Buch I

[185] Die Überschrift »Tiän Jui« ist nicht leicht zu übersetzen. Jui ist ursprünglich ein Abzeichen aus Nephrit, das die Lehnsfürsten vom Kaiser bei ihrer Einsetzung erhielten. Außerdem heißt es auch ein glückliches Omen. Der Sinn ist: Darstellung der Äußerungen des jenseits der Erscheinungen befindlichen Absoluten innerhalb der Welt. Man ist versucht, den Titel zu übersetzen: »Ding an sich und Erscheinung«, was den Ausführungen des Buches im allgemeinen entspricht.


1 Was den Lehrer des Liä Dsï, Hu Kiu Dsï Lin, und seinen älteren Freund Be Hun Wu Jen anlangt, so finden sich beide wiederholt erwähnt. Vgl. II, 13; IV, 7; VIII, 1. Sie sind auch ohne Zweifel identisch mit den in II, 3 (IV, 5) erwähnten Philosophen Lau Schang (der alte Schang) und Be Gau Dsï. Hu Kiu Dsï Lin findet sich außerdem in Lü Schï Tschun Tsiu Kap. 15 erwähnt; beide auch in Dschuang Dsï, wo Be Hun Wu Jen jedoch etwas anders geschrieben ist. Wenn es gelänge, die beiden oder einen von ihnen mit einer historischen Persönlichkeit zu identifizieren, so wäre damit ein Anhaltspunkt für die Zeit, in der Liä Dsï gelebt hat, gefunden. Leider ist es mit dem zurzeit zugänglichen Material nicht möglich. Der Versuchung, Lau Schang mit Lau Dsï (Laotse) zu identifizieren, muß man aus Mangel an Material widerstehen. In Lü Schï Tschun Tsiu wird Hu Kiu Dsï Lin als Lehrer des Dsï Tschan bezeichnet. In Dschuang Dsï V, 2 kommt Be Hun Wu Jen als Lehrer Dsï Tschan's vor. Dsï Tschan ist eine historische Persönlichkeit, namens Gung Sun Kiau, ein Freund Kung Dsï's, vgl. Lun Yü V, 15; XIV, 9 und 10. Damit kämen wir für Liä Dsï auch etwa in die Zeit Kungs. Vgl. übrigens die Einleitung.

Hu Kiu heißt wörtlich »Urnenberg«. Hu Kiu Dsï Lin oder Hu Kiu Dsï, wie er auch heißt, würde demnach bedeuten: Der Meister (Lin) vom Urnenberg. Der »Urnenberg« ist einer der fünf Berge der Seligen im Ostmeer (vgl. V, 2 identisch mit Fang Hu, der »viereckigen Urne«). Daraus ist zu schließen, daß Hu Kiu Dsï Lin kein eigentlicher Name, sondern eine Gelehrtenbezeichnung, wie sich häufig ähnliche finden, ist. Die Lehren des »Meisters vom Urnenberg«[185] enthalten gewisse Anklänge an altindische Philosopheme, so daß man sehr gerne ihn in Zusammenhang mit Indien bringen würde, wenn sprachlich in seinem Namen der geringste Anhaltspunkt dazu gegeben wäre. Schließlich ist es auch möglich, daß hier ebenso wie an anderen Stellen, die an Buddhistisches anklingen, zufällige Übereinstimmungen vorliegen. Das Buch enthält ja auch manche Berührungspunkte mit modern europäischen Ausführungen, die sicher nicht auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhen.

Die Ausführungen des vorliegenden Abschnittes geben in Anlehnung an Laotses Ausführungen über den SINN eine sehr gute Unterscheidung zwischen dem in Freiheit befindlichen »Ding an sich« und der nach notwendigen Gesetzen sich auswirkenden Welt der Erscheinung. Das Zitat aus dem Buch des Herrn der gelben Erde findet sich wörtlich im Taoteking, Abschn. 6.

Der »Herr der gelben Erde«, chinesisch Huang Di, gewöhnlich mit »der gelbe Kaiser« übersetzt, ist eine im Taoismus viel zitierte mythische Gestalt (vgl. I, 4; II, 1. 18; III, 1. 7; V, 2; VI, 9). Trotz der historisch erscheinenden Züge, mit denen die Überlieferung von ihm ausgestattet ist und die sogar zu manchen Vermutungen über die Einwanderung der Chinesen vom Westen her Anlaß gegeben haben, scheint den Sagen vom »Gelben Herrn« die Gestalt eines alten Gottes zugrunde zu liegen. Diese Gottheit erinnert in vielen Zügen an den Saturn der westlichen Völker. Die Zeit des Gelben Herrn ist das goldene Zeitalter, da der Mensch auch noch mit den Tieren in Frieden lebte und alle Erfindungen der Kultur im Gefolge des Ackerbaues ihren Anfang nahmen. Ein interessantes Zusammentreffen ist es, daß auch der Planet Saturn der Stern der (gelben) Erde ist und seine Gottheit ebenfalls den Namen »Huang Di« führt. Es entspricht einem auch sonst hervortretenden Zug der chinesischen Religion, daß diese Gottheit später vermenschlicht und in einen mit geheimer Weisheit begabten Herrscher umgewandelt wurde, in dessen Bild dann auch manche Züge der prähistorischen Kulturentwicklung hineingetragen wurden.

Zum sachlichen Inhalt vergleiche man den Hegelschen Satz: »Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens in Wahrheit ausmacht«.


2 Ganz ähnlich wie im Neuplatonismus, bei Spinoza und dann wieder in der deutschen romantischen Philosophie ist hier das Problem der ewigen Verwandlung des Absoluten in die Welt behandelt.

Hatte sich die alte chinesische Philosophie die Erklärung der Weltentstehung leicht gemacht, indem sie bei dem dualistischen Gegensatz[186] von Licht (positiver, männlicher Kraft, Geistigkeit usw.) und Finsternis (negativer, weiblicher Kraft, Materialität usw.) Halt machte, so geht der kühne Idealismus Liä Dsïs über diesen Dualismus hinweg zum Monismus weiter. Er unternimmt es, die Geistigkeit als Grundprinzip auch der materiellen Welt aufzustellen. Bezeichnend ist es, daß er bei diesem Ableitungsversuch auf dieselbe Schwierigkeit stößt wie jeder idealistische Monismus: auf die Schwierigkeit, die Vermittlung zu finden zwischen dem Absoluten und der Welt. Und wie die westliche Philosophie sich mit der Stufenfolge der »Potenzen« geholfen hat, so unterscheidet auch Liä Dsï verschiedene Phasen in diesem Prozeß. In zwei Abschnitten vollzieht sich der Übergang: Über die ideelle Differenzierung von Kraft, Form und Stoff zum »Dasein«. Man könnte dieses Dasein dem Wortlaut nach auch »Chaos« nennen, doch ohne üble Nebenbedeutung, einfach als Ineinandersein der – ideel schon vorhandenen – Potenzen. Zur Beschreibung dieses Zustandes dient wieder ein Spruch aus Laotse (Taoteking No. 14. Vgl. auch No. 21. 25). Als zweite Etappe kommt nun die weitere »Entwicklung« zur wechselnden Formenwelt. Hier ist im Anschluß an das Buch der Wandlungen auf die Zahlensymbolik zurückgegriffen. Interessant ist dabei die Unterscheidung der doppelten Eins, der Ureins (die freilich potentiell schon eine Differenzierung in sich trägt) und der durch den Kreislauf der Wandlung entstandenen zweiten Eins, die der Wirklichkeit zuführt (vgl. die »zweite Eins«, das »erstgeborene Eine« als das vollkommene Abbild der ersten Eins bei Nikomachos, Theol. Arithm. pag. 44). Hiermit ist er nun da angelangt, wo die populäre Kosmogonie zu beginnen pflegte, bei »Himmel« und »Erde« und, als Vereinigung von Geist und Materie, dem »Menschen«.


3 Während der letzte Abschnitt sich mit der Erklärung der Weltentstehung beschäftigte, legt dieser die Wirkungsweise des Ewigen innerhalb der Welt der Endlichkeit dar, zu der bezeichnenderweise auch der »Himmel«, die geistige Welt, soweit sie Phänomen ist, gehört.


4 Diese Szene findet sich in etwas veränderter Form auch in Dschuang Dsï XVIII, 6. Die Verschiedenheiten des Textes lassen sich einmal daraus erklären, daß Dschuang Dsï den Text vereinfacht hat, andererseits daraus, daß der Text bei Liä Dsï nachträglich noch kommentiert und erweitert wurde. Wir glaubten von einer wörtlichen Übersetzung absehen zu können, da die verschiedenen Tierarten, die im Verlauf der Metamorphosen aufeinander folgen, zum Teil nicht mehr identifizierbar sind. Auch hat die auf Intuition und[187] Sagen beruhende Ausführung keinerlei tatsächliche Forschungen zur Grundlage, weshalb die Einzelheiten ohne Wert sind. Die nächste Stufe vor dem Menschen ist z.B. das Pferd.

Wenn Legge (Sacred Books of the East, vol. XL, pag. 10) in diesen Ausführungen eine dem Buddhismus verwandte Darstellung der Seelenwanderung sieht, so dürfte das doch nicht den Tatsachen entsprechen. Während die »Seelenwanderung« im Buddhismus unlösbar mit der Karma-Idee verbunden ist, ist in den hier vorliegenden Ausführungen nur von den Wandlungen der Form, die das Plasma annehmen kann, die Rede. Viel eher kämen hier modern naturwissenschaftliche Theorien in Betracht. Um eine »Abstammungslehre« handelt es sich übrigens auch nicht, vielmehr um Wandlungen innerhalb der jetzt bestehenden organisierten Welt. Das Wort, das mit Kreislauf übersetzt ist, heißt eigentlich »Triebwerk, Mechanismus«.

Die in der zweiten Hälfte des Abschnittes gegebenen Ausführungen geben diese Auffassung noch deutlicher, nach der das Leben mit seinem Wechsel nur eine Art vorübergehender Konstellation der verschiedenen Elemente ist, die kaleidoskopisch zusammentreten und sich wieder trennen. Sehr interessant ist auch der Standpunkt, daß das Leben, weil endlich, notwendig enden muß. Diese Auffassung läuft den später im Taoismus aufgekommenen Bestrebungen, durch irgendein Lebenselixier körperliche Unsterblichkeit zu erlangen, schnurstracks zuwider.


5 Nach den theoretischen Ausführungen folgen nun einige praktische Anwendungen in Form von parabelartigen Geschichten. Die Namen sind an sich unwichtig. Ein Beweis, daß das Buch noch aus der Zeit vor der strengen Scheidung zwischen Konfuzianismus und Taoismus stammt, ist die harmlose Art, wie Konfuzius sehr häufig erwähnt wird. Wir haben hier wohl ähnliches Traditionsgut vor uns, wie es zum Teil ins 18. Buch der Lun Yü Eingang gefunden hat. Sachlich ist hinzuweisen auf die von Plato erwähnten Gründe zur Dankbarkeit.


9 Vgl. Laotse, das Buch vom SINN und LEBEN, No. 38.


10 Yü Hiung war der Sage nach der Lehrer des Königs Wen aus der Dschoudynastie (ca. 1200 v.Chr.). Vgl. II, 17; VI, 7; VII, 19.

Zur Sache vgl. Heraklits: παντα ῥει. Die Stetigkeit des Zeitverlaufs ist sehr gut beobachtet.


11 Humorvolle Darlegung der verschiedenen »wissenschaftlichen«[188] Theorien über die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit des Weltuntergangs. Man würde heutzutage andere Ausdrücke gebrauchen. Letzten Endes dürfte der Standpunkt Liä Dsïs auch heute nicht überwunden sein.


12 Über den »Patriarchen« Schun, der möglicherweise ebenso wie sein Vorgänger Yau ein vermenschlichter Gott ist, vgl. IV, 14; VI, 1; VIII, 1. 3. 12. 13, ferner Lun Yü XX, 1 und sonst oft. Der Abschnitt findet sich auch Dschuang Dsï XXII, 4. Ähnliche Stellen finden sich im Dhammapada. Z.B. »›Diese Söhne gehören mir, dieser Besitz gehört mir‹, mit solchen Gedanken quält sich ein Narr. Er selbst gehört sich nicht einmal; wie viel weniger Söhne und Besitz!«

Zur Stelle: »Es sind Überbleibsel« – wörtlich ist mit dem chinesischen Ausdruck die abgeworfene Larvenhaut, aus der die Zikade ausgekrochen ist, gemeint. – Zum Ganzen vgl. Dschuang Dsï XXII.


13 Guo war eines der herrschenden Geschlechter im Staate Tsi. Vgl. »Die drei Räuber« im Yin Fu Ging (Einleitung).

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 185-189.
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