3. Kapitel
Entschlossenheit / Giä Li

[147] Wenn man vornehm und reich ist, ist es leicht, Menschen zu seiner Verfügung zu haben; wenn man arm und gering ist, ist es schwer, Menschen zu besitzen.

Einst mußte Herzog Wen von Dsin aus seinem Lande fliehen16. Er wanderte durch die ganze Welt, so arm, so gering, und doch verließ ihn Giä Dsï Tui nicht, denn der Fürst hatte etwas an sich, das ihn festhielt. Schließlich kehrte der Fürst in sein Land zurück und ward Herzog eines Großstaates, aber Giä Dsï Tui verließ ihn, da er nichts mehr an sich hatte, das ihn hätte festhalten können. So konnte der Fürst Wen wohl das Schwerere, aber nicht das Leichtere.[147] Das ist der Grund, warum er es nicht zur Beherrschung der ganzen Welt gebracht hat.

Fürst Wen von Dsin war in sein Reich zurückgekehrt. Giä Dsï Tui schlug die angebotene Belohnung aus und machte ein Gedicht:


Ein Drache flog durch die ganze Welt,

Fünf Schlangen folgten und halfen ihm.

Als der Drache zurückkam in seine Heimat und seinen Platz bekam,

Da folgten ihm vier der Schlangen und genossen seinen Tau und Regen.

Eine Schlange aber schämte sich dessen und starb stolz mitten im Felde.


Er hängte diese Schrift an dem Tor des herzoglichen Palastes auf und versteckte sich im Gebirge.

Herzog Wen hörte von dem Gedicht und sprach: »Ei, das ist sicher Giä Dsï Tui.« Darauf zog er sich in ein einsames Gemach zurück, legte andere Kleider an und richtete an Adel und Volk diesen Befehl: »Wer den Giä Dsï Tui findet, wird zum Hohen Rat erster Klasse ernannt und erhält eine Million Morgen Land.« Jemand begegnete ihm im Gebirge mit einem Kessel auf der Schulter und einem breiten Strohhut auf dem Kopf. Er fragte ihn: »Bitte, wo ist Giä Dsï Tui?«

Giä Dsï Tui antwortete ihm: »Der Giä Dsï Tui will unter keinen Umständen sich zeigen, sondern will verborgen bleiben. Wie soll ich etwas von ihm wissen?« Darauf wandte er sich um und ging weg und ward sein Lebenlang nicht mehr gesehen.

Die Gesinnungen der Menschen sind doch sehr verschieden. Die Leute von heutzutage, die auf Gewinn aus sind, kommen in aller Frühe zu Hofe und ziehen sich erst spät abends zurück, sie reden sich die Lippen wund und die Kehle trocken. Tag und Nacht sind ihre Gedanken wach und trotzdem ist es ihnen, als könnten sie es nicht erreichen. Kaum haben sie eine Stufe erreicht, so beeilen sie sich, sie sobald als möglich zu überspringen. Wahrlich Giä Dsï Tui war sehr verschieden von den Menschen der Masse.

Im Osten lebte ein Mann namens Yüan Ging Mu17. Er machte eine Reise und wurde unterwegs vom Hunger überwältigt. Ein[148] Räuber aus Hu Fu sah ihn und hielt ihm einen Topf Essen hin, ihn zu speisen. Dreimal schluckte Yüan Ging Mu, da konnte er wieder sehen. Er sprach: »Wer seid Ihr?« Jener erwiderte: »Ich bin ein Mann aus Hu Fu namens Kiu.« Yüan Ging Mu sprach: »O, bist du nicht der Räuber? Weshalb hast du mich gespeist? Die Pflicht verbietet mir dein Essen zu genießen.«

Darauf stützte er sich mit beiden Händen auf die Erde, um es wieder von sich zu geben. Aber es kam nichts heraus als Gegurgel. Da streckte er sich auf die Erde und starb.

Die Leute von Dschong eroberten Hu im Staate Han. Dschuang Giau bedrängte Yin im Staate Tschu. Die Leute von Tsin belagerten Tschang Ping im Staate Dschau. Die drei Staaten Han, Tschu und Dschau hatten unter ihren Führern und Vornehmen viele hochmütige Menschen, ihr Adel und Volk war zum großen Teil stark. Dennoch behandelten sie einander grausam und töteten einander, die Schwachen wurden vergewaltigt, sie flehten die anderen um ihr Leben an. Schließlich aßen sie einander auf, unbekümmert um Recht und Unrecht, nur in der Hoffnung auf eine glückliche Wendung, daß sie mit dem Leben davonkämen. Wie weit unterscheidet sich diese Gesinnung von dem Benehmen Yüan Ging Mus, der schon Nahrung zu sich genommen hatte und dadurch dem Tode entgangen war, aber aus Pflichtgefühl sich weigerte am Leben zu bleiben.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 147-149.
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