2. Kapitel
Ausschau in der Welt / Guan Schï

[237] Wenn es auf Erden auch Staatsmänner gibt, die die Wahrheit besitzen, so gibt es doch in einem einzelnen Lande nur wenige. Wenn in einem Umkreis von 1000 Meilen auch nur ein Staatsmann ist, so ist das schon, als stießen sie sich mit den Ellbogen. Wenn in mehreren aufeinanderfolgenden Geschlechtern auch nur ein Weiser ist, so ist das schon, als träten sie sich auf die Fersen. Da nun die Staatsmänner und Weisen so schwierig zu haben sind, und da man andererseits, wenn man gut Regiment will, notwendig auf ihre Hilfe bei der Regierung angewiesen ist, woher sollen sie da kommen? Ja, wenn es glücklicherweise welche gibt, so werden sie noch nicht einmal sicher erkannt. Werden sie aber nicht erkannt, so ist es gerade so, als gäbe es gar keine. Darum sind die Zeitalter guten[237] Regiments immer so selten und die Zeitalter der Verwirrung so häufig. So gibt es nicht vier Männer, die wirklich königliche Art hatten und keine sechs Männer, die es verstanden, die Lehensstaaten unter fester Hand zu leiten. Während Staaten, die dem Untergang verfallen sind, auf Sichtweite beieinander liegen und Herrscher, die in Gefangenschaft geraten, immer gleichzeitig mehrere da sind.

Gewinnt man einen Staatsmann, so bleibt man frei von diesen Leiden.

Das Haus Dschou hat im ganzen 400 Lehensstaaten errichtet, und Staaten, die sich ihm freiwillig unterwarfen, waren es über 800. Heute sind sie nicht mehr vorhanden und wenn sie noch vorhanden sind, so sind sie eben in Verhältnissen, die ihren Untergang bedingen6. Ein tüchtiger Fürst, der solches weiß, wird Tag für Tag sorgfältig sein, um es wenigstens zu Lebzeiten hinauszuführen. Es muß sein wie beim Bergsteigen. Der Bergsteiger steht selber schon an einem hohen Ort. Aber rechts und links hat er noch steile Felsen vor sich und Berge, die noch höher sind als sein Standort. So geht es auch, wenn man mit einem Würdigen zusammen lebt. Wenn man selber auch schon tüchtig ist, so sieht man doch in seiner Umgebung noch ein höheres Ideal von Tüchtigkeit verwirklicht.

So hat der Herzog Dan von Dschou gesagt: »Wer schlechter ist als ich, mit dem lebe ich nicht zusammen; denn er ist für mich nur eine Hemmung. Wer auf derselben Stufe steht wie ich, mit dem lebe ich nicht zusammen; denn er wird mir keinen Nutzen bringen. Nur die Tüchtigen!« Unter allen Umständen sollte man mit Leuten umgehen, die tüchtiger sind als wir. Das Mittel aber, durch das man mit Leuten, die tüchtiger sind als wir, zusammenleben kann, ist, sie höflich zu behandeln.

Wenn ein Fürst tüchtig und eine Generation wohl regiert ist, so sind die Tüchtigen oben auf, wenn aber der Fürst untüchtig und das Geschlecht in Unordnung ist, so sind die Tüchtigen unten. Gegenwärtig ist das Haus Dschou erloschen und es gibt keinen Weltherrscher mehr. Aber es gibt keine größere Unordnung, als[238] wenn es keinen Weltherrscher gibt. Gibt es keinen Weltherrscher, so überwältigen die Starken die Schwachen und die Mehrzahl vergewaltigt die Minderzahl. Man vernichtet sich gegenseitig mit Waffengewalt, ohne sich Ruhe zu gönnen und die Schönredner gewinnen Einfluß. So steht es heutzutage.

Darum wenn man Staatsmänner, die die Wahrheit besitzen, finden will, so muß man sie an Flüssen und Meeren, in Bergen und Tälern, in abgelegenen und verborgenen Gegenden suchen. Da kann man vielleicht, wenn man Glück hat, noch einen finden. So angelte Ta Gung am Dsï-Fluß: denn er lebte zur Zeit des Tyrannen Dschou Sin; darum fand ihn König Wen. König Wen besaß nur eine mittlere Macht, Dschou Sin war Weltherrscher. Daß ihn der Herr eines Mittelstaates fand und ein Weltherrscher ihn verlor, das kommt daher, daß ihn der eine erkannte und der andre nicht.

Die große Masse des Volkes kann man verwenden, ohne sie erst zu kennen, man kann ihnen befehlen, ohne sie erst höflich behandeln zu müssen. Dagegen die Staatsmänner, die die Wahrheit besitzen, muß man erst kennen und erst höflich behandeln, ehe sie ihre volle Weisheit und Fähigkeit entwickeln.

Als Yän Dsï7 nach Dsin ging, da sah er einen Menschen, der trug einen umgewendeten Pelzrock und schleppte Heu auf dem Rücken und ruhte aus am Rand der Straße. Er hielt ihn für einen edeln Mann. Darum ließ er ihn fragen: »Weshalb bist du in diese Lage gekommen?« Jener erwiderte: »Die Leute von Tsi haben mich als Sklaven verkauft, mein Name ist Yüo Schï Fu.« Yän Dsï sprach: »O!« Dann ließ er sein linkes Wagenpferd ausspannen, um ihn loszukaufen. Er nahm ihn mit sich auf dem Wagen nach Hause. Zu Hause angekommen, redete er weiter nicht mit ihm, sondern ging in das Haus hinein. Yüo Schï Fu ward böse und wollte die Beziehungen abbrechen. Yän Schï sandte jemand, um ihn aufzuhalten und ihm sagen zu lassen: »Bisher hatten wir noch keinen Verkehr, nun habe ich Euch aus der Not befreit, damit habe ich Euch doch nichts zuleide getan.

Yüo Schï Fu sprach: »Ich habe gehört, ein Edler wird mißachtet von denen, die ihn nicht kennen, aber er wird geachtet von[239] denen, die ihn kennen. Darum bitte ich, den Verkehr abbrechen zu dürfen.«

Da kam Yän Dsï persönlich heraus, suchte ihn auf und sprach: »Bisher habe ich nur Euer Äußeres gesehen, nun habe ich aber einen Blick in Euer Inneres getan. Ich habe gehört, wer den Tatbestand ermitteln will, hält sich nicht am Ton der Rede auf, wer den Wandel eines Menschen beobachtet, hält sich nicht über seine Worte auf. Ich will mich entschuldigen, und dann hoffe ich, daß Ihr mir's nicht weiter übel nehmet.«

Yüo Schï Fu sprach: »Da Ihr mich so höflich behandelt, so kann ich nicht anders als ehrfurchtsvoll Euch zu Willen sein.« Darauf machte ihn Yän Dsï zu seinem Ratgeber. Gewöhnliche Menschen werden, wenn sie etwas geleistet haben, auf ihre Tugend eingebildet. Sind sie eingebildet auf ihre Tugend, so werden sie hochmütig. Nun hatte Yän Dsï die Leistung vollbracht, daß er jenen aus seiner üblen Lage befreit hatte und dennoch demütigte er sich vor ihm. Darin stand er hoch über dem Durchschnitt. Das aber ist der Weg zu wirklichen Leistungen.

Der Meister Liä Dsï8 war so arm, daß ihm der Hunger aus den Augen sah. Ein Fremder erzählte es dem Kanzler Dsï Yang von Dschong und sprach: »Liä Yü Kou gilt für einen Weisen, der im Besitz der Wahrheit ist. Er wohnt im Reiche Eurer Hoheit und ist arm. Wollt Ihr etwa dafür gelten, daß Ihr die Weisen nicht schätzt?« Darauf ließ Dsï Yang von Dschong durch einen Beamten mehrere Dutzend Scheffel Getreide ihm überbringen.

Meister Liä Dsï trat vor das Tor, empfing den Boten, verneigte sich zweimal und lehnte ab. Als der Bote weg war und Meister Liä Dsï wieder hineingegangen war, da blickte ihn seine Frau an, preßte die Hand aufs Herz und sprach: »Ich habe gehört, daß Weib und Kind eines Mannes, der im Besitz der Wahrheit ist, eitel Freude und Wonne haben. Wir aber müssen Hunger leiden. Nun kam der Herr und schickte Dir Speise und Du nimmst sie nicht einmal an, wahrlich ein bittres Los!

Meister Liä Dsï sprach lächelnd zu ihr: »Der Fürst kennt mich nicht selbst, sondern auf anderer Leute Reden hin hat er mir Getreide[240] geschickt. Da kann es ebensogut einmal passieren, daß er mir Übles tut, ebenfalls auf anderer Leute Reden hin. Darum habe ich es nicht angenommen.«

Schließlich kam es richtig dazu, daß bei einem Tumulte, der sich unter dem Volke erhob, Dsï Yang getötet wurde.

Wenn man den Lebensunterhalt von einem Manne annimmt, so muß man sein Leben für ihn lassen, wenn er in Not kommt, sonst ist man pflichtvergessen. Läßt man aber sein Leben, so stirbt man für einen Übeltäter. Für einen Übeltäter zu sterben ist aber nicht recht.

Meister Liä Dsï entging auf diese Weise der Notwendigkeit, entweder pflichtwidrig oder unrecht zu handeln. Darin zeigte er sich tatsächlich als überlegene Persönlichkeit!

Ferner hat er, obwohl er unter Hunger und Kälte zu leiden hatte, nicht unbesehen jede Gabe angenommen, sondern hat erst den Charakter des Gebers in Betracht gezogen. Daß er erst den Charakter des andern in Erwägung zog, ehe er handelte, darin zeigte er seine große Lebenserfahrung.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 237-241.
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