2. Kapitel
Was der Fürst wahren muss / Gün Schou

[265] Wer den Sinn erfaßt hat, ist ruhig. Wer ruhig ist, meidet das Wissen. Wer den Wert des Nichtwissens erkennt, mit dem kann man über den Weg des Fürsten reden.

So heißt es: Wer die Wünsche des Inneren nicht herausläßt, heißt geschlossen. Wer die Wünsche der Außenwelt nicht in sich hineinläßt, heißt gefestigt. Wer in sich geschlossen und nach außen gefestigt ist, der hat das Geheimnis der Wirkung des Himmels. Er hat das Maß in der Hand, aber benützt es nicht zum Messen, er hat die Meßschnur, aber benützt sie nicht zum Richten. Des Himmels Größe ist seine Ruhe. Wer ruhig ist und noch dazuhin standfest, der vermag das Vorbild der Welt zu sein. Der Leib birgt die Seele in sich, die Seele birgt die Weisheit in sich, so ist die Weisheit tief verborgen und dennoch wirklich, doch läßt sie sich nicht erspähen. In der Großen Regel heißt es1: »Der Himmel bestimmt unsichtbar das Schicksal der Menschen hienieden.« Die Verborgenheit ist es, wodurch die Äußerungen hervorgebracht werden.

Darum heißt es: »Ohne aus der Tür zu gehen, er kennt man die Welt, ohne aus dem Fenster zu blicken, erkennt man des Himmels Lauf2. Je weiter einer in die Ferne schweift, desto geringer wird sein Erkennen.« Darum kommen Menschen, die auf vieles hören und Staatsmänner, die mit Gewalt alles wissen wollen, in Verlegenheit. Überanstrengung der Sinne und des Denkens, schadet nur. Die sophistischen Begriffsspaltereien3 von fest und weiß, die Spitzfindigkeiten über das Dickste auf der Welt und so weiter gehen fehl. Dadurch daß man nicht ausgeht, kommt man hinaus, dadurch daß man nichts macht, macht sich alles. Das heißt: durch positive Kraft Positives, durch negative Kraft Negatives anziehen.

Wenn das Wasser am äußersten Punkt des Ostmeers angelangt ist, so kommt es wieder zurück4. Nach der größten Sommerhitze wandelt sich das Wetter und wird kalt. So hat auch der erhabene5 Himmel keine Gestalt und doch verdanken alle Wesen ihm ihr Dasein, der höchste Geist macht nichts und alle Dinge gestalten sich durch ihn, der große Weise tut keine Arbeit und sämtliche Beamte[266] leisten alle ihr Bestes. Das ist es, was man Belehrung ohne Lehren und Unterweisung ohne Worte nennt.

Darum: Es gibt etwas, woran man erkennt, wenn ein Fürst verrückt ist: wenn nämlich seine Worte alle das Rechte treffen. Es gibt etwas, woran man erkennt, wenn ein Fürst betört ist: wenn nämlich seine Worte alle stimmen. Ein wahrer Fürst trifft das Rechte, wenn er nicht immer das Rechte trifft, er stimmt am besten, wenn nicht alle seine Worte immer stimmen. Das Rechte zu treffen und zu stimmen ist nicht Sache des Fürsten, sondern der Beamten.

Darum, wer es versteht ein Fürst zu sein, der will nicht alles besser wissen; die nächste Stufe ist einer, der nicht alles selber machen will. Denn wenn er alles besser wissen will, so irrt er sich zuweilen, wenn er alles selber machen will, so kommt ihm zuweilen ein Fehler vor. Solche Irrtümer und Fehler sind es, durch die die Beamten irre gemacht werden, sie sind der Punkt, wo Mißbräuche sich einschleichen.

Bei einem Wagen bedarf es verschiedener Handwerker damit er zustande kommt, aber ein Staat, sollte der nicht viel mehr sein als ein Wagen? Vieles Wissen und viele Kenntnisse sind nötig, nicht aus einem Material auf einerlei Weise läßt sich ein Wagen herstellen. (Ein Staat kommt noch viel schwieriger in Ordnung.) Durch Eines Tausendfaches bewegen, durch keine vorgefaßte Meinung es hervorbringen, um so die Geschäfte zu vollenden: das kann nur jemand, der den höchsten Sinn besitzt.

Ein Mann aus Lu schenkte dem König Yüan von Sung einen Knoten. Der König ließ einen Befehl durch sein ganzes Land gehen, daß alle geschickten Leute kommen sollten und den Knoten auflösen. Aber niemand vermochte ihn aufzulösen. Ein Schüler von Erl Schuo6 bat um die Erlaubnis hinzugehen und ihn auflösen zu dürfen. Aber er konnte nur eine Hälfte auflösen, die andere Hälfte konnte er nicht lösen. Da sprach er: »Es ist nicht so, daß man ihn auflösen kann und nur ich ihn nicht aufzulösen vermag, sondern er läßt sich überhaupt nicht auflösen.« Man befragte den Mann von Lu. Der sprach: »Ja man kann ihn wirklich nicht auflösen. Ich habe ihn gemacht und weiß, daß er nicht auflösbar ist. Aber einer,[267] der ihn nicht gemacht hat und doch weiß, daß man ihn nicht lösen kann, der muß noch geschickter sein als ich.« So hat der Schüler des Erl Schuo den Knoten dadurch gelöst, daß er ihn nicht gelöst hat.

Der Musikmeister von Dschong, namens Wen, spielte den ganzen Tag die Laute. Bevor er begann, verneigte er sich zweimal vor seiner Laute und sprach: »Ich will dir nachahmen, ich will deiner Unerschöpflichkeit nachahmen.« Der Musikmeister Wen gehörte zu den Leuten, die den Pfeil nach einer Stelle vor dem Tiere schießen und es auf diese Weise treffen.

Darum: »Zu vieles Denken schadet nur. Zu vieles Weinen bringt nur den Untergang näher. Zu viele Bemühung um Einzelfähigkeiten bringt nur Unheil. Zu viel Rechthaben macht verrückt.«

So schwebt die höchste Gottheit umher und ver birgt sich, daß niemand ihr Gesicht sieht. Höchste Weisheit verändert die Gewohnheiten und Sitten der Menschen und niemand weiß, wie es zugeht. Sie verläßt die Welt und sondert sich von der Menge ab und ist mit ihr in allem doch einig. Sie beherrscht die Menschen bescheiden und demütig, und niemand vermag ihr in den Weg zu treten. Auf diese Weise durchschaut man die Machenschaften der Betrüger, und die Gefährlichen, Heimlichen, Schmeichler und Schwätzer haben keine Möglichkeit sich einzuschleichen. Damit Falsches und Gefährliches eindringen kann, bedarf es notwendig einer Veranlassung. Und was ist diese Veranlassung? Wenn der Herr etwas machen will. Wenn nämlich der Herrscher selber alles machen will, lassen die Beamten ihr Amt im Stich und sind dem Herrn zu Willen in dem, was er macht. Lassen sie sich dann auch einmal Fehler zu schulden kommen, so kann der Fürst sie nicht tadeln. So nimmt der Fürst immer mehr ab, und die Beamten nehmen immer mehr zu.

Wenn der, der ruhig sein sollte, tätig ist, und die, die tätig sein sollten, untätig sind, so wird der Hohe niedrig und der Niedrige hoch. Das ist der Grund, warum ein Staat verfällt und seine Feinde ihn angreifen.

Hi Dschung erfand den Wagen, Dsang Giä erfand die Schrift,[268] Hou Dsi7 erfand den Ackerbau, Gau Yau erfand die Strafen, Kun Wu erfand die Töpferei, Hia Gun erfand die Stadtmauern. Was diese sechs Männer erfanden, traf alles das Richtige. Aber trotzdem lag es nicht im Bereiche dessen, was ein Herrscher verstehen muß.

Darum heißt es: Der Erfinder muß sich mühen, der Verwerter hat es leicht. Aber nur wer die Art des Herrschers an sich hat, erlangt die eigentliche Berufung; darum vermag er der ganzen Welt ihre Arbeit zuzuweisen, ohne Gewalt brauchen zu müssen. Das ist die Art des vollkommenen Menschen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 265-269.
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