Kapitel VIII.

Von den abstrakten und konkreten Ausdrücken

[346] § 1. Philalethes. Noch ist zu bemerken, daß die Ausdrücke entweder abstrakt oder konkret sind. Jede abstrakte Vorstellung ist deutlich, so daß die eine von zweien niemals die andere sein kann. Der Geist muß durch seine intuitive Erkenntnis den unterschied zwischen ihnen bemerken, und folglich können niemals zwei dieser Vorstellungen die eine von der anderen bejaht werden. Jedermann sieht sogleich die Falschheit dieser Sätze: die Menschheit ist die organische Wesenheit oder Vernünftigkeit; dies ist von so großer Evidenz, wie irgend einer der am allgemeinsten angenommenen Grundsätze.

Theophilus. Dennoch läßt sich darüber etwas sagen. Man kommt darin überein, daß die Gerechtigkeit eine Tugend, eine Fertigkeit (habitus), eine Eigenschaft, ein Akzidens ist usw. Also können zwei abstrakte Ausdrucke voneinander prädiziert werden. Ich pflege auch noch zwei Arten von Abstrakta zu unterscheiden. Es gibt abstrakte logische Ausdrücke und auch abstrakte reale Ausdrücke. Die realen oder wenigstens als solche gedachten Abstrakta sind entweder Wesenheiten oder Teile von Wesenheiten oder Akzidenzien d.h. der Substanz Beigelegtes. Die abstrakten logischen[346] Ausdrücke sind auf einen sprachlichen Ausdruck zurückgebrachte Bezeichnungen, wie wenn ich z.B. sagte: Mensch sein, organisches Wesen sein, und in diesem Sinne kann man sie einen vom andern prädizieren und sagen: Mensch sein ist organisches Wesen sein. Aber bei den Realitäten findet dies nicht statt. Denn man kann nicht sagen, daß die Menschheit oder Homoität (wenn man will), welche das ganze Wesen des Menschen ist, die organische Wesenheit ist, da diese nur einen Teil jenes Wesens bildet; indessen haben diese abstrakten und unvollständigen Wesen, welche durch abstrakte reale Ausdrücke bezeichnet werden, auch ihre Geschlechter und Arten, die nicht minder durch abstrakte reale Ausdrücke ausgedrückt werden; also findet ein Prädizieren unter ihnen statt, wie ich am Beispiele der Gerechtigkeit, der Tugend gezeigt habe.

§ 2. Philalethes. Man kann immerhin sagen, daß die Substanzen nur wenig abstrakte Namen haben; man hat in den Schulen kaum von der organischen Wesenheit, Körperlichkeit geredet. Aber im großen Publikum hat sich dies nicht durchgesetzt.

Theophilus. Weil man diese Ausdrücke nur sehr wenig nötig hatte, um als Beispiel zu dienen und den allgemeinen Begriff, den nicht gänzlich zu vernachlässigen geboten war, zu erklären. Wenn die Alten sich des Wortes »Menschheit« im Sinne der Schule nicht bedienten, so sagten sie: die menschliche Natur, was dasselbe ist. Auch sagten sie sicherlich Gottheit oder wenigstens göttliche Natur, und da die Theologen nötig hatten, von diesen beiden Naturen und realen Akzidenzien in reden, so hat man sich in den philosophischen und theologischen Schulen mit diesen abstrakten Wesenheiten und vielleicht mehr als passend war, vertraut gemacht.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 346-347.
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