8. Kapitel
Schwierigkeit der Auswahl / Gu Nan

[341] Vollkommen sein bei der Auswahl der Menschen ist wirklich schwer, das liegt in der Natur der Sache. Man hat selbst einem Yau den Vorwurf gemacht, daß er seinen Sohn nicht geliebt habe, einem Schun, daß er seinem Vater ungehorsam gewesen, einem Yü, daß er den Thron für seine Familie begehrt habe, einem Tang und Wu, daß sie ihre Herren verdammt und getötet haben, den fünf Führern der Fürsten, daß sie andre Staaten annektiert und beraubt haben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es keine Vollkommenheit auf Erden. Darum richtet sich der Edle bei seinen Anforderungen an die Menschen nach dem Menschlichen, bei seinen Anforderungen an sich selbst nach der Pflicht. Wenn man von den Leuten nicht mehr als das menschenmögliche verlangt, so ist man leicht zu befriedigen. Ist man leicht zu befriedigen, so gewinnt man die Menschen. Wenn man die Anforderungen an sich selbst nach Maßgabe der Pflicht macht, so tut man nicht leicht etwas Unrechtes. Wenn man nicht leicht etwas Unrechtes tut, so wird der Wandel gut. So kann man allen Dingen in der Welt nachkommen und bleibt noch im Überschuß.

Ein Untüchtiger macht es nicht also. Er stellt seine Anforderungen an die andern Menschen nach Maßgabe der Pflicht und die Anforderungen an sich selbst nach Maßgabe des Menschlichen. So ist er bei seinen Anforderungen schwer zufrieden zu stellen. Ist man aber schwer zufrieden zu stellen, so verliert man die Anhänglichkeit der Menschen. Wenn man nur Menschliches von sich fordert, so macht man es sich leicht. Wenn man es sich leicht macht, so wird der Wandel nachlässig. Darum findet man auf der weiten Welt keinen Platz mehr zur Unterkunft. So zieht man sich selbst Gefahr und seinem Staate den Untergang zu. Das war der Wandel eines Giä und Dschou Sin, eines Yu und Li.

Ein Stück Holz, das auch nur einen Fuß lang ist, hat sicher Astlöcher. Ein Nephrit, der auch nur einen Zoll groß ist, hat sicher Flecken. Die alten Könige wußten, daß die Dinge nicht vollkommen sind. Darum richteten sie sich bei der Auswahl nach einer[342] guten Seite. Der Herr von Gi bedrohte die herzogliche Gewalt. Meister Kung hätte ihn gern auf das Rechte aufmerksam gemacht, aber mußte fürchten, abgewiesen zu werden. So nahm er den Lebensunterhalt von ihm entgegen und änderte seine Reden. In Lu verspottete man ihn deshalb. Meister Kung sprach: »Der Drache lebt vom Reinen und bewegt sich im Reinen, der ungehörnte Flügeldrache lebt vom Reinen, aber bewegt sich im Trüben. Der Fisch nährt sich vom Trüben und bewegt sich im Trüben. Ich kann mich nicht mit dem Drachen messen, aber mag mich auch nicht zu den Fischen heruntergeben, ich gleiche dem ungehörnten Flügeldrachen.«

Wer etwas vollbringen will, wie kann der immer genau nach der Schnur handeln? Wer einen Ertrinkenden retten will, muß sich naß machen, wer einen Entlaufenen einfangen will, muß rennen.

Fürst Wen von Liang We hatte einen jüngeren Bruder namens Gi Tschong und einen Freund namens Dschai Huang. Er wollte einen von ihnen zum Kanzler machen und konnte sich nicht entscheiden. Da fragte er den Li Ko. Li Ko sprach: »Wenn Ihr einen von ihnen zum Kanzler machen wollt, so fragt ob Lo Tong (den Gi Tschong empfohlen) oder Wang-Sun Gou-Duan (den Dschai Huang empfohlen) besser ist.«

Fürst Wen sprach: »Sehr gut, Wang-Sun Gou-Duan ist unfähig. Er ist von Dschai Huang empfohlen. Lo Tong ist tüchtig, er ist von Gi Tschong empfohlen.« So ernannte er den Gi Tschong zum Kanzler. Wenn man Gehör bei einem Fürsten hat, so muß man in der Beurteilung der Menschen vorsichtig sein.

Gi Tschong war der Bruder, Dschai Huang war der Freund des Fürsten, und dennoch kannte er sie nicht, woher konnte er da einen Lo Tong und Wang-Sun Gou-Duan kennen? Daß man einen Fernerstehenden und Untergeordneten besser kennen sollte als einen Verwandten, mit dem man dauernd umgeht, ist unnatürlich. Wenn man nach der natürlichen Neigung einen Kanzler wählen wollte, das wäre verkehrt, aber die Worte des Li Ko zu dem Fürsten Wen waren ebenfalls verkehrt. Aber wenn auch beides falsch war, so verhielt es sich doch wie Gold und Holz zueinander. Das Gold ist wohl weich, aber doch noch immer härter als Holz.[343]

Mong Tschang Gün fragte den Bo Gui: »Der Name des Fürsten Wen übertrifft noch den des Herzogs Huan und doch reichen seine Leistungen nicht an die der fünf Führer der Fürsten heran. Wie kommt das?« Bo Gui sprach: »Fürst Wen hatte Dsï Hia zum Lehrer und Tiän Dsï Fang zum Freund und verehrte den Duan Gan Mu. Darum ist sein Name berühmter als der des Herzogs Huan. Als er aber einen Kanzler auswählte, fragte er, ob Gi Tschong oder Dschai Huang besser sei, darum reichen seine Leistungen nicht an die der fünf Führer der Fürsten. Der Kanzler ist das Haupt aller Beamten. Wenn man einen dazu ernennt, muß man eine große Auswahl in Betracht ziehen. Er aber wählte nur unter jenen Beiden, damit blieb er hinter jenen, die ihre Feinde anzustellen wußten, weit zurück. Wenn man jemand zum Freunde oder Lehrer wählt, so sucht man allgemeine Eigenschaften. Wenn man seine Verwandten bevorzugt, so sucht man seine persönliche Bequemlichkeit. Wenn man aber das Persönliche über das Allgemeine stellt, so ist das eine Regierungsart, die den Staat zugrunde richtet. Daß er dennoch einen berühmten Namen erwarb, kam davon her, daß jene drei Männer ihn unterstützten.«

Ning Tsi22 wollte eine Anstellung beim Herzog Huan von Tsi, aber wußte nicht wie ankommen23. So diente er einem reisenden Kaufmann als Karrentreiber nach Tsi. Des Nachts übernachtete er außerhalb des Stadttors. Herzog Huan ging vor die Stadt, einen Gast zu empfangen. So wurden die Stadttore geöffnet, die Karren wurden beseitigt, helle Fackeln leuchteten und ein großes Gefolge kam hinter ihm. Da fütterte Ning Tsi gerade seinen Ochsen unter dem Wagen. Als er den Herzog Huan sah, da seufzte er, schlug an das Horn des Ochsen und sang.

Herzog Huan hörte es und ergriff die Hand seines Begleiters und sprach: »Wie seltsam der singt, das ist kein gewöhnlicher Mensch.« Und er befahl, daß man ihn auf dem hinteren Wagen mitführe.

Als Herzog Huan zurückgekehrt war, fragten die Leute seines Gefolges, was man mit jenem anfangen solle. Der Herzog Huan ließ ihm Hut und Kleider schenken, dann empfing er ihn. Ning Tsi[344] beriet ihn bei dieser Audienz über die Regierung des Innern. Am Tag darauf trat er wieder vor den Herzog Huan und beriet ihn über die Regierung der Welt. Herzog Huan war hocherfreut und wollte ihn anstellen. Da widersprach das Heer der Beamten: Der Fremde ist aus We. We ist nicht weit von Tsi. Es würde wohl besser sein, wenn Ihr jemand hinschicktet, um zu fragen, ob er wirklich tüchtig ist. Dann ist es noch immer Zeit genug ihn anzustellen.«

Herzog Huan sprach: »Nein, denn wenn man nach ihm fragt, so fürchte ich, es kommen etwa kleine Unzulänglichkeiten von ihm heraus. Aber um kleiner Unzulänglichkeiten eines Menschen willen seine großen guten Eigenschaften ungenützt zu lassen, das ist es, weshalb ein Fürst oft die Staatsmänner auf Erden verliert.«

Bei allem was man hört, kommt es auf gewisse Bedingungen an. Daß nun Herzog Huan nach einem einmaligen Hören gar nicht weiter nachfragte, kommt davon, daß er mit den Bedingungen, die zugrunde lagen, einverstanden war. Es ist wirklich schwer einen vollkommenen Menschen zu finden. Wenn man beim Abwägen der Vorzüge und Nachteile findet, daß die Vorzüge bei einem Menschen überwiegen, dann muß man ihn befördern. Das hat Herzog Huan verstanden.

Fußnoten

1 Vgl. Huai Nan Dsï 13.


2 Vgl. Dschuang Dsï Yang Wang Piän 28.


3 Vgl. Huai Nan Dsï 11.


4 Die großen Fische wie jene Weisen bissen nicht an.


5 Vgl. Gia Yü.


6 Vgl. Mo Dsï.


7 7500 Familien.


8 Diese Art der Beerdigung war ein Zeichen der Verurteilung durch den Fürsten.


9 We ist die Hausmacht des Vollenders Tang, Ki die der Dschoudynastie.


10 Vgl. Han Schï Wai Dschuan 2, Sin Sü 7.


11 Vgl. Huai Nan Dsï.


12 Der Zusammenhang der letzten beiden Sätze ist unklar.


13 Die Bücher von Dschou sollen auf den Herzog von Dschou zurückgehen.


14 Han Schï Wai Dschuan 10; Sin Sü Dsa Schï.


15 Gia Yü 18, 1; Sün Dsï 31; Dschuang Dsï XIX, 11; Han Schï Wai Dschuan 2; Sin Sü Dsa Schï 5.


16 In Dschu Dsï Ping I ist folgende Textkorrektur vorgeschlagen: Da sie wissen, daß ihre Kraft nicht ausreicht, so legen sie sich auf das Hintergehen. Hintergehen sie aber die Verordnungen, so kommen die Oberen wieder hinter ihnen her und bestrafen sie!


17 Text korrigiert nach Dschu Dsï Ping I.


18 Dso Dschuan Herzog Hi 25. Jahr; Huai Nan Dsï 12; Han Fe Dsï 11, 32; Sin Sü 4.


19 Dschu Dsï Ping I schlägt folgende Verbesserung vor: Würde die Erde nicht hart, so würde das Eis sie nicht dicht verschließen, und vergleicht dazu die Stelle Kap. X, I: Wenn man im ersten Wintermonat die für den Frühling giltigen Ordnungen befolgen wollte, würde das Eis nicht dicht schließen und die Kraft der Erde würde sich zerstreuen.


20 Vgl. Dso Dschuan, Gung Yang, Go Dsche, Schï Gi.


21 Guan Dsï Da Kuang 7. 18. Der im Text genannte Tsau Hui heißt wahrscheinlich Tsau Mo. Vgl. Schï Gi u.a.


22 Vgl. Huai Nan Dsï, Dan Ying.


23 Da er keine persönlichen Beziehungen zum Herzog hatte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 341-345.
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