Zweites Kapitel.
Von den Graden unsers Wissens

[142] § 1. (Das anschauliche Wissen.) All unser Wissen besteht, wie ich gesagt, darin, dass die Seele ihre eignen Vorstellungen erfasst; es ist das das höchste Licht und die grösste Gewissheit, deren wir mit unseren Vermögen und unserer Art zu wissen fähig sind; deshalb habe ich die Grade dieser Gewissheit näher zu betrachten. Die unterschiedene Klarheit des Wissens scheint mir in der unterschiedenen Art der Auffassung zu liegen, die die Seele von der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ihrer Vorstellungen hat. Denn beobachtet man sein eigenes Denken, so bemerkt man, dass die Seele diese Uebereinstimmung zweier Vorstellungen manchmal unmittelbar durch diese selbst erfasst, ohne dass eine dritte dabei vermittelt; dies kann man das anschauliche Wissen nennen. Hier braucht sich die Seele nicht mit Beweisen und Prüfen zu bemühen, sondern sie erkennt die Wahrheit, wie das Auge das Licht, blos dadurch, dass sie darauf sich richtet. In dieser Weise weiss die Seele, dass schwarz nicht weiss ist, dass ein Kreis kein Dreieck ist, dass drei mehr als zwei sind, und dass drei gleich ist zweien und eins. Solche Wahrheiten erfasst die Seele bei dem ersten Ueberblick der Vorstellungen, durch reines Anschauen, ohne Zwischenkunft einer andern Vorstellung; es ist das klarste und sicherste Wissen, dessen wir schwache Menschen fähig sind. Diese Art des Wissens ist unwiderstehlich; gleich dem hellen Sonnenlicht zwingt es zu seiner Erkenntniss, so wie die Seele sich darauf wendet; es lässt keinen[142] Raum für Zaudern, Zweifeln und Untersuchen; die Seele ist sofort von dessen klarem Licht erfüllt. Auf dieser Anschaulichkeit beruht alle Gewissheit und Sicherheit unsers Wissens; sie ist so gross, dass man sich eine grössere nicht vorstellen und deshalb sie auch nicht verlangen kann; denn Niemand kann sich eine grössere Gewissheit vorstellen, als die, dass eine Vorstellung in seiner Seele so ist, wie er sie vorstellt, und dass zwei Vorstellungen, die er als verschieden erkennt, verschieden und nicht dieselben sind. Wer noch eine höhere Gewissheit verlangt, weiss nicht, was er will; er möchte wohl ein Skeptiker sein, aber er ist keiner. Die Gewissheit beruht so ganz auf dieser Anschauung, dass sie bei dem nächsten Grade der Gewissheit, den ich den beweisbaren nenne, für alle Verbindungen der Zwischenvorstellungen nöthig ist, ohne die das Wissen und die Gewissheit nicht erreicht werden kann.

§ 2. (Das beweisbare Wissen.) Der nächste Grad des Wissens ist der, wo die Seele nur mittelbar die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen bemerkt. Wo die Seele diese Uebereinstimmung überhaupt bemerkt, ist immer ein sicheres Wissen; allein die Seele bemerkt sie nicht überall, wo es geschehen könnte. In solchem Falle bleibt die Seele im Nichtwissen oder kommt wenigstens nicht über Vermuthungen und Wahrscheinlichkeiten hinaus. Die Seele bemerkt diese Uebereinstimmung nicht immer, weil sie die Vorstellungen, um die es sich handelt, nicht so nahe zusammenstellen kann, um dies zu erkennen. In solchem Falle, wo die Seele dies nicht kann, um durch unmittelbare Vergleichung oder gleichsam durch Aneinanderlegung dieser Vorstellungen ihre Uebereinstimmung zu erkennen, ist es zweckmässig, durch die Vermittelung anderer Vorstellungen (einer oder mehrerer, wie es passt) diese gesuchte Uebereinstimmung zu entdecken. Dies nenne ich überlegen. So kann die Seele, wenn sie die Uebereinstimmung der drei Winkel eines Dreiecks mit zwei rechten in der Grösse erkennen will, dies nicht durch eine unmittelbare Anschauung und Vergleichung derselben thun; denn die drei Winkel des Dreiecks können nicht zusammengebracht und mit ein oder zwei Winkeln verglichen werden; deshalb hat die Seele hier kein unmittelbares[143] oder anschauliches Wissen. In solchem Falle sucht die Seele gern nach andern Winkeln, denen die drei Winkel des Dreiecks gleich sind, und indem sie findet, das jene gleich zweien rechten seien, weiss sie nunmehr auch, dass die drei Winkel des Dreiecks gleich zweien rechten sind.

§ 3. (Dies Wissen hängt von Beweisen ab.) Diese vermittelnden Vorstellungen, welche dazu dienen, diese Uebereinstimmung zweier andern darzulegen, heissen Beweismittel, und wenn damit die Uebereinstimmung klar und deutlich dargethan worden, heisst es ein Beweis. Die Uebereinstimmung wird damit dem Verstande dargelegt und bewirkt, dass die Seele sieht, dass es sich so verhält. Die Schnelligkeit, womit die Seele diese vermittelnden Vorstellungen ausfindig macht und sie richtig verwendet, wird Scharfsinn genannt.

§ 4. (Dies ist aber nicht leicht.) Obgleich dieses durch Beweise vermittelte Wissen ein gewisses ist, so ist doch seine Gewissheit nicht so klar und hell, und die Zustimmung erfolgt nicht so schnell wie bei dem anschaulichen Wissen. Die Seele bemerkt wohl bei dem Beweise zuletzt die Uebereinstimmung der betreffenden Vorstellungen, allein nicht ohne Mühe und Aufmerksamkeit; mit einem blossen Blick im Vorübergehen ist es nicht abgemacht; vielmehr gehört stetiger Fleiss und Nachdenken zu dieser Erkenntniss, und man muss Schritt vor Schritt weiter gehen, bevor man auf diesem Wege zur Gewissheit gelangt und die Uebereinstimmung oder den Widerstreit zwischen zwei Vorstellungen bemerkt; es bedarf hier der Beweise und der Vernunft, um sie aufzuzeigen.

§ 5. (Nicht ohne vorgängige Zweifel.) Das anschauliche Wissen unterscheidet sich auch darin von dem beweisbaren, dass zwar bei letzterem durch die Vermittelung der Zwischen-Vorstellungen aller Zweifel über die Uebereinstimmung beseitigt wird, aber doch vor dem Beweise Zweifel bestehen, während bei dem anschaulichen Wissen dergleichen so wenig vorkommen können, wenn man überhaupt bestimmte Vorstellungen fassen kann, wie bei dem Auge (was klar das Schwarz und Weiss sehen kann) man nicht zweifeln kann, ob diese Dinte und dieses Papier von gleicher Farbe seien. Wenn das Auge[144] überhaupt sehen kann, so wird es auf den ersten Blick ohne Zögern bemerken, dass die auf diesem Papier gedruckten Worte von der Farbe des Papiers verschieden sind, und ebenso wird die Seele, wenn sie überhaupt bestimmter Auffassungen fähig ist, die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung derjenigen Vorstellungen da bemerken, wo ein anschauliches Wissen Statt hat. Hat das Auge seine Sehkraft oder die Seele ihre Fassungskraft verloren, so müht man sich vergeblich um die Schnelligkeit des Sehens dort und um die Klarheit der Auffassung hier.

§ 6. (Dieses Wissen ist nicht so klar.) Die durch Beweise vermittelte Auffassung ist zwar auch sehr klar, allein doch ohne jenes helle Leuchten und jene volle Gewissheit, welche das anschauliche Wissen immer hat. Jenes gleicht einem Gesicht, was durch mehrere Spiegel von dem einen Spiegel auf den andern zurückgeworfen wird; so lange dabei die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung mit dem Gegenstande bleibt, gewähren sie ein Wissen; allein mit jeder Weiterstrahlung mehr nimmt die Klarheit und Bestimmtheit ab, bis der Gegenstand nach vielen Ueberstrahlungen trübe wird und namentlich für schwache Augen nicht mehr auf den ersten Blick erkannt werden kann. Ebenso verhält es sich mit dem auf einem langen Beweise beruhenden Wissen.

§ 7. (Jeder Schritt muss dabei von anschaulicher Gewissheit sein.) Bei jedem Schritte in dem bewiesenen Wissen ist ein anschauliches Wissen der Uebereinstimmung mit der nächsten, als Beweismittel dienenden Zwischenvorstellung vorbanden; denn ohnedem wäre hier wieder erst ein Beweis nöthig, da ohne die Auffassung dieser Uebereinstimmung kein Wissen entstehen kann. Wird sie durch sich selbst erfasst, so ist das Wissen anschaulich; ist dies nicht der Fall, so bedarf es einer vermittelnden Vorstellung als eines Maasses, an dem die Uebereinstimmung erkannt werden kann. Dies zeigt, dass jeder Schritt bei Beweisen, wenn sie Wissen erzeugen sollen, anschauliche Gewissheit haben muss, bei der die Seele nur daran zu denken braucht, um die Uebereinstimmung der betreffenden Vorstellung sichtbar oder gewiss zu machen. Zu einem Beweise gehört deshalb, dass die Uebereinstimmung jener vermittelnden Vorstellungen[145] unmittelbar erfasst werde, durch welche die Uebereinstimmung der zwei Vorstellungen, um die es sich handelt (von denen die eine immer die erste und die andere die letzte in der Rechnung ist), gefunden werden soll. Diese anschauliche Auffassung der Uebereinstimmung der Zwischen-Vorstellungen muss bei jedem Schritt des Beweises sorgfältig der Seele zugeführt werden, und man muss sicher sein, dass nichts ausgelassen ist; weil bei langen Ausführungen und vielen Beweismitteln das Gedächtniss dieselben nicht immer gleich genau behält. Daher kommt es, dass dieses Wissen unvollkommener als das anschauliche ist, und dass man oft falsche Begründungen für Beweise hält.

§ 8. (Daher der Irrthum »ex präcognitis et präconcessis.«) Diese Nothwendigkeit eines anschaulichen Wissens für jeden Schritt in wissenschaftlichen Beweisen und Begründungen hat wahrscheinlich den irrigen Grundsatz veranlasst: »ex präcognitis et präconcessis« (aus dem bereits Erkanntem und dem bereits Zugestandenen). Ich werde diesen Irrthum bei Behandlung der Sätze, insbesondere dem sogenannten Grundsätze, näher darlegen und zeigen, dass sie nur durch ein Missverständniss für die Grundlage all unsers Wissens und unserer Begründungen gehalten werden.

§ 9. (Die Beweise sind nicht auf Grossen beschränkt.) Es gilt allgemein für ausgemacht, dass nur die Mathematik der beweisbaren Gewissheit fähig sei. Allein die anschauliche Erfassung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist nicht auf ein Vorrecht der Zahlen, der Ausdehnung und der Gestalt beschränkt; vielmehr hat nur der Mangel gehöriger Methoden und Fleisses, aber nicht der genügenden Anschaulichkeit die Meinung veranlasst, dass in andern Zweigen des Wissens für dies Beweisen wenig Raum und nicht so viel sei, als die Mathematiker verlangen. Denn überall, wo man die Uebereinstimmung gewisser Vorstellungen unmittelbar erkennen kann, ist auch anschauliches Wissen möglich, und wo diese Uebereinstimmung durch anschauliche Auffassung von deren Uebereinstimmung mit Zwischenvorstellungen geschehen kann, da sind Beweise möglich, und dies ist nicht blos bei den Vorstellungen der Zahlen, der Ausdehnung und der Gestalt mit ihren Besonderungen möglich.[146]

§ 10. (Weshalb man dies geglaubt hat.) Man hat diesen Satz nicht blos deshalb angenommen, weil diese Wissenschaften von allgemeinem Nutzen sind, sondern weil bei Bemessung der Gleichheit oder Ungleichheit der einzelnen Zahlen diese selbst den kleinsten Unterschied klar und erkennbar machen. Bei der Ausdehnung ist dies zwar in diesem Maasse nicht der Fall; allein man hat Mittel aufgefunden, auch hier die genaue Gleichheit zweier Winkel oder Grössen oder Gestalten zu prüfen und durch Beweise darzulegen; die Zahlen können, wie die Gestalten, beide auf sichtbare und dauernde Zeichen gebracht werden, durch welche die betreffenden Vorstellungen scharf bestimmt werden, während dies da, wo es nur durch Worte und Namen geschieht, meist nicht der Fall ist.

§ 11. Bei andern einfachen Vorstellungen, deren Besonderungen und Unterschiede sich allmählich vollziehen und nach Graden berechnet werden und nicht nach der räumlichen Grösse, fehlt diese genaue Bestimmung ihrer Unterschiede, und man kann deshalb hier die volle Gleichheit und die kleinsten Unterschiede nicht in solcher Weise messen. Es handelt sich hier um sinnliche Empfindungen, die durch die Grösse, Gestalt, Zahl und Bewegung der kleinen, nicht mehr wahrnehmbaren Körperchen hervorgebracht werden; ihre Unterschiede sind also von dem Wechsel einiger oder aller dieser Ursachen abhängig, und da dies nicht bei diesen kleinsten unsichtbaren Stofftheilchen wahrgenommen werden kann, so fehlt hier das Maass für die verschiedenen Grade dieser einfachen Bestimmungen. Nimmt man z.B. an, dass die Empfindung des Weissen in uns durch eine bestimmte Zahl Kügelchen bewirkt werde, die sich um ihren Mittelpunkt drehen und gleichzeitig mit einer gewissen Schnelligkeit auf die Netzhaut des Auges treffen, so folgt, dass, je mehr die Theile eines Körpers an seiner Oberfläche so geordnet sind, dass sie mehr solche Lichtkugelchen aussenden und ihnen ihre Drehung geben, er um so weisser erscheinen muss. Ich behaupte nicht, dass das Licht in solchen kleinen runden Kügelchen bestehe, oder die Weisse in einem solchen Gewebe der Theile, dass diese Kügelchen die bestimmte Drehung erhalten, wenn der Körper sie abstösst, da ich hier das Licht und die Farben nicht[147] nach ihrer Natur zu untersuchen habe; allein ich kann nicht begreifen (und ich möchte wohl, dass Jemand mir es verständlich machte), wie äussere Körper unsere Sinne anders erregen können als durch unmittelbare Berührung der zu fühlenden Körper selbst, wie dies bei dem Tasten und Fühlen geschieht, oder durch den Stoss unsichtbarer, von denselben ausgehender Theilchen, wie es beim Sehen, Hören und Riechen geschieht. Die Mannichfaltigkeit dieser Wahrnehmungen beruht dabei auf dem Unterschied der Stösse dieser Theilchen, in Folge ihrer verschiedenen Grösse, Gestalt und Bewegung.

§ 12. Mögen es nun Kügelchen sein oder nicht, und mögen sie sich um ihren Mittelpunkt drehen oder nicht, so muss doch ein Körper, je mehr Lichttheilchen von ihm mit einer solchen Bewegung abgestossen werden, welche die Empfindung des Weissin uns erregen können, und je schneller diese Bewegung geschieht, um so weisser erscheinen, wenn diese grössere Zahl Theilchen von ihm ausgeht, wie ein Blatt Papier zeigt, je nachdem es in die Sonne, in den Schatten oder in eine dunkle Höhle gelegt wird; an jedem dieser Orte wird es einen andern Grad von Weissin uns erregen.

§ 13. Da man aber weder die Zahl dieser Theilchen noch ihre, das Weiss hervorbringende Bewegung kennt, so kann man die Gleichheit zweier Grade von Weiss nicht bestimmt beweisen; es fehlt der Maassstab, um sie zu messen, und das Mittel, um die kleinsten Unterschiede zu erkennen, da die Hülfe der Sinne hier ausgeht. Ist aber der Unterschied so gross, dass die Seele ihn bestimmt erkennen und behalten kann, so sind diese Eigenschaften oder Farben, wie ihre verschiedenen Arten, z.B. blau und roth ergeben, ebenso des Beweises fähig, wie die Bestimmungen der Zahl und der Ausdehnung, und was ich hier über Weiss und die Farben gesagt habe, gilt für alle zweiten Eigenschaften und deren Besonderungen.

§ 14. (Das wahrnehmende Wissen von den einzelnen daseienden Dingen.) Das anschauliche und das beweisbare Wissen bilden die zwei Grade des Wissens; was dieses nicht erreicht, ist, trotz aller Sicherheit, mit der es festgehalten wird, nur Glauben oder Meinung, aber kein Wissen, wenigstens für die allgemeinen Wahrheiten. Allerdings gilt auch noch ein anderes[148] Auffassen der Seele als Wissen, was die einzelnen ausser uns vorhandenen endlichen Dinge betrifft, welches mehr als blosse Wahrscheinlichkeit enthält, aber doch die vorerwähnten beiden Grade der Gewissheit nicht vollkommen erreicht. Hier ist es allerdings völlig gewiss, dass die von dem äussern Gegenstande empfangene Vorstellung in der Seele ist; dies weiss man anschaulich; allein ob hier noch etwas Anderes neben dieser Vorstellung besteht, und ob man von dieser sicher auf das Dasein eines dieser Vorstellung entsprechenden Dinges ausser uns schliessen kann, dies wird von Manchem in Frage gestellt, da der Mensch solche Vorstellungen in seiner Seele haben könne, ohne dass ein solches Ding bestehe, und ohne dass ein Gegenstand seine Sinne errege. Indess ist uns hier ein überzeugendes Mittel gewährt, was jeden Zweifel ausschliesst; denn die Auffassung ist eine ganz andere, wenn man bei Tage in die Sonne sieht oder nur des Nachts an sie denkt, und wenn man wirklich Wermuth schmeckt und eine Rose riecht oder blos an diesen Geschmack und Geruch denkt. Der Unterschied zwischen einer nur durch das Gedächtniss in der Seele wieder erweckten Vorstellung und der durch die Sinne wirklich in die Seele eingetretenen ist so gross, als er nur irgend zwischen zwei Vorstellungen sein kann. Sagt man, dass der Traum dasselbe leiste, und dass alle diese Vorstellungen auch ohne äussere Gegenstände in uns erweckt werden können, so träume man gefälligst, dass ich folgendermassen antworte:

Erstens will es nicht viel sagen, ob ich diese Zweifel beseitige oder nicht. Denn wenn Alles nur ein Traum ist, so bedarf es keiner Gründe und Beweise; Wahrheit und Wissen hören dann auf.

Zweitens wird sicherlich ein offenbarer Unterschied zwischen dem Traume, dass man im Feuer ist, und zwischen dem wirklichen Darin-sein anerkannt werden. Will man aber auch da den Skeptiker fortspielen und das, was ich Wirklich-in-dem-Feuer-sein nenne, blos für einen Traum erklären und leugnen, dass man des Feuers ausser uns gewiss sein könne, so folgt doch sicher Lust oder Schmerz auf die Berührung gewisser Gegenstände, deren Dasein man durch die Sinne wahrnimmt oder träumt. Diese Gewissheit ist so gross, wie unser Glück[149] und Elend, über das hinaus das Wissen und Dasein uns gleichgültig ist. Man kann deshalb den beiden früheren Arten des Wissens noch das Wissen von dem Dasein einzelner äusserer Gegenstände hinzufügen und zwar in Folge der Wahrnehmung oder des Bewusstseins von dem wirklichen Eintritt ihrer Vorstellungen. Es bestehn also drei Grade des Wissens; das beschauliche, das beweisbare und das sinnliche; jedes hat seinen besonderen Grad und Grund der Ueberzeugung und Gewissheit.

§ 15. (Das Wissen ist nicht immer klar, selbst wenn die Vorstellungen es sind.) Da unser Wissen sich nur auf unsere Vorstellungen gründet und nur sie betrifft, so scheint daraus zu folgen, dass es auch diesen Vorstellungen entsprechen muss, wo also die Vorstellungen klar und deutlich oder dunkel und verworren sind, da müsste auch das Wissen so beschaffen sein. Allein dies ist nicht der Fall; denn das Wissen besteht nur in der Erfassung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Vorstellungen, und deshalb besteht seine Klarheit oder Dunkelheit in der Klarheit oder Dunkelheit dieser Auffassung und nicht in der Klarheit oder Dunkelheit der Vorstellungen selbst. So kann z.B. Jemand eine ebenso klare Vorstellung von den Winkeln eines Dreiecks und von der Gleichheit derselben mit zwei rechten haben, wie irgend ein Mathematiker der Welt, und doch nur eine dunkle Auffassung von deren Uebereinstimmung und deshalb auch nur ein dunkles Wissen des Satzes haben. Dagegen können Vorstellungen, die wegen ihrer Dunkelheit oder sonst verworren sind, kein klares und deutliches Wissen bilden; denn wenn die Vorstellungen selbst verworren sind, so kann man auch nicht klar erkennen, ob sie übereinstimmen oder nicht; oder um deutlicher zu sprechen: Wer mit den gebrauchten Worten keine bestimmten Vorstellungen verbindet, kann daraus keine Sätze bilden, deren Wahrheit er gewiss wäre.[150]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 142-151.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
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