6. Kapitel
Leitung der Wünsche / We Yü

[335] Wenn die Menschen ohne Wünsche wären, so könnte der Herrscher so tüchtig sein wie er wollte und könnte sie dennoch nicht gebrauchen. Wer keine Wünsche hat, dem ist der Großkönig gerade so gleichgültig wie irgendein Knecht, dem ist der Besitz der ganzen Welt so gleichgültig, als wenn er nicht so viel Platz hätte, um eine Stecknadel darauf zu stecken. Das Lebensalter eines Pong Dsu ist ihm so gleichgültig wie das eines frühverstorbenen Kindes. Der Stand eines Großkönigs ist der geehrteste Stand, der Besitz der Welt ist der größte Reichtum, das Alter eines Pong Dsu ist das höchste Alter; wenn einer aber wirklich frei von Wünschen ist, so können alle diese drei Dinge ihn nicht reizen, etwas zu tun.

Der Stand eines Knechts ist der niedrigste Stand, nicht so viel Platz haben, um eine Nadel darein zu stecken, ist die größte Armut, als unmündiges Kind zu sterben ist der vorzeitigste Tod, aber[335] wenn einer wirklich frei von Wünschen ist, so sind diese drei Dinge nicht imstande, ihn von irgend etwas abzuschrecken.

Wenn einer auch nur einen einzigen Wunsch hat, so mag man ihn im Norden bis Da Hia, im Süden bis Be Hu (wo die Sonne im Norden steht) im Westen bis San We (drei Klippen) im Osten bis Fu Mu (krummes Holz) schicken, und er wird nicht wagen, es für zu schwierig zu erklären. Man kann ihn veranlassen, einem schneidenden Schwert entgegenzugehen, durch einen Regen von Pfeilen zu schreiten, Wasser und Feuer zu durchlaufen, und er wird nicht wagen, sich zu weigern. Er wird des Morgens in aller Frühe aufstehen und sich mit Pflügen alle Mühe geben. Der Ackerbau ist das gewöhnlichste, anstrengendste und ungeehrteste Geschäft, und doch wird er nicht wagen, davon abzulassen. Darum, wenn ein Mensch viele Wünsche hat, so kann man ihn auch zu vielem gebrauchen. Wer wenig Wünsche hat, den kann man auch zu wenigem gebrauchen. Wer gar keine Wünsche hat, den kann man überhaupt nicht verwenden. Wenn ein Mensch aber auch viele Wünsche hat, und der Herrscher versteht es nicht, ihn zu leiten, so wird dieser Mensch, auch wenn er seine Wünsche erreicht, doch nicht zu brauchen sein. Darum muß man es wohl überlegen, auf welche Weise man die Menschen leiten muß, damit sie ihre Wünsche erreichen. Wer sich aufs Herrschen versteht, der wird es machen, daß seine Leute dauernd Bedürfnisse haben, die sie durch seine Leitung befriedigen, darum wird er sie auch dauernd zu seinen Zwecken benützen können.

Die Man und I, die Zungenwender, die Staaten mit verschiedenen Sitten und Gebräuchen haben andere Kleider, Hüte, Gürtel, Häuser, Wohnungen, Schiffe, Wagen, Geräte, Klänge, Farben, Wohlgeschmäcke (als das Reich der Mitte), aber in Beziehung darauf, daß sie Bedürfnisse haben, sind sie gleich. Das haben auch die drei Dynastien nicht ändern können. Aber daß sie, obwohl sie das nicht ändern konnten, dennoch ihre Werke vollbrachten, kam daher, daß sie ihrer Natur entsprachen. Ein Giä und Dschou Sin konnten davon auch nicht abweichen. Aber daß ihr Reich zugrunde ging, obwohl sie davon nicht abweichen konnten, das[336] kommt daher, daß sie ihrer Natur widerstrebten. Wer ihr widerstrebt, ohne zu wissen, daß er widerstrebt, der ist versunken in den Gewohnheiten. Wenn man an etwas lange gewöhnt ist, und nicht davon läßt, so wird es zur zweiten Natur. Wie die Natur auf diese Weise anders wird, als sie ursprünglich war, das muß man sorgfältig erforschen. Wer die Wahrheit nicht kennt, wie kann der diese Unnatur entfernen? Wer die Unnatur nicht entfernen kann, der vermag nicht in seinen Bedürfnissen das Rechte zu treffen. Wer in seinen Bedürfnissen nicht richtig ist, der wird, wenn es sich um seine Person handelt, eines unnatürlichen Todes sterben, wenn es sich um einen Staat handelt, den Ruin eines Staates herbeiführen. Darum richteten sich die heiligen Könige des Altertums nach dem, was sie als die göttliche Natur in den Menschen erkannt hatten und befriedigten dementsprechend die Bedürfnisse des Volkes. So gab es unter dem Volk niemand, der ihren Befehlen nicht gehorchte, und alle ihre Werke kamen zustande. So hielten sich die Heiligen an das Eine und die vier Barbaren nahten sich alle: das bedeutet eben die genannte Art und Weise.

Wer sich an das Eine hält, der ist am geehrtesten. Wer am geehrtesten ist, der hat keinen Gegner. Die heiligen Könige suchten ihr Heil darin, daß sie keine Feinde hatten, darum waren sie dem Leben der Menschen gewachsen.

Wenn z.B. eine Herde Hunde beisammen ist und ganz ruhig sich verträgt, und man wirft ein gebratenes Huhn unter sie, so streiten sie miteinander und zerbrechen sich die Knochen oder zerreißen sich die Sehnen, weil die Streitlust erwacht ist. Wenn die Streitlust da ist, so streiten sie, wenn die Lust nicht zu streiten da ist, so streiten sie nicht. So verhält es sich auch mit den Menschen; aber den Wettstreit in die gewünschten Bahnen lenken, das versteht unter 10000 Staaten nicht einer. Wer einen Staat wohl regiert, der veranlaßt seine Leute zum Wettstreit in der Ausübung ihrer Pflicht, wer seinen Staat in Verwirrung bringt, veranlaßt seine Leute zum Wettstreit in pflichtwidrigen Dingen. Ein starker Staat veranlaßt seine Bürger zum Wettstreit in der Bereitschaft von ihm gebraucht zu werden. Ein schwacher Staat veranlaßt seine Bürger[337] zum Wettstreit, sich dem Dienst des Staates zu entziehen. Darauf ob Wettstreit in Erfüllung der Pflicht und Bereitschaft zum Dienst des Staates herrscht oder Wettstreit in pflichtwidrigem Verhalten und dem Versuch, sich dem Dienst des Staates zu entziehen, beruht Glück und Unglück, das der Himmel nicht bedecken und die Erde nicht tragen kann.

Herzog Wen von Dsin griff Yüan an. Er machte mit seinen Soldaten aus, daß er in sieben Tagen damit fertig sein wolle. Sieben Tage vergingen und Yüan unterwarf sich noch nicht. Da befahl er, es auf sich beruhen zu lassen. Seine Ratgeber sprachen: »Yüan ist im Begriff sich zu ergeben. Das Heer bittet noch etwas zu warten.« Der Herzog sprach: »Wahrhaftigkeit ist der größte Schatz des Staates. Yüan zu bekommen und darüber diesen Schatz zu verlieren, ist etwas, das ich nicht tue.« So ließ er die Sache auf sich beruhen.

Im folgenden Jahr griff er es wieder an. Er machte mit seinen Soldaten aus, nicht eher heimzukehren, als bis sie Yüan gewonnen. Die Leute von Yüan hörten das, da ergaben sie sich.

Der Fürst von We18 hörte es und war der Meinung, daß die Wahrhaftigkeit des Herzogs Wen den höchsten Grad erreiche; so fiel er dem Herzog Wen zu. Das ist damit gemeint, wenn es in dem bekannten Worte heißt: Er griff Yüan an und erlangte We. Der Herzog war nicht ohne Wunsch, Yüan zu bekommen, aber durch Unwahrhaftigkeit Yüan zu erlangen, war ihm weniger erwünscht, als Yüan gar nicht zu erlangen. Nur durch absolute Wahrhaftigkeit wollte er es erlangen, darum fiel ihm nicht nur We zu. Von Herzog Wen kann man sagen, daß er sich darauf verstand, sich zum Ziel der Wünsche der Leute zu machen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 335-338.
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