Yu ist ebenfalls aus dem Geschlecht des Yän Di (Schen Nung).


7 Über die Ermordung des Herzogs Li vgl. Dso Dschuan Herzog Tschong 18. Jahr.


8 Über die Ermordung des Herzogs Ling vgl. Dso Dschuan Herzog Süan 10. Jahr.


9 Über den Tod des Königs Kang von Sung vgl. Dschan Guo Tsche 10 und Sin Sü 4.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 89-91.
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