[33] 1. Vom Ding an sich

Meister Liä Dsï wohnte in einem Garten zu Dscheng vierzig Jahre lang, und niemand kannte ihn. Vor den Augen des Landesfürsten und der hohen Würdenträger war er wie einer aus der Menge des Volkes. Es entstand aber Mangel im Lande, und er machte sich auf, aus seiner Heimat nach We zu ziehen. Da sprachen seine Schüler: »Meister, du gehst, und deine Rückkehr ist unbestimmt, darum wagen wir Schüler um etwas zu bitten, worüber uns du, Meister, belehren mögest: Hast du, Meister, nicht die Reden des Hu Kiu Dsï Lin gehört?«

Meister Liä Dsï lächelte und sprach: »Ja, was hat denn Meister Hu gesagt? Immerhin; der Meister unterhielt sich oft mit Be Hun Wu Jen, und was ich gehört, wenn ich daneben stand, will ich versuchen, euch zu sagen. Seine Reden lauteten also: Es ist ein Zeugendes, das nicht erzeugt ist; es ist ein Wandeln des, das sich nicht wandelt. Das Unerzeugte hat Freiheit, Zeugendes zu zeugen, das Unwandelbare hat Freiheit, Wandelndes zu wandeln. Das Erzeugte muß aber notwendig weiter zeugen, das Wandelbare muß notwendig sich weiter wandeln. Darum ist es immer im Zeugen und Wandeln begriffen. Das immer im Zeugen und Wandeln Begriffene hört niemals auf, zu zeugen und sich zu wandeln; so verhält es sich mit Licht und Finsternis, so verhält es sich mit den vier Jahreszeiten.[33]

Das Unerzeugte ist vermutlich einzig. Das Unwandelbare wallt im unendlichen Raum hin und her, ohne daß es in seinem Pfade an eine Grenze käme. Im Buch des Herrn der gelben Erde steht:


Der Geist der Tiefe stirbt nicht.

Er ist das Ewig Weibliche.

Beim Ausgang des Ewig Weiblichen

Liegt die Wurzel von Himmel und Erde.

Endlos drängt sich's und ist doch wie beharrend.

Der es wirkt, bleibt ohne Mühe.


Darum ist das, was alle Wesen erzeugt, unerzeugt; was alle Wesen wandelt, unwandelbar. Von ihm geht in Freiheit alles Zeugen aus, von ihm alle Wandlung, von ihm alle Form, von ihm alle Farbe, von ihm alle Erkenntnis, von ihm alle Stärke, von ihm alle Abnahme, von ihm alle Ruhe. Wollte man es aber als Zeugen, Wandlung, Form, Farbe, Erkenntnis, Stärke, Abnahme, Ruhe bezeichnen, so wäre das falsch.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 33-34.
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