1. Kapitel
Abgrenzung der Befugnisse / Schen Fen

[262] Jeder Herrscher muß erst die Befugnisse richtig abgrenzen, dann kann erst Ordnung geschaffen, unlautere, betrügerische, lügnerische und gemeine Machenschaften zum Aufhören gebracht werden, und üble Einflüsse und gefährliche Seuchen finden dann keinen Eingang mehr. Die Beherrschung der Persönlichkeit und die Beherrschung des Staates müssen sich nach denselben Grundsätzen richten. Wenn man z.B. ein allen gemeinsames Landgebiet gemeinschaftlich bebaut, so geht es langsam, weil Lässigkeit in der Arbeit vorkommt. Verteilt man das Landgebiet, so geht es geschwind, weil keine Lässigkeit mehr vorkommt. Ein Herrscher hat auch sein Gebiet. Wenn Fürst und Beamte auf demselben Gebiet sich betätigen, so hat der Beamte Gelegenheit, seine Unredlichkeit zu verbergen, der Fürst dagegen hat keine Möglichkeit, seine Verantwortlichkeit abzuschieben.

Gut zu handeln ist schwer, Gutes zu fordern ist leicht. Woher weiß ich das? Wenn ein Mensch mit einem Rennpferd um die Wette laufen wollte, so wäre das Pferd dem Menschen überlegen. Wenn aber der Mensch auf dem Wagen steht und an das Pferd Anforderungen stellt, so ist der Mensch dem Pferd überlegen. Wenn ein Herrscher es liebt die Geschäfte von Untertanen zu besorgen, so ist es, als würde er neben dem Pferde herlaufen; er zeigt sich sicher in vielen Stücken unzugänglich. Aber ein Herrscher hat auch seinen Wagen. Er soll auf seinem Wagen sitzen bleiben und ihn nicht verlassen, dann werden sich alle Guten bis aufs Äußerste in seinem Dienste anstrengen, die Schmeichler aber und Schurken, die schlauen und geschickten Schwätzer werden kein Unterkommen finden, die starken, entschlossenen, uneigennützigen, geraden, treuen und wahren Staatsmänner werden sich von allen Seiten zu seinem Dienst herbeidrängen.[262]

Der Wagen des Herrschers besteht darin, daß er andere zu verwenden weiß. Wer die rechte Art Menschen zu verwenden beherrscht, der hat die Möglichkeit, über alle vier Weltpole seinen Einfluß auszudehnen. Wer es nicht versteht, andere zu verwenden, sondern auf sich selber eingebildet ist, der nimmt seinen Leuten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weg, er gibt fortwährend Erlasse und Belehrungen heraus und ist stets geneigt, sich selber zu betätigen. Auf diese Weise kommen die Beamten in Unruhe und Verwirrung, die Untergebenen übergehen ihre Vorgesetzten, alle Verkehrtheiten erheben sich gleichzeitig und die höchste Macht fällt anderen zu als dem Fürsten, so daß er nichts mehr zu Ende zu führen und nichts mehr zu belehnen haben wird. Das sind die Zustände eines Staates, der für den Untergang reif ist.

Daß der berühmte Wagenlenker Wang Liang es verstanden hat, seine Pferde zu gebrauchen, beruhte darauf, daß er sie zu beherrschen wußte, indem er sie kurz im Zügel hielt, so daß kein Pferd es wagte, nicht seine ganze Stärke herzugeben. Ein Herrscher, der seine Sache versteht, hat auch Zügel, durch die er seine Beamten in der Hand hat. Was sind das für Zügel? Die Feststellung der Begriffe und die Begrenzung der Befugnisse sind die Zügel der Herrschaft. Er setzt die wirklichen Leistungen fest und begrenzt danach die Bezeichnungen, so daß er den Tatbestand erfaßt. Er hört auf die Worte und prüft die entsprechenden Taten, so daß keiner lässig oder widerspenstig zu sein wagt. Die Namen entsprechen häufig nicht der Sache und die Handlungen entsprechen häufig nicht ihrem Zweck, darum muß ein Herrscher notwendig die Bezeichnungen und Befugnisse festsetzen. Wenn die Bezeichnungen und Befugnisse nicht abgegrenzt sind, so ist es gerade, als wenn er Hemmungen haßte und dabei alles nur immer mehr hinderte. Die Verantwortung für solche Hemmungen liegt nicht bei den Beamten, sondern bei dem Herrscher. Unter den Beamten von Yau und Schun gab es nicht nur pflichttreue, unter den Beamten von Yü und Tang gab es nicht nur treue, aber sie wurden alle auf die rechte Weise behandelt. Die Beamten eines Giä und Dschou Sin waren nicht alle schlecht, die Beamten eines Yu und[263] Li waren nicht alle unwürdig, allein sie entbehrten der rechten Leitung.

Wenn z.B. jemand einen Ochsen suchte und ihn Pferd nennte, oder ein Pferd suchte und es Ochs nennte, so würde er sicher nicht finden, was er suchte. Wenn er dann obendrein streng und ärgerlich würde, so würden seine Knechte sicher ungehalten und mürrisch werden, und die Ochsen und Pferde kämen dadurch in Unordnung und Verwirrung. So sind die Beamten wie jene Knechte im Gleichnis, und die Menschen im allgemeinen die Ochsen und Pferde. Wenn ihre Bezeichnungen nicht richtig gestellt, ihre Befugnisse nicht geschieden werden und dann häufig mit Strafen vorgegangen wird, so führt das zur größten allgemeinen Verwirrung.

Wenn man von einem redet als verständig und bewandert, und er ist in Wirklichkeit töricht und unschlüssig, wenn man einen lobt als hoch und tüchtig und er ist in Wirklichkeit gemein und niedrig, wenn man einen preist als rein und lauter und er ist in Wirklichkeit in unreines Wesen versunken, wenn man ihn anstellt als uneigennützig und rechtlich und er ist in Wirklichkeit gierig und verkehrt, wenn man einen anstellt als tapfer und mutig und er ist im Gegenteil träge und feige, so sind alle diese fünf Fälle solche, da man ein Pferd Ochs nennt und die Namen nicht richtig sind. Darum, wenn die Namen nicht richtig sind, so hat der Fürst Mühsal und Bitternis und die Beamten sind in Unordnung und unzufrieden. Der Untergang des Staates, der Verlust des Nachruhms kommt davon her. Wenn man etwas weiß machen will und es wird immer schwärzer, wenn man etwas sucht und es immer weniger findet, ist es infolge dieses Vorgehens.

Darum: wer Ordnung schaffen will, muß zu allererst die Namen richtig stellen. Sind die Namen richtig gestellt, so hat der Herrscher keine Sorgen. Ist er frei von Sorgen, so braucht er die Kraft seiner Augen und Ohren nicht zu überanstrengen.

Er fragt und befiehlt nicht; er weiß es besser und will doch nicht alles besser machen; er ist milde und nicht anmessend; er leistet etwas und bildet sich nichts darauf ein.[264]

Was unbeweglich ist wie die Erde, läßt sich nicht beweglich machen. Was beweglich ist wie das Wasser, läßt sich nicht unbeweglich machen. Wer aber die Dinge nach ihrer Natur zu gebrauchen versteht, der wird nicht von den Dingen der Außenwelt beherrscht und ist nicht gewillt zu dienen. Er ist rein und still und darum allgemein. Sein Geist durchdringt die sechs Weltrichtungen. Sein Charakter leuchtet bis jenseits des Meeres. Seine Gedanken erschauen das Unendliche, sein Ruhm dauert unaufhörlich. Das heißt das Wesen der Dinge feststellen in dem großen Ozean, der da heißt das Nichtsein.

Beim Erlangen des Sinns vergißt man die Menschen, aber man bekommt so die Menschen erst recht. Aber darin besteht nicht der Sinn. Beim Erkennen des Lebens vergißt man das Erkennen, aber man bekommt so das Erkennen erst recht. Aber darin besteht nicht das Leben. Höchstes Erkennen bezieht sich nicht auf das Nächstliegende. Aber durch seine Ruhe macht es auch das Nächstliegende klar. Aber darin besteht nicht seine Klarheit. Höchste Klarheit ordnet nicht die Einzelheiten, aber durch ihre Muße ordnen sich die Einzelheiten von selbst. Aber darin besteht nicht die Muße. Der wahre Mensch hat keine Einzelgeschicklichkeiten. Aber er ist vollkommen und darum zu allem geschickt. Aber darin besteht nicht seine Vollkommenheit. Darum: wer seine Vollkommenheit frei halten kann von Einzelgeschicklichkeiten, wer seine Muße frei halten kann von den Einzeldingen, wer sein Erkennen frei halten kann von dem Naheliegenden, dessen Erkenntnis ist wunderbar.

Auf diese Weise vermag er der ursprünglichen himmlischen Idee seines Wesens zu folgen, sein Lebensatem vermag im Raum der ewigen Stille zu wandern. Sein Leib vermag an dem natürlichen Platze zu weilen. Er ist völlig im Besitz aller Dinge, ohne daß er den Herrn spielt. Er spendet der ganzen Welt Segen und niemand weiß woher es kommt. Und selbst wenn einer es in diesen fünf Stücken noch nicht zur Vollkommenheit gebracht hat, so ist auch das Streben danach schon etwas wert.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 262-265.
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