Kapitel X.

Vom Mißbrauch der Worte

[355] § 1. Philalethes. Außer den natürlichen Unvollkommenheiten der Sprache gibt es deren noch willkürliche, die aus der Nachlässigkeit stammen. Man mißbraucht die Worte, wenn man sie schlecht anwendet. Der erste und sichtbarste Mißbrauch ist, § 2 daß man keine klare Vorstellung damit verbindet. Was diese Art Worte anbetrifft, so gibt es deren zwei Arten. Die einen haben niemals eine bestimmte Vorstellung enthalten, weder ihrem Ursprunge noch ihrem gewöhnlichen Gebrauch nach. Die meisten Sekten in der Philosophie und Religion haben dergleichen eingeführt, um irgend eine seltsame Meinung aufrechtzuerhalten oder irgend einen schwachen Punkt ihres Systems zu verbergen. Dennoch sind dies die unterscheidenden Charaktermerkmale im Munde der Parteigänger. § 3. Es gibt (zweitens) andere Worte, welche in ihrem ersten und gewöhnlichen Gebrauch eine klare Vorstellung erhalten haben, die man hinterher aber sehr wichtigen Gegenständen zugeeignet hat, ohne mit ihnen irgend eine bestimmte Vorstellung zu verbinden. Auf diese Weise sind die Worte Weisheit, Ruhm, Gnade oft im Munde der Menge.

Theophilus. Ich glaube, es gibt nicht so viel bedeutungsvolle Worte, wie man denkt, und man kann mit ein[355] wenig Sorgfalt und gutem Willen entweder die Leere darin ausfüllen oder die Unbestimmtheit festmachen. Die Weisheit scheint nichts anderes zu sein, als die Wissenschaft des Glückes. Die Gnade ist ein denjenigen verliehenes Gut, welche es nicht verdient haben, sich aber in einem Zustande befinden, wo sie desselben bedürfen. Und der Ruhm ist der Ruf der Vortrefflichkeit eines Menschen.

§ 4. Philalethes. Ich will jetzt nicht untersuchen, ob über diese Definitionen etwas zu sagen ist, um lieber die Ursachen des Mißbrauchs der Worte anzumerken. Zuerst lernt man die Worte früher kennen, ehe man die zu ihnen gehörigen Vorstellungen kennen lernt, und die von der Wiege an daran gewöhnten Kinder bedienen sich ihrer ebenso während ihres ganzen Lebens, um so mehr, als sie nicht umhin können, sich im Gespräch hören zu lassen, ohne jemals ihre Vorstellung befestigt zu haben, indem sie sich verschiedener Ausdrücke bedienen, um den anderen das, was sie sagen wollen, begreiflich zu machen. Dies füllt insofern oft ihr Gespräch mit einer Menge leeren Schalles, besonders im Fache der Moral. Die Menschen nehmen die Worte, welche sie im Gebrauche bei ihren Nächsten vorfinden, um nicht als unwissend hinsichtlich dessen zu erscheinen, was sie bedeuten, und wenden sie mit Zuversicht an, ohne ihnen einen bestimmten Sinn beizulegen: und wie in dieser Art der Unterhaltung ihnen selten widerfährt, daß sie recht haben, so werden sie auch selten überzeugt, daß sie unrecht haben, und sie aus dem Irrtum reißen, heißt einem Vagabunden Besitztum nehmen wollen.

Theophilus. In der Tat nimmt man sich so selten die Mühe, welche man sich doch geben müßte, ein Verständnis der Ausdrücke oder Worte zu erzielen, daß ich mich mehr als einmal gewundert habe, wie die Kinder so schnell die Sprache lernen können, und wie die Menschen noch so richtig reden; in Anbetracht, daß man sich so wenig bemüht, die Kinder in ihrer Muttersprache zu unterrichten, und auch die übrigen so wenig daran denken, klare Definitionen sich zu verschaffen, während diejenigen, welche man in den Schulen lernt, gewöhnlich nicht die Worte, welche im öffentlichen Gebrauch sind, betreffen. Übrigens gestehe ich, daß es den Menschen häufig widerfährt, selbst[356] dann unrecht zu haben, wann sie ernstlich streiten und ihrer Überzeugung gemäß reden; indessen habe ich auch oft genug bemerkt, daß sie in ihren spekulativen Streitigkeiten über Dinge, welche sie zu beurteilen imstande sind, alle von beiden Seiten recht haben, ausgenommen in den Gegensätzen, welche sie widereinander geltend machen, wo sie die Ansicht des Gegners falsch verstehen. Dies kommt vom üblen Gebrauch der Ausdrücke und auch mitunter von dem Widerspruchsgeist und der Selbstüberhebung her.

§ 5. Philalethes. Zweitens ist der Gebrauch der Worte mitunter unbeständig; das kommt unter den Gelehrten nur zu oft vor. Indessen ist das eine offenbare Täuschung, und wenn sie mit Willen geschieht, eine Narrheit oder Bosheit. Wenn jemand in seinen Rechnungen so verfahren wollte, z.B. ein X für ein V zu nehmen, wer würde dann noch mit ihm zu tun haben wollen?

Theophilus. Da dieser Mißbrauch nicht allein unter den Gelehrten, sondern auch in der großen Welt so allgemein ist, so halte ich es eher für eine schlechte Gewohnheit und Unachtsamkeit als für Bosheit, was ihn verursacht. Gewöhnlich haben die verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes eine gewisse Verwandtschaft; dies macht, daß eine für die andere genommen wird, und man sich nicht die Zeit nimmt, mit aller wünschenswerten Genauigkeit das, was man sagt, in Betracht zu ziehen. Man ist an Tropen und Redefiguren gewöhnt, und eine gewisse Eleganz oder etwas Flitterglanz imponiert uns leicht. Denn am häufigsten sucht man das Vergnügen, die Unterhaltung und den Schein mehr als die Wahrheit, wozu noch die Einmischung der Eitelkeit kommt.

§ 6. Philalethes. Der dritte Mißbrauch ist eine affektierte Dunkelheit, entweder indem man gewöhnlichen Ausdrücken ungewöhnliche Bedeutungen gibt, oder indem man neue Ausdrücke einführt, ohne sie zu erklären. Die alten Sophisten, welche Lucian so vernünftigerweise lächerlich macht, die über alles zu sprechen sich anheischig machten, bedeckten ihre Unwissenheit mit dem Schleier der Dunkelheit der Worte. Unter den Sekten der Philosophen hat sich die peripatetische durch[357] diesen Fehler berühmt gemacht; aber auch die übrigen Sekten, selbst unter den neueren, sind nicht ganz und gar davon frei. Es gibt z.B. Leute, welche den Ausdruck Ausdehnung mißbrauchen und ihn mit dem Ausdruck Körper zu verwechseln für nötig halten.

§ 7. Die vielgeschätzte Logik oder Disputierkunst hat das Dunkel zu unterhalten gedient. § 8. Diejenigen, welche sich ihr ergeben haben, sind für das Gemeinwesen unnütz oder vielmehr schädlich gewesen, § 9 während die Männer der mechanischen Künste, welche von den Gelehrten so verachtet werden, dem menschlichen Leben genützt haben. Inzwischen sind jene unnützen Doktoren von den Unwissenden bewundert worden, und man hat sie für unbesiegbar gehalten, weil sie mit Disteln und Dornen gepanzert waren, mit welchen sich einzulassen kein Vergnügen war; dabei konnte die Dunkelheit allein der Ungereimtheit zur Verteidigung dienen. § 12. Das Übel ist, daß diese Kunst, die Worte zu verdunkeln, die beiden großen Richtmaße der menschlichen Handlungen, die Religion und das Rechtswesen, verwirrt hat.

Theophilus. Ihre Klagen sind großenteils gerecht; indessen gibt es allerdings, wenn auch selten, verzeihliche und selbst löbliche Dunkelheiten, wie wenn man ausdrücklich rätselhaft sein will, und das Rätsel in der Ordnung ist. Pythagoras hat sich auf diese Weise derselben bedient, und es ist viel die Sitte der Orientalen. Die Alchimisten, welche sich Adepten nennen, erklären, nur von den Kindern der Kunst verstanden werden zu wollen. Aber es wäre gut, wenn diese angeblichen Kinder der Kunst den Schlüssel der Geheimschrift hätten. Eine gewisse Dunkelheit könnte erlaubt sein, indessen muß sie etwas verbergen, was geahnt zu werden verdient, und das Rätsel muß zu lösen sein. Aber die Religion und die Justiz verlangen klare Vorstellungen. Der Mangel an Ordnung, welchen man beim Unterricht derselben angewandt hat, hat deren Lehre verwirrt gemacht, und die Unbestimmtheit der Ausdrücke kann dabei schädlicher sein als die Dunkelheit. Wenn nun die Logik die Kunst ist, die Ordnung und den Zusammenhang der Gedanken zu lehren, so sehe ich keinen Grund, sie zu tadeln. Im Gegenteil geschieht es aus Mangel an Logik, daß die Menschen sich irren.[358]

§ 14. Philalethes. Der vierte Mißbrauch ist, wenn man die Worte für Dinge hält, d.h. wenn man glaubt, daß die Ausdrücke der wirklichen Wesenheit der Substanzen entsprechen. Wer ist wohl in der peripatetischen Philosophie groß geworden und bildet sich nicht ein, daß die zehn Worte, welche die Kategorien bezeichnen, der Natur der Dinge genau entsprechen? Daß die substantiellen Formen, die Pflanzenseelen, der Horror vacui, die intentionellen Arten, etwas Wirkliches sind? Die Platoniker haben ihre Weltseele, und die Epikureer die Neigung ihrer Atome zur Bewegung, während dieselben in Ruhe sind. Wenn die Luft– oder Ätherwagen des Dr. Morus irgendwo in der Welt zur Geltung gekommen wären, so würde man sie nicht weniger für wirklich angesehen haben.

Theophilus. Eigentlich ist das nicht die Worte für die Sachen nehmen, sondern das für wahr halten, was es nicht ist. Ein nur zu gewöhnlicher Irrtum aller Menschen! der aber nicht allein vom Mißbrauch der Worte abhängt, sondern in etwas ganz anderem besteht. Der Zweck der Kategorien ist sehr nützlich, und man sollte, statt sie zu verwerfen, lieber daran denken, sie zu verbessern. Die Substanzen, Quantitäten, Qualitäten, Handlungen oder Leidenheiten und Relationen, d.h. fünf Allgemeinbegriffe der Dinge, könnten mit denen, welche aus ihrer Zusammensetzung gebildet werden, genügen; und haben Sie nicht selbst bei der Anordnung der Vorstellungen sie als Kategorien geben wollen? Über die substantiellen Formen habe ich schon oben gesprochen. Auch weiß ich nicht, ob man hinlänglich Grund hat, die Pflanzenseelen zu verwerfen, weil sehr gewiegte und urteilsvolle Leute zwischen Pflanzen und Tieren eine große Analogie anerkennen, und Sie selber, wie es scheint, die Tierseele zugelassen haben. Der horror vacui kann einen haltbaren Sinn haben, d.h. vorausgesetzt, daß die Natur einmal die Arten alle ausgefüllt hat, und die Körper undurchdringlich und nicht zusammendrückbar sind, so kann sie keine Leere zulassen; und ich halte jene drei Voraussetzungen für wohlbegründet. Aber die intentionellen Spezies, welche den Verkehr der Seele und des Leibes bewirken sollen, leisten dies nicht; man kann vielleicht nur die sinnlichen Spezies entschuldigen,[359] welche vom Objekt zu dem entfernten Organ übergehen sollen, die Fortpflanzung der Bewegungen dabei vorausgesetzt. Ich gebe zu, daß es keine platonische Weltseele gibt, denn Gott ist über der Welt als extramundana oder vielmehr supramundana intelligentia (außerweltliche – überweltliche Intelligenz). Ich weiß nicht, ob Sie unter der Neigung zur Bewegung der Atome der Epikureer nicht die Schwere verstehen, welche sie ihnen zuschrieben, und die ohne Zweifel unbegründet war, weil sie behaupteten, daß die Körper alle von selbst nach der einen Seite fallen. Der verstorbene Henry Morus, Theolog der englischen Kirche, zeigte sich, so gescheit er sonst war, ein wenig zu geneigt im Schmieden von Hypothesen, die weder verständlich noch wahrscheinlich waren, wovon sein hylarchisches Prinzip der Materie als die Ursache der Schwere, der Elastizität und der anderen dabei vorkommenden Wunder zeugt. Über seine ätherischen Fahrzeuge habe ich Ihnen nichts zu sagen, da ich deren Wesen nicht geprüft habe.

§ 16. Philalethes. Ein Beispiel über das Wort Materie wird Ihnen meinen Gedanken näher legen. Man nimmt die Materie für ein vom Körper verschiedenes, wirklich in der Materie vorhandenes Wesen, was in der Tat von äußerster Evidenz ist; sonst könnten diese beiden Vorstellungen unterscheidungslos die eine an die Stelle der anderen gesetzt werden. Denn man kann sagen, daß eine und dieselbe Materie alle Körper bildet, nicht aber, daß ein einziger Körper alle Materien bildet. Man wird auch nicht, wie ich denke, sagen, daß eine Materie größer ist als die andere. Die Materie drückt die Substanz und Solidität des Körpers aus, also begreifen wir nicht mehr verschiedene Materien als verschiedene Soliditäten. Seitdem man indes die Materie für den Namen eines unter dieser Bestimmtheit daseienden Dinges genommen hat, hat dieser Gedanke unverständliche Reden und verworrene Streitigkeiten über die erste Materie hervorgerufen.

Theophilus. Wie mir scheint, dient dies Beispiel eher dazu, die peripatetische Philosophie zu entschuldigen als zu tadeln. Wenn alles Silber gestaltet wäre oder vielmehr, weil alles Silber durch die Natur oder die Kunst gestaltet ist, wird es darum weniger erlaubt sein zu sagen, daß[360] das Silber ein in der Natur wirklich vorhandenes Wesen sei, verschieden – wenn man es genau nimmt – vom Geschirr oder vom Gelde? Man wird darum nicht sagen, daß das Silber nichts anderes ist als einige Eigenschaften des Geldes. Auch ist es nicht unnützlich, daß man in der allgemeinen Physik sich über die erste Materie Verständnis zu schaffen und deren Natur zu bestimmen sucht, um zu wissen, ob sie immer einförmig ist, ob sie noch eine andere Eigenschaft als die Undurchdringlichkeit hat (wie ich in der Tat nach Kopier gezeigt habe, daß sie noch das hat, was man Trägheit nennen kann) usw., obwohl sie sich niemals ganz nackt findet, wie es uns erlaubt wäre, wissenschaftlich vom reinen Silber zu reden, auch wenn es auf Erden kein solches gäbe, und wir nicht das Mittel, es rein darzustellen, hätten. Ich mißbillige es also nicht, daß Aristoteles von der ersten Materie geredet hat, aber man kann sich nicht enthalten, diejenigen zu tadeln, welche sich zu viel dabei aufgehalten und Chimären über schlecht verstandene Worte dieses Philosophen geschmiedet haben, der auch vielleicht mitunter zu viel Gelegenheit zu diesem Mißverständnis und Gallimathias gegeben bat. Man soll aber nicht die Fehler dieses berühmten Schriftstellers so sehr vergrößern, weil man weiß, daß mehrere seiner Werke von ihm selbst nicht vollendet oder veröffentlicht worden sind.

§ 17. Philalethes. Der fünfte Mißbrauch ist, die Worte an die Stelle der Sachen zu setzen, welche sie in keiner Art bezeichnen oder bezeichnen können. Dies geschieht, wenn wir durch die Namen der Substanzen etwas mehr als dies sagen wollen: was ich Gold nenne, ist dehnbar (wiewohl das Gold dann im Grunde genommen nichts anderes bezeichnet als das, was dehnbar ist), womit ich verstanden haben will, daß die Dehnbarkeit von der wirklichen Wesenheit des Goldes abhängt. So sagen wir, es sei richtig, mit Aristoteles den Menschen als vernünftiges Wegen und unrichtig, ihn mit Plato als ein Wesen mit zwei Füßen ohne Federn und mit großen Nägeln zu definieren. § 18. Es findet sich kaum jemand, der nicht voraussetzt, daß diese Worte etwas Wirkliches und Wesenhaftes bezeichnen, von dessen Wesen diese Eigenschaften abhangen. Dies ist indessen ein klarer Mißbrauch, da jenes nicht in der zusammengesetzten Vorstellung,[361] welche durch dieses Wort bezeichnet wird, enthalten sein kann.

Theophilus. Und ich möchte vielmehr glauben, daß es offenbar unrecht ist, diesen allgemeinen Gebrauch zu tadeln, weil es sehr wahr ist, daß in der zusammen gesetzten Vorstellung des Goldes der Begriff einer Sache enthalten ist, die eine wirkliche Wesenheit hat, deren innere Bildung uns im besonderen nicht anders bekannt ist, als daß Qualitäten, wie die Dehnbarkeit, davon abhangen. Aber um die Dehnbarkeit ohne Identität davon auszusagen, und ohne in den Fehler des Coccysmus oder der Wiederholung zu verfallen (siehe Kap. VIII, § 18) muß man dies Ding aus anderen Eigenschaften erkennen, wie wenn man sagte, daß ein gewisser schmelzbarer, gelber und sehr gewichtiger Körper, welchen man Gold nennt, eine Wesenheit hat, die ihm auch die Eigenschaft gibt, unter dem Hammer sehr weich zu sein und außerordentlich dünn geschlagen werden zu können. Was die dem Plato zugeschriebene Definition des Menschen anbetrifft, welche er nur zur Übung gefertigt zu haben scheint, und welche Sie selbst, glaube ich, nicht im Ernst mit der allgemein angenommenen werden vergleichen wollen, so ist sie offenbar ein wenig zu äußerlich und zu vorläufig, denn wenn jener Kasuar, von dem Sie kürzlich gesprochen haben, sich zufällig mit langen Nägeln gefunden hätte, so würde er ein Mensch sein, denn man würde ihm nicht erst die Federn auszureißen haben, wie jenem Hahn, den Diogenes, nach der Erzählung, zu einem Menschen des Plato machen wollte.

§ 19. Philalethes. In den zusammengesetzten Modi erkennt man auch sogleich, so wie eine dazu gehörige Vorstellung wechselt, daß man etwas anderes erhält, wie augenscheinlich in folgenden Wörtern der Fall ist: murther, welches auf Englisch wie Mord in Deutschland einen vorbedachten Totschlag bedeutet; manslaughter, ein in seinem Ursprunge dementsprechendes Wort, welches einen freiwilligen, aber nicht vorbedachten Totschlag bedeutet; chancemedly, ein zufällig eingetretenes Handgemenge in der Bedeutung des Wortes Totschlag, aber eines unbedachten: das, was durch diese Worte ausgedrückt wird und was ich also als in der Sache liegend annehme, ist dabei dasselbe. (Ich nannte es früher nominale und [362] reale Wesenheit.) Aber anders ist es mit den Namen der Substanzen, denn wenn einer in die Vorstellung des Goldes das hineinlegt, was der andere dabei ausläßt, z.B. die Dehnbarkeit und die Löslichkeit in Königswasser, so glauben die Menschen darum doch nicht, daß man die Spezies gewechselt habe, sondern nur, daß der eine eine vollkommenere Vorstellung als der andere von dem hat, was die verborgene wirkliche Wesenheit ausmacht, welcher man den Namen Gold beilegt, mag diese geheime Beziehung auch ohne Nutzen sein und nur uns zu verwirren dienen.

Theophilus. Ich glaube es schon gesagt zu haben, aber will Ihnen jetzt noch einmal ordentlich zeigen, daß sich das, was Sie eben bemerkt haben, in den Modi findet wie in den substantiellen Wesen, und daß man keine Ursache hat, diese Beziehung auf die innere Wesenheit zu tadeln. Hier ein Beispiel davon. Man kann eine Parabel im Sinne der Geometer als eine Figur definieren, in welcher alle einer bestimmten geraden Linie parallelen Radien durch die Reflexion in einen bestimmten Punkt oder Brennpunkt zusammenfallen. Aber durch diese Vorstellung oder Definition wird eher das Äußere und die Wirkung als die innere Wesenheit dieser Figur oder das, was sofort ihren Ursprung zeigen könnte, ausgedrückt. Man kann anfangs sogar zweifeln, ob eine solche verlangte Figur, welche diese Wirkung haben, etwas Mögliches ist, und daran läßt sich meiner Ansicht nach erkennen, ob eine Definition nur nominal und von den Eigenschaften hergenommen, oder ob sie auch real ist Derjenige indessen, welcher die Parabel nennt und sie nur gemäß der eben genannten Definition kennt, versteht darunter freilich, wenn er davon spricht, eine Figur, welche eine bestimmte Gestaltung oder Beschaffenheit hat, von der er nichts weiß, aber die er, um sie konstruieren zu können, kennen zu lernen wünscht. Ein anderer, der sie gründlicher kennt, wird irgend eine andere Eigenschaft hinzufügen und an ihr z.B. entdecken, daß in der verlangten Figur der Teil der Achse, welcher zwischen der Ordinate und der nach demselben Punkt der krummen Linie gezogenen Perpendikularlinie liegt, stets konstant und der Entfernung des Scheitels vom Brennpunkte gleich ist. Somit wird er eine vollkommenere Vorstellung[363] als der erste haben und leichter damit zustande kommen, die Figur zu ziehen, wenn er es auch noch nicht kann. Und doch wird man zugeben, daß dies dieselbe Figur ist, deren Wesen aber noch verborgen ist. Sie sehen also, daß alles, was Sie im Gebrauch der substantielle Dinge bezeichnenden Worte finden und teilweise tadeln, sich auch im Gebrauch der zusammengesetzte Modi bedeutenden Worte findet und sich offenbar rechtfertigen läßt Aber was Sie glauben macht, daß zwischen den Substanzen und den Modi ein Unterschied stattfindet, ist der Umstand, daß Sie hierbei nicht die verstandesmäßigen Modi von schwieriger Erkennbarkeit in Betracht gezogen haben, welche man in dem allem den Körpern ähnlich findet, die noch schwerer zu erkennen sind.

§ 20. Philalethes. So fürchte ich also, daß ich das zurückziehen muß, was ich Ihnen über die Ursache des von mir für einen Mißbrauch Gehaltenen sagen wollte. Das war der meiner Ansicht nach falsche Glaube, daß die Natur immer regelrecht handelt und jeder Art ihre Grenzen durch diejenige spezifische Wesenheit oder innere Bildung setzt, welche wir darin voraussetzen, und welcher stets derselbe spezifische Name beigelegt wird.

Theophilus. Sie sehen doch nun wohl am Beispiel der geometrischen Modi, daß man nicht unrecht hat, sich an die inneren und spezifischen Wesenheiten zu halten, wenngleich zwischen den sinnlichen Dingen – mögen sie Substanzen oder Modi sein, von denen wir nur vorläufige Nominaldefinitionen haben und bei denen wir nicht leicht auf Realdefinitionen hoffen dürfen – und zwischen den verstandesmäßigen Modi von schwierigem Verständnisse ein großer Unterschied ist, weil wir schließlich bis zur inneren Bildung der geometrischen Figuren uns durcharbeiten können.

§ 21. Philalethes. Ich sehe endlich, daß ich unrecht gehabt habe, diese Beziehung auf innere Wesenheiten und Bildungen unter dem Vorwande zu tadeln, daß wir dadurch unsere Worte zu Zeichen eines Nichts oder eines Unbekannten machten. Denn was in gewisser Beziehung unbekannt ist, kann auf eine andere Art erkannt werden, und das Innere zeigt sich teilweise durch die daraus entspringenden Erscheinungen. Und was die Frage anbetrifft, ob ein monströser Fötus ein Mensch ist oder[364] nicht, so scheint es wohl, daß, wenn man nicht sofort darüber entscheiden kann, dies nicht hindert, daß die Art in sich selbst fest bestimmt sei, da unsere Unwissenheit an der Natur der Dinge nichts ändert.

Theophilus. In der Tat ist es sehr gescheiten Geometern begegnet, daß sie nicht vollständig gewußt haben, welches die Figuren seien, von denen sie mehrere Eigenschaften kannten, die ihnen den Gegenstand zu erledigen schienen. Es gab z.B. Linien, welche man Perlen nannte, von denen man selbst Quadrationen und Messungen ihrer Oberfläche und der durch ihre Drehung entstandenen Körper machte, ehe man wußte, daß sie nur eine Zusammensetzung aus gewissen kubischen Paraboloïden seien. Indem man also diese Perlen als eine besondere Art bildend betrachtete, hatte man von ihnen nur eine vorläufige Erkenntnis. Wenn dies in der Geometrie vorkommen kann, darf man sich da wundern, wenn es schwer ist, die Arten in der körperlichen Natur zu bestimmen, die unvergleichlich mehr zusammengesetzt sind?

§ 22. Philalethes. Gehen wir zum sechsten Mißbrauch über, um die angefangene Aufzählung fortzusetzen, obwohl ich schon sehe, daß ich einige davon aufgeben muß.

Dieser allgemeine, aber wenig bemerkte Mißbrauch besteht darin, daß die Menschen, nachdem sie gewisse Vorstellungen durch einen langen Gebrauch mit gewissen Worten verknüpft haben, sich einbilden, daß dieser Zusammenhang evident sei und jedermann damit übereinstimme. Daher kommt, daß sie es sonderbar finden, wenn man sie nach der Bedeutung der von ihnen angewandten Worte fragt, selbst wenn es absolut notwendig ist. Es gibt wenige, welche es nicht als eine Beleidigung aufnähmen, wenn man sie fragte, was sie darunter verständen, wenn sie vom Leben reden. Indeß genügte die vage Vorstellung, die sie davon haben mögen, dann nicht, wenn es sich darum zu wissen handelt, ob eine schon im Samen vorgebildete Pflanze oder ein Huhn, das in einem noch nicht bebrüteten Ei steckt, oder auch ein Mensch in der Ohnmacht ohne Empfindung und Bewegung – Leben hat. Und wenngleich die Menschen nicht so kurzsichtig oder nicht so unbescheiden erscheinen wollen, um einer Nachfrage zur Erklärung der gebrauchten Ausdrücke zu[365] bedürfen, noch als so unbequeme Kritiker, um andere wegen ihres Gebrauchs der Worte unaufhörlich zu tadeln, so muß man gleichwohl, wenn es sich um eine genaue Untersuchung handelt, zur Erklärung schreiten. Oft reden die Gelehrten der verschiedenen Parteien in ihren gegeneinander ausgesponnenen Räsonnements durchaus verschiedene Sprachen und denken doch dasselbe, obwohl ihre Interessen vielleicht verschieden sind.

Theophilus. Ich glaube mich hinlänglich über den Begriff des Lebens ausgelassen zuhaben, das immer von Wahrnehmung in der Seele begleitet sein muß; sonst würde es nur ein Schein davon sein, wie dasjenige Leben, welches die Wilden Amerikas den Zeigern oder Uhren zuschreiben, oder welches jene obrigkeitlichen Personen den Marionetten zuschrieben, welche sie als von Dämonen beseelt annahmen, als sie denjenigen, der dies Schauspiel zierst in ihrer Stadt aufgeführt hatte, als Zauberer strafen wollten.

§ 23. Philalethes. Um zu schließen: es dienen die Worte: 1) unsere Gedanken verständlich zu machen, 2) dies zu erleichtern und 3) in die Erkenntnis der Dinge einzuführen. Man fehlt im ersten Punkt, wenn man keine bestimmte und feststehende, keine von anderen angenommene oder verstandene Vorstellung von den Worten hat. § 23. Man verfehlt, sich leicht verständlich zu machen, wenn man sehr zusammengesetzte Vorstellungen hat, ohne deutliche Namen dazu zu haben; dies ist oft der Fehler der Sprachen selbst, wenn ihnen die bezüglichen Ausdrücke fehlen, oft auch des Menschen, der sie nicht kennt; man hat alsdann große Umschreibungen nötig. § 24. Wenn aber die durch die Worte bezeichneten Vorstellungen mit der Wirklichkeit nicht zusammenstimmen, so fehlt man im dritten Punkt § 26. Derjenige, welcher die Ausdrücke ohne Vorstellungen hat, ist wie einer, der nur ein Verzeichnis von Büchern hätte. § 27. Derjenige, welcher sehr zusammengesetzte Vorstellungen hat, würde wie ein Mensch sein, welcher eine Menge von Büchern in einzelnen Blättern ohne Titel hätte und das Buch nicht anders geben kann, als indem er die Blätter eines nach dem anderen reicht § 28. Derjenige, welcher im Gebrauch der Zeichen sich nicht gleich bleibt, würde wie ein Kaufmann sein, der verschiedene Dinge unter[366] demselben Namen verkaufte. § 29. Der, welcher besondere Vorstellungen von den einmal angenommenen Wortbedeutungen trennt, würde andere durch die Erkenntnisse, welche er haben mag, nicht aufklären können. § 30. Derjenige, welcher Vorstellungen von Substanzen, die niemals gewesen sind, im Kopfe hat, kann in den wirklichen Erkenntnissen keine Fortschritte machen. § 33. Der erste würde vergeblich von der Tarantel oder der christlichen Liebe sprechen. Der zweite sieht vielleicht neue Tiere, ohne sie anderen Menschen auf leichte Art zu erklären. Der dritte wird den Körper bald für das Solide nehmen und bald für das nur Ausgedehnte; unter der Genügsamkeit wird er bald die verwandte Tugend, bald das verwandte Laster bezeichnen. Der vierte wird einem Maulesel den Namen Pferd geben, und der, welchen die ganze Welt einen Verschwender nennt, wird ihm als freigebig gelten, und der fünfte wird auf die Autorität des Herodot in der Tatarei eine Nation von Einäugigen suchen. Ich bemerke, daß die vier ersten Fehler den Namen der Substanzen und Modi gemeinsam sind, der letzte aber den Substanzen eigen ist.

Theophilus. Ihre Bemerkungen sind sehr unterrichtend. Ich möchte noch hinzufügen, daß es, wie mir scheint, auch in unseren Vorstellungen von den Akzidenzien oder Daseinsformen noch Chimärisches gibt, und daß also der fünfte Fehler den Substanzen und Akzidenzien noch gemeinsam ist. Der ausschweifende Schäfer war dies nicht nur, weil er glaubte, es seien hinter den Bäumen Nymphen versteckt, sondern weil er auch stets auf romantische Abenteuer aus war.

§ 34. Philalethes. Ich hatte zu schließen vor, aber ich erinnere mich noch des siebenten und letzten Mißbrauchs, welcher der der figürlichen Ausdrücke oder Anspielungen ist Man wird indes Mühe haben, an diesen Mißbrauch zu glauben, weil das, was man Geist und Phantasie nennt, besser als die trockne Wahrheit aufgenommen wird. Das gilt wohl bei den Unterhaltungen, wo man nur zu gefallen sucht; aber im Grunde dienen in der gesamten rhetorischen Kunst alle diese künstlichen und figürlichen Anwendungen der Worte (die Ordnung und Beschaffenheit ausgenommen) nur dazu, falsche Vorstellungen beizubringen, die Leidenschaften zu erregen und das Urteil[367] irrezuführen, so daß es nur bloße Täuschungen sind. Gleichwohl gibt man dieser trügerischen Kunst den eisten Rang und die größten Belohnungen, weil die Menschen sich nicht viel um die Wahrheit kümmern und es vorziehen, zu täuschen und sich täuschen zu lassen. Dies ist so wahr, daß ich nicht zweifle, man werde das soeben gegen jene Kunst Gesagte als die Wirkung einer maßlosen Kühnheit betrachten. Denn die Beredsamkeit hat wie das schöne Geschlecht zu mächtige Beize, als daß ein Widerstand dagegen in der Ordnung gefunden würde.

Theophilus. Weit entfernt, Ihren Eifer für die Wahrheit zu tadeln, finde ich ihn gerecht. Und zu wünschen wäre, daß er Wirkung hätte. Ich verzweifle nicht gänzlich daran, weil Sie die Beredsamkeit durch ihre eigenen Waffen zu bekämpfen und selbst eine andere Art derselben zu haben scheinen, jener trügerischen überlegen, wie es eine Venus Urania, die Mutter der himmlischen Liebe, gab, vor welcher jene andere Bastardvenus, die Mutter der blinden Liebe, nebst ihrem Sohne mit verbundenen Augen nicht zu erscheinen wagte. Aber gerade das beweist, daß Ihre These einer gewissen Mäßigung bedarf und gewisse Zieraten der Beredsamkeit jenen ägyptischen Gefäßen zu vergleichen sind, deren man sich zum Dienste des wahren Gottes bedienen konnte. Es ist damit wie mit der Malerei und der Musik, die man mißbraucht, und von denen die eine oft groteske und selbst schädliche Phantasien darstellt und die andere das Gemüt verweichlicht: alle beide gewähren ein eitles Vergnügen, aber sie können dennoch nützlich angewendet werden, die eine, um die Wahrheit klar, die andere, um sie ergreifend zu machen – welche letztere Wirkung auch die der Poesie sein muß, die zwischen der Rhetorik und Musik die Mitte hält.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 355-368.
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