1. Kapitel
Die Überwindung der Weltlichkeit / Li Su

[317] Woran es auf Erden fehlt, das ist Vernunft und Gerechtigkeit. Wovon zuviel vorhanden ist, das ist Unüberlegtheit und Leichtsinn. Es liegt in der Natur der Menschen, daß das, was fehlt, teuer ist, und das, was im Überfluß vorhanden, gering geschätzt wird. Darum werden bei Privatleuten und Beamten die Tugenden der Reinheit, Unbestechlichkeit, Geradheit um so mehr geehrt, je mehr sie Not erdulden. Ja wenn sie in den Tod gehen, so schätzt sie die Welt erst recht: denn solche Tugenden sind selten.

Wenn man aber die Maßstäbe der Vernunft und Gerechtigkeit anwendet um einen Schen Nung und Huang Di daran zu prüfen1, so wird man selbst an ihnen noch etwas zu tadeln finden, wie viel mehr an einem Schun oder Tang. Der »fliegende Hase« und der »Schlanke« waren die beiden besten Pferde des Altertums, und doch hatten sie ihre natürlichen Unvollkommenheiten. Darum wenn man das Holz alles nur nach der Schnur auswählen wollte, so könnte man keine Häuser fertig bekommen.

Schun wollte den Thron abtreten an seinen Freund den Bauern von Schï Hu2. Der Bauer von Schï Hu sprach: »Der Fürst ist ein eifriger unermüdlicher Mann, der sich durch Gewalt zu schützen sucht.« Damit erklärte er, daß er Schuns Wesen nicht für vollkommen erachtete, darum nahm er seine Sachen auf den Rücken, seine Frau trug die ihrigen auf dem Kopf, die Kinder führten sie an der Hand und so flohen sie vor ihm auf eine Insel im Meer und kamen ihr ganzes Leben lang nicht wieder zurück.

Schun wollte nun den Thron abtreten an seinen Freund Wu Dsï aus dem Norden. Wu Dsï aus dem Norden sprach: »Ein seltsamer Mensch ist doch der Fürst. Er lebte in den Feldern und wanderte zu den Toren eines Yau hinein. Und dabei hätte er es nun bewenden lassen können. Nun will er aber mit seiner Schande auch[317] noch mich beflecken, darüber muß ich mich schämen.« Damit stürzte er sich in den Seeabgrund von Tsang Ling3.

Als Tang den Giä anzugreifen im Begriff war, beriet er sich mit Biän Sui darüber, was zu tun sei. Biän Sui wies ihn ab und sprach: »Das ist nicht meine Sache.« Tang sprach: »Wer ist sonst brauchbar?« Biän Sui sprach: »Ich weiß es nicht.« Da wandte sich Tang an Wu Guang um mit ihm zu beraten. Wu Guang sprach: »Das ist nicht meine Sache.« Tang sprach: »Wer ist sonst brauchbar?« Wu Guang sprach: »Ich weiß es nicht.« Tang sprach: »Wie steht es mit I Yin?« Wu Guang sprach: »Er ist energisch und vermag Schande zu ertragen, sonst weiß ich nichts von ihm.« Darauf beriet sich Tang mit I Yin und griff Giä an und unterwarf ihn. Er wollte die Herrschaft an Biän Sui abtreten. Biän Sui lehnte ab und sprach: »Als Ihr den Giä angreifen wolltet, fragtet Ihr mich, Ihr hieltet mich wohl durchaus für einen Mörder. Nachdem Ihr den Giä besiegt, wollt Ihr mir den Thron überlassen, Ihr haltet mich wohl durchaus für habgierig. Ich lebe in einem Zeitalter der Verwirrung und nun kommt ein Mensch ohne Vernunft und beschimpft mich schon zum zweitenmal. Ich halte dieses Gerede nicht auf die Dauer aus.« Damit stürzte er sich in den Yingfluß und ertränkte sich.

Darauf bot Tang den Thron dem Wu Guang an, indem er sprach: »Seit alters ist es üblich, daß was der Kluge ausgedacht und der Starke vollendet, von dem Gütigen benützt wird. Wollt Ihr nicht den Thron einnehmen, ich will Euer Kanzler sein.«

Wu Guang lehnte ab und sprach: »Seinen Herren zu vernichten ist nicht pflichtgemäß, Menschen zu töten ist nicht gütig, wenn andre die Schwierigkeiten auf sich genommen, den Nutzen davon einzustreichen, das wäre nicht uneigennützig. Wer nicht gerecht ist, heißt es, von dem soll man keinen Gewinn annehmen. Einer Welt ohne Ordnung soll man nicht angehören. Und nun wollt Ihr mich dazu noch ehren. Ich halte es nicht aus, euch dauernd vor Augen zu haben.« Damit nahm er einen Stein auf den Rücken und stürzte sich in den Mufluß.

Der Bauer von Schï Hu, der Wu Dsï aus Norden, Biän Sui und[318] Wu Guang betrachteten die Weltherrschaft als etwas, das außerhalb der Welt sei, das den Blicken der Menschen entzogen sei. Sie sahen Ehre und Reichtum als etwas an, das, wenn es sich vermeiden ließ, sie nicht auf sich nahmen. Sie hatten hohe Ideale, und schliffen ihren Wandel, sie waren befriedigt in ihren Gedanken, und die Außenwelt konnte ihnen nichts anhaben. Sie ließen sich nicht beflecken durch den Gewinn, sie ließen sich nicht verlocken durch die Macht. Sie schämten sich in einer sündigen Welt zu wohnen. Nur diese vier Männer besaßen hohe Ideale.

Ein Schun und Tang umfaßten die Welt, schirmten sie und duldeten sie, sie hatten begonnen, weil sie nicht anders konnten. Sie hatten gehandelt, weil es an der Zeit war. Die Liebe und das allgemeine Beste war ihr Fundament, die Menschen waren es, denen ihre Pflicht galt. Sie glichen einem Fischer. Es gibt kleine und große Fische, trotzdem er den rechten Köder hat, bewegt sich die Angel, oder bewegt sie sich nicht4.

Tsi und Dsin waren im Kriege. Ein Soldat aus Ping O verlor seine Hellebarde und eroberte eine Lanze. Da wandte er sich und zog sich zurück und war innerlich unbefriedigt. Er sprach zu einem Manne auf dem Wege: »Ich habe meine Hellebarde verloren und eine Lanze gewonnen, kann ich damit nach Hause kommen?« Der Wanderer sprach: »Eine Hellebarde ist eine Waffe, eine Lanze ist ebenfalls eine Waffe. Wenn man eine Waffe verloren und dafür eine andere gewonnen hat, wie sollte man da nicht nach Hause kommen dürfen?«

Da ging er weiter, aber war doch noch immer unbefriedigt mit sich selbst. Da begegnete er dem Obersten von Gau Tang, namens Schu Wu Sun. Er trat seinem Pferd in den Weg und sprach: »Heute bei der Schlacht habe ich meine Hellebarde verloren und eine Lanze gewonnen, kann ich mich da zu Hause sehen lassen?« Schu Wu Sun sprach: »Eine Hellebarde ist keine Lanze, eine Lanze ist keine Hellebarde. Wenn Du Deine Hellebarde verloren hast und auch eine Lanze dafür gewonnen hast, wie kannst Du denken, Du habest Deine Pflicht getan?«

Da seufzte der Soldat von Ping O tief und kehrte in die Schlacht[319] zurück. Er lief was er konnte und kam noch eben recht. Er kämpfte bis er fiel.

Schu Wu Sun sprach: »Es heißt, wenn ein Edler einen in Not gebracht hat, so nimmt er sie auch auf sich.« Er spornte sein Pferd und folgte ihm. Auch er fiel und kehrte nicht zurück.

Wenn ein solcher Mann ein Heer zu führen hätte, würde er sicher sich nie zur Flucht wenden, wenn er den Fürsten zu schützen hätte, würde er sicher mit seinem Leben für ihn einstehen.

Nun fielen die beiden ohne besonderes Verdienst. Der Grund war, daß sie an einem unwichtigen Posten standen. Wer an einem unwichtigen Posten steht, kennt das Große nicht. Woher will man wissen, daß es auf Erden keine solchen Leute wie dieser Soldat und Schu Wu Sun mehr gibt. Deshalb muß ein Fürst, der einen treuen und uneigennützigen Diener will, es sich angelegen sein lassen, danach zu suchen.

Zur Zeit des Herzogs Dschuang von Tsi gab es einen Mann, namens Bin Be Dsü, der träumte von einem starken Mann, der trug einen weißseidenen Hut mit roten Schnüren, er hatte ein grünes Leinengewand und neue weiße Schuhe an, an der Seite trug er eine lange Schwertscheide. Der fuhr ihn an und spuckte ihm ins Gesicht. Da erschrak er und wachte auf, da war es nur ein Traum gewesen. Er saß die ganze Nacht wach und war mißvergnügt. Am andern Tage rief er seinen Freund und sagte zu ihm: »Von Jugend auf habe ich den Mut hochgeschätzt, nun bin ich 60 Jahre alt und ich habe noch keine Beschimpfung erlitten. Heute Nacht hat mich einer beschimpft, ich muß ihn ausfindig machen. Hoffentlich finde ich ihn, dann ist es gut, finde ich ihn nicht, so muß ich mir das Leben nehmen.« Darauf ging er jeden Morgen mit seinem Freund an die Straßenkreuzungen. Als er ihn nach drei Tagen noch immer nicht gefunden hatte, zog er sich zurück und tötete sich.

Wenn man es von der Seite der Verpflichtung ansieht, so lag eine solche nicht vor. Dennoch muß man den Mann darum achten, daß er eine Beschimpfung unter keinen Umständen duldete.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 317-320.
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