Kapitel XI.

Über die gegen die besprochenen Unvollkommenheiten und Mißbrauche anzuwendenden Mittel

[368] § 1. Philalethes. Es ist hier nicht der Ort, sich in diese Untersuchung über den Nutzen einer wahrhaften Beredsamkeit zu vertiefen, und noch weniger, auf Ihr verbindliches[368] Lob zu antworten, weil wir darauf denken müssen, diesen Gegenstand, die Worte, abzuschließen, indem wir Mittel gegen die dabei bemerkten Unvollkommenheiten aufsuchen.

§ 2. Es würde lächerlich sein, eine Reform der Sprachen zu versuchen und die Menschen zwingen zu wollen, nur in dem Maße, als sie Erkenntnis haben, zu sprechen. § 3. Das aber wird kein zu großes Verlangen sein, daß die Philosophen sorgfältig sprechen, wenn es sich um eine ernstliche Untersuchung der Wahrheit handelt; sonst würde alles voll Irrtümer, Einseitigkeiten und leeren Streites sein. § 8. Das erste Mittel ist, sich keines Wortes zu bedienen, ohne eine Vorstellung damit zu verbinden, statt daß man oft Worte anwendet wie Instinkt, Sympathie, Antipathie, ohne irgend einen Sinn damit zu verbinden.

Theophilus. Die Regel ist gut, aber ob die Beispiele passen, ist mir zweifelhaft. Unter Instinkt pflegt alle Welt die Neigung eines Tieres zu dem ihm Zuträglichen zu verstehen, ohne daß es die Ursache davon begreift, und selbst die Menschen sollten diese Instinkte weniger vernachlässigen, die auch bei ihnen sich entdecken lassen, obwohl ihre künstliche Lebensweise sie meistens fast gänzlich verwischt hat. Derjenige, welcher sein eigener Arzt ist, wird dies wohl bemerkt haben. Die Sympathie und Antipathie bezeichnet das, was in den der Empfindung entbehrenden Körpern dem bei den Tieren sich findenden Instinkt der Vereinigung oder Trennung entspricht. Und obwohl man nicht das wünschenswerte Verständnis der Ursache dieser Neigungen oder Strebungen hat, so hat man doch einen ausreichenden Begriff davon, um verständlich darüber reden zu können.

§ 9. Philalethes. Das zweite Hilfsmittel ist, die Vorstellungen der Namen der Modi wenigstens bestimmt und die der Namen der Substanzen der Wirklichkeit angemessener zu machen. Wenn jemand sagt: die Gerechtigkeit ist ein dem Gesetze entsprechendes Verhalten hinsichtlich des Wohles eines anderen, so ist diese Vorstellung nicht genug bestimmt, wenn man keine deutliche Vorstellung dessen hat, was Gesetz genannt wird.

Theophilus. Da könnte man sagen, daß das Gesetz eine Vorschrift der Weisheit oder der Wissenschaft des Glücks ist.

§ 11. Philalethes. Das dritte Hilfsmittel ist, die[369] Ausdrücke so viel als möglich dem angenommenen Gebrauch gemäß zu gebrauchen.

§ 12. Das vierte ist, zu erklären, in welchem Sinne man die Worte nimmt, sei es, daß man neue macht, oder daß man die alten in einem neuen Sinne anwendet, oder sei es, daß man die Bedeutung durch den Gebrauch nicht hinlänglich festgesetzt findet. § 13. Es gibt dabei aber verschiedene Fälle. § 14. Die Worte für die einfachen Vorstellungen, welche nicht definiert werden können, werden durch synonyme Worte, wenn diese bekannter sind, oder durch Hinweis auf die Sache erklärt. Durch diese Mittel kann man einem Bauer begreiflich machen, was die »Tote Blatt«-Farbe bedeutet, indem man ihm sagt, daß es die Farbe der im Herbst herabfallenden trockenen Blätter ist. § 15. Die Namen für die zusammengesetzten Modi müssen durch die Definition erklärt werden, denn das ist möglich. § 16. Dadurch ist die Moral des Beweises fähig. Man wird in ihr den Menschen als körperliches und vernünftiges Wesen, ohne sich um die äußerliche Figur zu bekümmern, nehmen müssen. § 17. Denn mittels der Definitionen können die Gegenstände der Moral klar behandelt werden. Man wird besser tun, die Gerechtigkeit nach der in unserem Geiste vorhandenen Vorstellung zu definieren, als ein Muster derselben, wie den Aristides, außer uns zu suchen und sie danach zu bilden. § 18. Und da die meisten zusammengesetzten Modi nirgends zusammen da sind, so kann man sie nur durch Definieren festsetzen, durch Aufzählung dessen, was darin zusammengefaßt ist. § 19. Bei den Substanzen gibt es gewöhnlich leitende oder charakteristische Eigenschaften, welche wir als die entscheidendste Vorstellung der Art betrachten und mit denen wir die übrigen die zusammengesetzte Vorstellung der Art bildenden Vorstellungen verbunden denken. Bei Pflanzen und Tieren ist dies die Gestalt, bei den leblosen Körpern die Farbe und bei einigen die Farbe und Gestalt zusammen. § 20. Darum ist die von Plato gegebene Definition des Menschen charakteristischer, als die des Aristoteles; wenigstens dürfte man sonst nicht die Mißgeburten töten. § 21. Oft auch dient der Blick ebensogut wie irgend eine andere Prüfung: so unterscheiden die mit der Prüfung des Goldes vertrauten Leute durch den Blick das echte oft vom falschen, das reine von dem verfälschten.

[370] Theophilus. Ohne Zweifel kommt alles auf die Definitionen zurück, welche bis zu den ursprünglichen Vorstellungen gehen können. Dasselbe Subjekt kann mehrere Definitionen haben; um aber zu wissen, welche einem und demselben Dinge zukommen, muß man darüber von der Vernunft belehrt werden, indem man eine Definition durch die andere beweist, oder durch die Erfahrung, indem man erprobt, welche beständig zusammengehen. Was die Moral anbetrifft, so ist ein Teil derselben auf der Vernunft begründet, aber es gibt auch einen anderen, welcher von den Erfahrungen abhängt und sich auf die Temperamente bezieht. Um die Substanzen zu erkennen, geben uns Gestalt und Farbe, d.h. das Sichtbare, die ersten Vorstellungen, weil man dadurch die Dinge von weitem erkennt; aber sie sind gewöhnlich zu oberflächlich; bei den für uns wichtigen Dingen sucht man die Substanzen näher kennen zu lernen. Ich wundere mich übrigens, daß Sie noch einmal auf die dem Plato zugeschriebene Definition des Menschen zurückkommen, nachdem sie selbst soeben gesagt haben, daß man in der Moral den Menschen als ein körperliches und vernünftiges Wesen, ohne sich um die äußerliche Gestalt zu bekümmern, nehmen muß. Übrigens tut freilich eine große Übung viel dazu, auf einen Blick Dinge zu entscheiden, welche ein anderer durch schwierige Versuche kaum zu wissen vermag. Auch erkennen Ärzte von großer Erfahrung, welche einen scharfen Blick und ein gutes Gedächtnis haben, oft beim ersten Anblick des Kranken, was ein anderer ihm durch Fragen und Pulsfühlen mühsam entreißen muß. Aber es ist gut, alle die Zeichen, welche man haben kann, miteinander zu verbinden.

§ 22. Philalethes. Ich gebe zu, daß der, welchem ein guter Probierer alle Eigenschaften des Goldes zeigt, davon eine bessere Erkenntnis erhalten muß, als der bloße Anblick geben kann. Könnten wir aber die innere Bildung desselben erkennen, so würde die Bedeutung des Wortes Gold ebenso leicht wie die des Wortes Dreieck bestimmt werden.

Theophilus. Sie kann ganz ebenso bestimmt werden; es braucht darin nichts Vorläufiges zu sein, aber sie wird sich nicht so leicht bestimmen lassen. Denn es wird meiner Ansicht nach dazu eine etwas weitläufige Festsetzung nötig sein, um die Bildung des Goldes zu erklären, wie es sogar in der Geometrie Figuren gibt, deren Definition lang ist.[371]

§ 23. Philalethes. Die von den Körpern getrennten Geister haben ohne Zweifel vollkommenere Erkenntnisse als wir, obschon wir keinen Begriff von der Art und Weise haben, wie sie sie erwerben können. Sie könnten indessen von der innersten Bildung der Körper ebenso klare Vorstellungen haben, als wir von einem Dreieck.

Theophilus. Ich habe Ihnen schon bemerkt, daß ich Ursachen habe anzunehmen, es gebe keine geschaffenen Geister, welche gänzlich vom Körper los wären; indessen gibt es ohne Zweifel solche, deren Organe und Verstand unvergleichlich vollkommener als die unsrigen sind, und welche uns in jeder Art der Begriffsbildung soweit überragen und noch mehr als Frenicle oder der von mir erwähnte schwedische Knabe die gewöhnlichen Menschen im Kopfrechnen übertrifft.

§ 24. Philalethes. Wir haben schon bemerkt, daß die Definitionen der Substanzen, die dazu dienen können, die Namen zu erklären, in Hinsicht der Sacherkenntnis unvollkommen sind. Denn gewöhnlich setzen wir den Namen an Stelle der Sache, deren Namen mehr als die Definitionen besagt; um also die Substanzen gut zu definieren, muß man die Naturgeschichte studieren.

Theophilus. Sie sehen also, daß der Name des Goldes z.B. nicht allein das bezeichnet, was derjenige, welcher ihn ausspricht, vom Golde weiß, z.B. daß es ein sehr schwerer gelber Körper ist, sondern auch, was nicht er, aber vielleicht ein anderer weiß, d.h. daß es ein mit einer gewissen inneren Beschaffenheit versehener Körper ist, aus der die Farbe und Schwere sich ergeben und noch andere Eigenschaften entspringen, welche, wie er zugibt, den Sachkennern besser bekannt sind.

§ 25. Philalethes. Es wäre gegenwärtig zu wünschen, daß diejenigen, welche in naturwissenschaftlichen Untersuchungen geübt sind, die einfachen Vorstellungen, in welchen ihrer Beobachtung zufolge die Individuen jeder Art vollständig miteinander übereinkommen, aufstellen wollten. Aber um ein Wörterbuch dieser Art anzufertigen, welches sozusagen die Naturgeschichte enthält, braucht es zu viel Leute, zu viel Zeit und zu viel Mühe und zu viel Scharfsinn, als daß man auf ein solches Werk jemals hoffen könnte. Indessen würde es gut sein, die Worte hinsichtlich der Dinge, welche man durch ihre äußerliche[372] Figur erkennt, mit kleinen Abbildungen zu begleiten. Ein solches Wörterbuch würde der Nachkommenschaft von großem Nutzen sein und den künftigen Kritikern viel Mühe ersparen. Kleine Bilder, wie von dem Eppich (apium) oder von einem Steinbock (ibex, eine Art Alpenbock) würden besser sein als lange Beschreibungen dieser Pflanze oder dieses Tieres. Und um zu erkennen, was die Lateiner strigiles und sistrum, tunica und pallium nannten, würden Zeichnungen am Rande unvergleichlich mehr aufklären, als die angeblichen Synonyma Striegel, Cymbale, Robe, Kleid, Mantel, die sie nicht deutlich machen. Übrigens will ich mich nicht beim siebenten Hilfsmittel gegen den Mißbrauch der Worte aufhalten, das darin besteht, beständig denselben Ausdruck in demselben Sinne anzuwenden, oder wenn man ihn wechselt, es anzuzeigen. Denn davon haben wir schon genug geredet.

Theophilus. Pater Grimaldi, Präsident der Gesellschaft der Mathematiker zu Peking, hat mir gesagt, daß die Chinesen Wörterbücher haben, welche mit Bildern versehen sind. Es gibt ein kleines zu Nürnberg gedrucktes Wortverzeichnis, wo bei jedem Worte solche Bilder stehen, die recht gut sind. Ein solches illustriertes Universallexikon wäre zu wünschen, und es herzustellen würde nicht sehr schwierig sein. Was die Beschreibung der Spezies anbelangt, so ist das eigentlich die Sache der Naturwissenschaft, und nach und nach kommt man an diese Arbeit. Ohne die Kriege, welche Europa seit den ersten Gründungen der königlichen Gesellschaften oder Akademien beunruhigt haben, würde man weit gekommen und schon imstande sein, von unseren Arbeiten Nutzen zu ziehen, aber die Großen wissen meistensteils nichts von deren Wichtigkeit, noch welcher Güter sie sich berauben, indem sie den Fortschritt der gründlichen Kenntnisse vernachlässigen; außerdem sind sie gewöhnlich durch die Sorgen für den Krieg zu sehr in Anspruch genommen, um die Dinge, welche ihnen nicht gleich von vornherein in die Augen stechen, richtig zu würdigen.[373]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 368-374.
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