1. Kapitel
Das Vorherwissen / Siän Schï

[234] Immer wenn ein Reich zugrunde geht, so gehen seine Weisen erst fort. Das ist dieselbe Sache zu allen Zeiten gewesen1.

Das Schicksal des Landes richtet sich nach der Hauptstadt, das Schicksal der Hauptstadt nach den Bürgern, die Bürger nach den Weisen. Wenn ein weiser Herr die Weisen für sich hat, so hat er das Volk, hat er das Volk, so hat er die Stadt, hat er die Stadt, so hat er das Land. Hat er das Land, was braucht er dann persönlich überall herumzureisen? Andere ermahnen für ihn seine Untertanen. Damit hat er das Wichtigste erreicht.

Der Großannalist von Hia, namens Dschung Gu, nahm seine Aufzeichnungen und Gesetzesordnungen hervor, hielt sie in der Hand und weinte. Aber der Herr von Hia, Giä, wurde nur immer schlimmer in seinem verblendeten und grausamen Wesen. Da entfloh der Großannalist Dschung Gu nach Schang.

Tang (der Herr von Schang) freute sich darüber und sprach zu den Fürsten: »Der König von Hia wandelt nicht auf dem rechten Weg. Er ist grausam gegen das Volk, unterdrückt seine Verwandten, beschimpft seine verdienstvollen Diener, verachtet seine Weisen, verwirft das Recht und hört auf Schmeichler. Die Massen sind alle unzufrieden mit ihm, die ordnungstreuen Beamten haben freiwillig bei mir in Schang Zuflucht gesucht.«

Der Geheimsekretär von Yin, namens Hiang Dschï, sah, daß Dschou Sin immer zügelloser wurde, da packte er seine Aufzeichnungen und Ordnungen auf einen Wagen und floh nach dem Lande Dschou.

Der König Wu war sehr erfreut und sprach zu den Fürsten: »Der König von Schang ist zuchtlos geworden, er hat sich dem Wein ergeben, den Gi Dsï hat er entfernt und treibt sich mit Weibern und Knaben herum. Die Ta Gi führt die Regierung. Lohn[234] und Strafe werden willkürlich verhängt, ohne die Ordnungen zu beachten. Drei Unschuldige hat er gemordet. Das Volk ist aufs äußerste empört. Die ordnungstreuen Beamten haben sich nach dem Lande Dschou geflüchtet.«

Der Großannalist von Dsin, Tu Schu, sah, daß Dsin in Verwirrung war, er sah, daß der Herzog von Dsin hochmütig und ohne Tugend und Gerechtigkeit war. Deshalb wandte er sich mit seinen Aufzeichnungen und Ordnungen nach Dschou.

Der Herzog We von Dschou2 empfing ihn und fragte ihn: »Welcher Staat auf Erden wird zuerst untergehen?« Er erwiderte: »Dsin wird zuerst untergehen.« Der Herzog We fragte nach der Ursache.

Er erwiderte: »Ich weilte in Dsin und wagte nicht gerade heraus zu reden. Darum suchte ich den Herzog von Dsin aufmerksam zu machen, indem ich ihn auf üble Vorzeichen am Himmel hinwies, wo Sonne, Mond und Sterne häufig von ihrer Bahn abwichen. Aber er sprach: »Was können diese Dinge tun?«

Darauf wies ich ihn abermals hin auf die menschlichen Verhältnisse, wo viele Ungerechtigkeiten vorkamen, so daß das Volk murrte. Aber er sprach: »Was kann das schaden?«

Darauf wies ich ihn abermals darauf hin, daß die Nachbarstaaten unwillig seien und die Weisen sich mißbilligend äußern. Aber er sprach: »Was kann das ausmachen?«

Damit bewies er, daß er nicht wußte, wodurch sein Untergang bedingt ist. Darum sage ich: »Dsin wird zuerst untergehen.«

Nach drei Jahren ging Dsin tatsächlich zugrunde. Da besuchte der Herzog We abermals den Tu Schu und fragte ihn: »Wer kommt nun daran?«

Er erwiderte: »Dschung Schan kommt zunächst daran.«

Der Herzog We fragte nach der Ursache, da erwiderte er: »Der Himmel erzeugte die Menschen und bestimmte, daß sie in Züchten leben sollten. Die Züchtigkeit ist die Pflicht der Menschen, das, wodurch sie sich von Vögeln, Tieren und Hirschen unterscheiden und worauf die Stellung von Fürst und Diener, Vorgesetzten und Untergebenen beruht. Aber die Sitten in Dschung Schan sind so,[235] daß sie den Tag zur Nacht machen und die Nacht wieder an den Tag anschließen. Männer und Weiber sitzen beieinander und liebkosen sich unaufhörlich. Alles ist voll Unzucht, Ausgelassenheit, Gesang und Sentimentalität. Und der Herrscher vermag es nicht, diesen volksverderblichen Sitten entgegenzutreten. Darum sage ich: Dschung Schan kommt zunächst daran.«

Nach zwei Jahren ging Dschung Schan tatsächlich zugrunde. Da besuchte der Herzog We den Tu Schu abermals und fragte: »Wer kommt nun daran?« Tu Schu erwiderte nichts. Als aber der Herzog We in ihn drang, da erwiderte er: »Ihr kommt zunächst an die Reihe!«

Da erschrak der Herzog We und suchte nach tüchtigen Leuten in seinem Staate. Er fand den I Dschï und den Tiän I und ehrte sie. Er fand den Schï Liu und Dschau Piän und machte sie zu Ratgebern. Er schaffte 39 lästige Verordnungen ab. Das sagte er dann dem Tu Schu. Der erwiderte: »So mag es vielleicht noch zu Euern Lebzeiten gut gehen. Ich habe gehört: Wenn ein Reich blühen soll, so schickt ihm der Himmel Weise und aufrichtige Staatsmänner. Wenn ein Reich zum Untergang bestimmt ist, so schickt ihm der Himmel zuchtlose Menschen und schmeichlerische Staatsmänner.« Als Herzog We starb, da stand sein Sarg neun Monate und konnte nicht begraben werden, und Dschou zerfiel in zwei Hälften. Darum darf man die Worte der Männer der Wahrheit nicht gering achten.

Auf den Opferkesseln3 der Dschoudynastie waren Oger abgebildet, Tiere mit einem Kopf und ohne Leib. Sie fressen Menschen, aber noch ehe sie sie hinuntergeschluckt haben, ereilt sie selbst das Unheil, das zeigt die Vergeltung. Wer übel handelt, dem geht es auch also.

Bo Gui kam nach Dschung Schan. Der König von Dschung Schan wollte ihn dabehalten, aber Bo Gui lehnte beharrlich ab, bestieg seinen Wagen und fuhr davon. Darauf kam Bo Gui nach Tsi. Der König von Tsi wollte ihn auch dabehalten und ihm ein Amt geben, aber er lehnte ebenfalls ab und ging weg. Als man ihn nach dem Grunde fragte, sagte er: »Die beiden Länder sind dem Untergang verfallen. Was sie gelernt haben, ist ein Fünffaches zu Ende.«[236]

»Und was ist dieses Fünffache zu Ende?« Er sprach: »Wenn es nichts Unbedingtes mehr gibt, so ist das Vertrauen zu Ende; wenn es nichts Rühmliches mehr gibt, so ist der gute Name zu Ende; wenn es keine Anhänglichkeit mehr gibt, so ist die Liebe zu Ende; wenn die Wanderer keine Wegzehrung haben und die Einheimischen keine Speise, so ist der Besitz zu Ende. Wenn man sich nicht anderer zu bedienen weiß und sich auch nicht selbst zu führen weiß, so sind die Erfolge zu Ende. Wenn in einem Staate diese fünf Dinge zu Ende sind, so geht er sicher zugrunde, wenn er nicht ganz besonderes Glück hat. Sowohl auf Dschung Schan als auf Tsi trifft das zu. Wenn die Könige von Dschung Schan und Tsi das hören könnten und würden es abstellen, so würden sie sicher nicht zugrunde gehen. Aber das Übel ist, sie hören es nicht und wenn sie es hörten, so würden sie es nicht glauben.«

Darum sollten die Herrscher sich alle Mühe geben, gut hören zu lernen. Denn es half dem Staate Dschung Schan nichts, daß er fünfmal Gebietsteile an Dschau abtrat4, es half dem Staate Tsi nichts, daß er ein allgemeines Aufgebot erließ und seine Heere am Flusse Dsi aufstellte5. Denn sie verwarfen, was sie hätte retten können und schufen, was ihnen den Untergang brachte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 234-237.
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