3. Kapitel
Begreifen können / Dschï Dsiä

[241] Die Augen des Menschen sehen dadurch, daß sie auf etwas blicken; schließt man die Augen, so ist es ebenso, als wenn man gar nichts sähe. Darauf beruht der Unterschied zwischen Aufblicken und Schließen der Augen. Ein Mann mit verschlossenen Augen kann nichts sehen, weil er seine Augen nie aufmacht; deshalb können die Eindrücke vom Auge nicht ergriffen werden. Wenn man keine Eindrücke zu ergreifen vermag und doch vom Sehen redet, so ist das irrig.

Mit der Erkenntnis verhält es sich ebenso. Die Ursachen, die das Begreifen bewirken, sind für den Erkennenden dieselben, wie für den Nichterkennenden. Aber die beiden Menschen unterscheiden sich darin, daß der eine das, was der andere begreifen kann, nicht begreift. Die Begriffsfähigkeit des Klugen reicht weit, die Begriffsfähigkeit des Toren reicht nur in die Nähe. Wenn man nun einem[241] Manne, dessen Begriffsfähigkeit nur für Naheliegendes ausreicht, fernwirkende Dinge mitteilt, woher sollte das gegenseitige Verständnis in diesem Falle kommen? Ohne gegenseitiges Verständnis kann man einen aber trotz aller Mühe nicht aufklären.

Ein Westbarbar sah einen Tuchbleicher und fragte: »Aus was macht man das lange Ding da?« Jener zeigte auf den Hanf und wies ihn vor. Da wurde der Barbar böse und sprach: »Wer will aus dem wirren Ding da machen können das lange Ding da?«

Darum, wenn eine Stadt zugrunde geht, so liegt es nicht daran, daß keine weisen Staatsmänner und keine Würdigen vorhanden wären, sondern daran, daß der Fürst sie nicht begreifen kann. Das Unglück derer, die nichts begreifen, ist, daß sie sich selbst für klug halten, so daß sie wahre Weisheit sicher nicht begreifen. Wenn man aber nichts begreift und dazuhin sich selbst für klug hält, so ist das Verblendung. Und wenn es so steht, so hat der Staat keine Grundlage für sein Bestehen und der Fürst keine Grundlage für seine Sicherheit mehr.

Wenn jemand nicht begreift, aber selber weiß, daß er nicht weise ist, so hat man noch nie gehört, daß sein Staat untergegangen oder der Fürst in Gefahr geraten wäre.

Guan Dschung war krank9. Der Herzog Huan besuchte ihn und fragte ihn: »Eure Krankheit, Vater Dschung, ist schwer, was habt Ihr mir noch für eine Belehrung zu geben?«

Guan Dschung sprach: »Die Bauern von Tsi haben ein Sprichwort: So lang man im Amte weilt, soll man nichts bei sich behalten, geht man fort, so soll man nichts mit sich begraben lassen. Nun gehe ich auf eine weite Reise, was sollte da von mir noch zu erfragen sein?« Herzog Huan sprach: »Bitte, seid nicht allzu bescheiden!«

Da erwiderte Guan Dschung: »Ich wünschte, daß Ihr den I Ya, den Eunuchen Schu Diau, den Zauberer von Tschang und den Prinzen Ki Fang von We ferne halten möget!«

Der Herzog sprach: »I Ya hat seinen Sohn gebraten, um mir eine Freude zu machen, und sollte dennoch Mißtrauen verdienen?«

Guan Dschung erwiderte: »Es liegt nicht in der menschlichen[242] Natur, daß einer seine Kinder nicht liebt. Wenn einer es über sich bringt sein Kind zu schlachten, zu was wird er dann seinem Fürsten gegenüber erst fähig sein!«

Der Herzog sprach abermals: »Der Schu Diau hat sich selbst kastriert, um mir immer nahe sein zu können, und dennoch sollte er Mißtrauen verdienen?«

Guan Dschung erwiderte: »Es liegt nicht in der menschlichen Natur, seinen eigenen Leib nicht zu schonen; wenn einer nun das seinem eigenen Leib gegenüber über sich bringt, zu was sollte er da erst seinem Fürsten gegenüber nicht fähig sein?«

Herzog Huan sprach abermals: »Der Zauberer von Tschang versteht sich auf Leben und Tod, er kann Besessenheit vertreiben, und dennoch sollte er Mißtrauen verdienen?«

Guan Dschung erwiderte: »Leben oder Tod unterliegt dem Willen der Vorsehung, Besessenheit beruht auf Geistesschwäche. Wenn Ihr nicht auf den Willen der Vorsehung traut und Euer Wesen zu wahren wißt, sondern Euch auf den Zauberer von Tschang verlaßt, so wird der um dessentwillen zu allem fähig sein.«

Der Herzog Huan sprach abermals: »Der Prinz Ki Fang von We dient mir jetzt nun schon 15 Jahre lang. Als sein Vater starb, wagte er nicht zu seiner Beweinung in seine Heimat zurückzukehren. Und dennoch sollte er Mißtrauen verdienen?« Guan Dschung erwiderte: »Es liegt nicht in der menschlichen Natur, seinen Vater nicht zu lieben. Wenn einer das seinem Vater gegenüber fertigbringt, wozu wird er erst seinem Fürsten gegenüber fähig sein!«

Der Herzog sagte: »Ja.« Und als Guan Dschung gestorben war, da trieb er jene alle von sich.

Aber da schmeckte das Essen nicht mehr gut, das Schloß war nicht mehr in Ordnung, der Herzog litt an Besessenheit, und der Hof entbehrte der guten Formen.

Drei Jahre ging es so, da sagte der Herzog: »Der Vater Dschung ist doch wohl zu weit gegangen, wer will behaupten, daß Vater Dschung in allem recht hat?« Darauf berief er jene alle wieder zu sich.[243]

Im folgenden Jahre wurde er krank. Da ging der Zauberer von Tschang von ihm heraus und sprach: »An dem und dem Tag wird er sterben.« Darauf machten I Ya, der Eunuch Schu Diau und der Zauberer von Tschang eine Verschwörung, sie schlossen das Schloßtor ab, bauten eine hohe Mauer und ließen niemand zu ihm, indem sie das für einen Befehl des Herzogs ausgaben.

Eine der Frauen des Herzogs kletterte über die Mauer und kam zu dem Ort, wo der Herzog war. Der Herzog sprach: »Ich möchte etwas zu essen.« Die Frau sprach: »Ich kann nirgends etwas bekommen.« Der Herzog sprach wieder: »Ich möchte etwas zu trinken.« Die Frau sprach: »Ich kann nirgends etwas bekommen.« Der Herzog sprach: »Warum?« Die Frau erwiderte: »Der Zauberer von Tschang kam aus dem Inneren des Palastes heraus und sprach: ›An dem und dem Tag wird der Herzog sterben!‹ Da machten I Ya, der Eunuch Schu Diau und der Zauberer von Tschang eine Verschwörung, schlossen das Tor des Schlosses, bauten eine hohe Mauer und lassen niemand herein. Darum kann ich nichts bekommen. Und der Prinz Ki Fang von We hat durch eine Urkunde vierzig Ortschaften an We abgetreten.«

Da seufzte der Herzog tief auf, die Tränen traten ihm ins Auge und er sprach: »Ach! die Weisen sehen doch immer weiter! Wenn ich sterbe, wie werde ich erröten müssen, wenn ich dem Vater Dschung gegen übertreten soll.« Darauf verhüllte er das Gesicht mit seinem Ärmel und hauchte seinen Geist aus im Schloß des langen Lebens. Drei Monate blieb er unbeerdigt, so daß die Würmer zur Haustür hinauskrochen und man deshalb das Hoftor schließen mußte, damit sie nicht gesehen wurden. Das kam daher, weil er schließlich doch nicht auf die Worte des Guan Dschung gehört hatte.

Der Herzog Huan nahm nicht die Schwierigkeiten unwichtig, auch mißachtete er den Guan Dschung nicht. Aber es fehlte ihm an dem weiten Blick des Begreifens. Weil er ihn nicht begriff, darum machte er den wohlgemeinten Rat jenes Mannes zu nichte und bevorzugte jene, die er lieb und wert hielt.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 241-244.
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