4. Kapitel
Gerechtigkeit im Belohnen / I Schang

[187] Wenn die Kraft des Frühlings sich naht, so treiben die Pflanzen. Wenn die Herbstkraft naht, so sterben sie ab. Treiben und Sterben beruht auf einer Veranlassung, es erfolgt nicht von selbst. Wenn die Veranlassung vorhanden ist, so treten die Zustände an den Dingen stets ein. Wenn die Veranlassung nicht vorhanden ist, so lassen sich jene Zustände nicht hervorrufen. Die Alten erforschten diese wirkenden Ursachen, darum standen ihnen die Dinge zu freier Verfügung.

Die Macht zu belohnen und zu bestrafen, das ist es, wodurch die Oberen zu wirken vermögen. Ist die Art ihrer Anwendung der Gerechtigkeit entsprechend, so blühen die Tugenden der Treue, des Glaubens, der Liebe und Zuneigung. Wenn sie lange blühen und dauernd zunehmen, so gewöhnen sich die Menschen daran als an ihre zweite Natur. Das ist die Vollendung der Kultur. Ist die Kultur auf diese Weise vollendet, so kann man sie auch durch große Belohnung und Androhung schwerer Strafen nicht mehr hemmen. Darum bewirkt jemand, der sich auf Kultur versteht, nicht dadurch eine vollendete Kultur, daß er dauernd belohnt und straft. Im Gegenteil, wenn die Kultur feste Gewohnheiten erzeugt hat, so können sie durch Lohn und Strafe nicht mehr beseitigt werden. Das Umgekehrte ist der Fall, wenn man Lohn und Strafe in verkehrter Weise anwendet. Dann kommen Falschheit und Hinterlist, Raub und Verwirrung, Habgier und Härte auf. Wenn sie lange im Schwange gehen, ohne abgestellt zu werden, so wird den Leuten die Ausübung solcher Dinge zur zweiten Natur. Dann aber lassen sich die wilden Völker, die West- und Ostbarbaren, die Türken und die Mongolen, die Leute von Ba38 und Yüo auch weder durch reichen Lohn noch durch Furcht und Schrecken mehr abhalten39.[187]

Die Leute von Ying bauten ihre Wälle mit zwei Brettern. Wu Ki wollte darin eine Änderung schaffen40, machte sich aber nur verhaßt.

Werden aber Lohn und Strafe abgeändert, so beruhigen sich die Leute. Die Leute41 von Dschï und Giang, wenn sie gefangen werden, sind gar nicht besorgt um ihr Ergehen, nur darüber sind sie betrübt, daß, wenn sie sterben, sie nicht verbrannt werden. An all diesen Beispielen zeigt es sich, wie es ist, wenn sich schlechte Sitten erst einmal eingebürgert haben; darum kann man bei Anwendung von Lohn und Strafe nicht vorsichtig genug sein, daß man nicht solche Dinge einbürgert, die dem Volke schaden.

Einst war Herzog Wen von Dsin im Begriff, dem Staate Tschu42 eine Schlacht zu liefern bei Tschong Pu. Er berief den Giu Fan zu sich und sprach: »Die Leute von Tschu sind uns an Zahl überlegen, was läßt sich dagegen tun.«

Giu Fan erwiderte: »Ich habe gehört, daß ein Fürst, der auf Formen aus ist, nicht genug bekommen kann an Äußerlichkeit, und daß ein kriegerischer Fürst nicht genug bekommen kann an Kriegslisten. Das einfachste ist, ihn auch zu überlisten.«

Der Fürst Wen erzählte die Worte des Giu Fan dem Yung Gi.

Yung Gi sprach43: »Wenn man einen Teich abläßt beim Fischen, so fängt man freilich etwas, aber im nächsten Jahr sind keine Fische mehr da. Wenn man ein Dickicht verbrennt um zu jagen, bekommt man auch Tiere, aber im nächsten Jahr sind keine Tiere mehr da. Der Weg der List mag für den Augenblick einen Erfolg ermöglichen, aber er läßt sich nicht wiederholen. Es ist keine Auskunft für die Dauer.«

Der Herzog Wen richtete sich nach dem Rate des Giu Fan und besiegte den Staat Tschu bei Tschong Pu44.

Als er aber bei seiner Rückkehr die Auszeichnungen verteilte, da verlieh er dem Yung Gi die höchste. Die Leute der Umgebung erhoben Einsprache und sagten: »Der Erfolg von Tschong Pu ist dem Rat von Giu Fan zu verdanken. Nachdem Ew. Hoheit sich sei nes Rates bedient, ist es wohl nicht angängig, ihn bei der Auszeichnung zurückzusetzen.«[188]

Herzog Wen sprach: »Die Worte des Yung Gi bringen Vorteil auf hundert Geschlechter, die Worte Giu Fans ließen sich nur eben dies eine Mal gebrauchen. Wie wäre es angängig, ein einmaliges Verdienst einem solchen vorzuziehen, das hundert Geschlechtern Vorteil bringt?«

Meister Kung hörte das und sprach: »Herzog Wen benützte im Augenblick der Schwierigkeit eine Kriegslist; damit bewies er seine Fähigkeit, seine Feinde zu besiegen. Heimgekehrt ehrte er den Weisen, damit bewies er, daß er geistigen Wert zu belohnen verstand. Obwohl er nicht bis zum Ende diesem Anfang entsprochen hat, genügten diese Eigenschaften, ihm zur Hegemonie zu verhelfen.

Wer reichlich zu belohnen versteht, nach dem richten sich die Leute; nach wem sich die Leute richten, dem gelingt sein Werk. Wer durch Betrug Gelingen erlangt, dessen Erfolg ist nicht von Dauer und seine Siege verwandeln sich in Niederlagen. Viele Fürsten haben auf Erden schon Siege errungen, aber zur Hegemonie haben es nur fünf gebracht. Herzog Wen ist unter diesen, weil er wußte, wie der dauernde Erfolg eines Sieges erreicht wird. Wer Sieg erlangt, aber nicht weiß, wodurch er den Sieg vollenden kann, der ist dem gleich, der gar nicht siegt. Tsin besiegte die Jungbarbaren45, aber unterlag bei Hiau; Tschu46 siegte bei Dschu Hia, aber unterlag bei Bo Gü. Dagegen König Wu hatte es erfaßt. Durch einen einzigen Sieg gewann er die Herrschaft über die Welt.

Wenn allerlei Listen in einem Staat im Schwange gehen, so kann er nicht zur Ruhe kommen und seine Not kommt dann nicht nur von außen.

Als Dschau Siang Dsï47 der Umzingelung (durch die Herren von Han, We und Dschï Bo) entgangen war, belohnte er die Männer von Verdienst, darunter Gau Schä als ersten. Dschang Mong Tan sprach: »In Dsin Yang48 hat sich Gau Schä keinerlei besonderes Verdienst erworben, warum wird er nun bei der Belohnung besonders ausgezeichnet?« Siang Dsï sprach: »Mein Land war in Gefahr, meine Dynastie in Not, ich selbst in Verlegenheit. Da war[189] es unter meinem ganzen Gefolge nur Gau Schä, der die Formen des Beamten mir als seinem Herrn gegenüber wahrte. Darum habe ich ihn vorgezogen.«

Kung Dsï hörte das und sprach49: »Siang Dsï hat es verstanden, richtig zu belohnen. Er belohnte einen Mann, und alle Beamten auf Erden lernten dadurch Höflichkeit.«

Sechs Heere sind wahrlich keine zu verachtende Macht. Im Norden hatte er Dai erobert, im Osten Tsi bedroht. Als er in Dsin Yang eingeschlossen war, da ließ er den Dschang Mong Tan heimlich über die Mauer steigen und ein geheimes Abkommen mit Huan von We und Kang von Han treffen, daß sie zusammen den Dschï Bo erschlugen. Er hieb ihm das Haupt ab und machte einen Trinkbecher daraus und hat im weiteren Verlauf die drei Familien (die den Staat Dsin unter sich teilten) in feste Verhältnisse gebracht. Das hat er alles dadurch erreicht, daß er sich auf das Strafen und Belohnen verstand.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 187-190.
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