Drittes Kapitel.
Von dem Umfange des menschlichen Wissens

[151] § 1. Wenn das Wissen, wie gesagt, in der Auffassung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung bestimmter Vorstellungen besteht, so folgt daraus, dass: 1) Unser Wissen nicht weiter gehen kann als unsere Vorstellungen.

§ 2. (Nicht weiter, als man die Uebereinstimmnng erfassen kann.) 2) Dass das Wissen nicht weiter geht, als man die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung desselben erfassen kann: diese Erfassung geschieht 1) entweder durch Anschauung oder unmittelbares Vergleichen zweier Vorstellungen; oder 2) durch Gründe, indem die Uebereinstimmung zweier Vorstellungen durch Vermittlung anderer festgestellt wird; oder 3) durch Wahrnehmung, indem man sinnliche Dinge erfasst. Hieraus ergiebt sich noch:

§ 3. (Das anschauliche Wissen erstreckt sich nicht auf alle Beziehungen aller Vorstellungen.) 3) Dass das anschauliche Wissen sich nicht auf alle Vorstellungen und Alles, was man von ihnen wissen möchte, erstrecken kann; denn es lassen sieh nicht alle Beziehungen derselben zu einander durch Aneinanderlegung oder unmittelbare Vergleichung der einen mit der andern erfassen. So kann man, wenn man sich ein stumpfwinkliges und ein spitzwinkliges Dreieck auf gleicher Grundlinie zwischen Parallellinien vorstellt, durch anschauliches Wissen erfassen, dass das eine nicht das andere ist, aber nicht, ob sie einander gleich sind, da dies durch eine unmittelbare Vergleichung nicht erfasst werden kann, weil der Unterschied in der Gestalt die unmittelbare Aneinanderlegung ihrer Theile verhindert; deshalb bedarf es zu ihrer Messung einiger vermittelnder Eigenschaften, und dies ist der Beweis oder das begründete Wissen.

§ 4. (Auch das beweisbare Wissen nicht.) 4) Ergiebt sich aus dem Obigen, dass auch das beweisbare Wissen sich nicht über alle unsere Vorstellungen erstrecken kann, da sich für zwei zu vergleichende Vorstellungen[151] nicht immer solche vermittelnde finden lassen, die in allen Theilen der Beweisführung durch anschauliches Wissen mit einander verknüpft werden können. Wo dies aber nicht angeht, da giebt es kein beweisbares Wissen.

§ 5. (Das sinnliche Wissen ist beschränkter als die beiden andern Arten.) 5) Reicht dies sinnliche Wissen nicht weiter, als wirkliche Gegenstände für die Sinne gegenwärtig sind; es ist also noch beschränkter als die beiden vorigen Arten.

§ 6. (Unser Wissen ist daher beschränkter als unsere Vorstellungen.) Aus alledem erhellt, dass der Umfang unseres Wissens beschränkter ist, als die bestehenden und selbst als der Umfang unserer Vorstellungen. Obgleich unser Wissen auf unsere Vorstellungen beschränkt ist und es dieselben an Umfang und Vollkommenheit nicht übertreffen kann, und obgleich diese Vorstellungen in enge Grenzen gestellt sind gegenüber dem Umfang alles Seienden und dem, was der Verstand anderer erschaffenen Wesen erfassen kann, der nicht an die dumpfe und beschränkte Belehrung einiger nicht einmal genauen Erkenntnissmittel, wie unsere Sinne, gefesselt ist, so würde es doch schon besser mit unserem Wissen stehn, wenn es nur so weit wie unsere Vorstellungen sich erstreckte, und wenn nicht viele Zweifel beständen und Ermittelungen in Betreff unserer Vorstellungen unvermeidlich wären, von denen wir in dieser Welt wahrscheinlich nie erlöst werden dürften. Trotzdem könnte das menschliche Wissen unter den gegenwärtigen Verhältnissen unseres Daseins und unserer Verfassung viel weiter, als bisher, ausgedehnt werden; wenn nur die Menschen aufrichtig und freien Geistesall den Fleiss und die Arbeit ihres Denkens auf die Verbesserung der Erkenntnissmittel verwenden wollten, die sie auf die Ausübung und Unterstützung der Unwahrheit verwenden, um das System, die Interessen oder die Partei aufrecht zu erhalten, bei denen sie betheiligt sind. Indess wird, ohne der menschlichen Vollkommenheit zu nahe zu treten, unser Wissen niemals Alles das erreichen, was wir in Bezug auf die vorhandenen Vorstellungen gern wissen möchten, und es wird nie die Schwierigkeiten überwinden, noch all die Fragen lösen können, die sich in Betreff derselben[152] erheben. So haben wir die Vorstellungen des Vierecks, des Kreises und der Gleichheit und werden doch vielleicht nie einen Kreis auffinden, der einem Viereck gleich ist, und nie diese Gleichheit gewiss erkennen. So haben wir die Vorstellung des Stoffes und des Denkens; aber wir werden wohl nie wissen können, ob jedes stoffliches Ding denkt oder nicht, da durch die Betrachtung unserer eigenen Vorstellungen ohne Offenbarung nicht ermittelt werden kann, ob die Allmacht einem passend eingerichteten blossen Stoffe nicht das Vermögen, aufzufassen und zu denken, verliehen habe oder sonst mit dem so eingerichteten. Stoffe eine denkende stofflose Substanz verbunden habe; denn nach unsern Begriffen kann man sich ebenso gut vorstellen, dass Gott den Stoff selbst mit einem Denkvermögen ausgestattet, wie dass er ihn mit einer Substanz, welche denken kann, verbunden habe; denn wir wissen nicht, worin das Denken besteht, und welchen Arten von Substanzen dieses Vermögen zu verleihen dem allmächtigen Gott gefallen hat, da in einem erschaffenen Wesen dieses Vermögen nur durch den Beschluss und die Güte des Schöpfers bestehen kann. Ich sehe wenigstens darin keinen Widerspruch, weshalb nicht das höchste und ewige, denkende Wesen gewissen Systemen des erschaffenen geistlosen Stoffes in einer ihm passend scheinenden Zusammensetzung einen Grad von Wahrnehmen, Auffassen und Denken verleihen könnte; wenn es auch, wie ich in Buch 4, Kap. 10 und 14 u. ff. gezeigt, ein Widersprach sein würde, dass der Stoff selbst dies ewige, zuerstdenkende Wesen sei. (Da dieser seiner Natur nach ohne Sinne und Denken ist.) Weshalb sollten gewisse Auffassungen, wie z.B. Lust oder Schmerz, nicht in manchen Körpern von bestimmter Einrichtung und Bewegung so gut bestehen, wie sie in einer stofflosen Substanz in Folge der Bewegungen körperlicher Theile eintreten?

Ein Körper vermag nach unsern Begriffen nur einen andern Körper zu stossen oder zu erregen, und die Bewegung kann, so weit wir mit unseren Vorstellungen reichen, nur wieder Bewegung hervorbringen; räumt man daher ein, dass sie auch Lust und Schmerz oder die Vorstellung einer Farbe oder eines Tones hervorbringen kann, so gehen wir über unsere Einsicht und unser Vorstellen hinaus[153] und leiten dies blos von dem Belieben unseres Schöpfers ab. Denn wenn wir anerkennen müssen, dass er mit der Bewegung Wirkungen verbunden hat, welche nach unseren Begriffen die Bewegung nicht hervorbringen kann, weshalb sollte er da sie nicht auch in einem Wesen haben entstehn lassen können, das nach unseren Begriffen derselben unfähig ist; da wir ja ebenso wenig begreifen können, wie die Bewegung auf ein Wesen wirken kann. Ich will damit den Glauben an die Stofflosigkeit der Seele keineswegs erschüttern, denn ich handle hier nicht von der Wahrscheinlichkeit, sondern von dem Wissen, und es ziemt der Bescheidenheit des Philosophen, sich da aller schulmeisterlichen Behauptungen zu enthalten, wo die Gewissheit fehlt, die ein Wissen herbeiführen kann. Man kann dadurch auch erkennen, wie weit unser Wissen reicht; denn da unser jetziger Zustand nicht ein visionärer ist, so müssen wir in vielen Fällen uns mit Glauben und Wahrscheinlichkeiten begnügen, und wenn wir deshalb in der Frage von der Stofflosigkeit der Seele keine beweisbare Gewissheit erreichen können, so darf dies uns nicht auffallen. Alle die grossen Ziele der Moral und Religion bleiben unerschüttert, wenn auch die Stofflosigkeit der Seele wissenschaftlich nicht erwiesen werden kann; weil es offenbar ist, dass Der, welcher uns zunächst hier das Dasein als wahrnehmende und einsehende Wesen gab und für eine Reihe von Jahren uns in diesem Zustand erhält, uns in einen gleichen Zustand von Bewusstheit in eine andere Welt zurückversetzen kann und wird, damit wir die Vergeltung zu empfangen fähig bleiben, die er dem Menschen nach seinen Thaten hier verheissen hat. Deshalb ist es nicht von so zwingender Nothwendigkeit, jene Frage nach der einen oder andern Seite zu entscheiden, wie die übermässigen Eiferer für oder gegen die Unsterblichkeit der Seele die Welt haben glauben machen wollen. Entweder gab man dabei auf der einen Seite seinen ganz in den Stoff vertieften Gedanken allzusehr nach und wollte nur ein Dasein des Stoffes anerkennen, oder man fand auf der andern Seite innerhalb der natürlichen Kräfte des Stoffes kein Denken, wenn man ihn auch noch so sehr mit aller Anstrengung untersuchte, und schloss deshalb dreist, dass selbst der Allmächtige kein Wissen und Denken einer Substanz verleihen[154] könne, welche in irgend einer Weise die Dichtheit enthalte. Wer bemerkt, wie schwer das Wissen mit dem ausgedehnten Stoff oder das Dasein mit Etwas, das gar nicht besteht, sich vereinigen lässt, wird einsehen, wie wenig sicher er weiss, was seine Seele ist. Diese Frage sollte ausserhalb des Bereichs des menschlichen Wissens gestellt werden, und wer unbefangen die dunkeln und verwickelten Punkte aller hier aufgestellten Hypothesen erwägt, wird sich kaum mit Grund für oder gegen die Stofflichkeit der Seele entscheiden können. Auf welcher Seite er auch bleibt, sei es bei einer unausgedehnten Substanz oder einem ausgedehnten denkenden Stoffe, so wird die Schwierigkeit, die eine Seite zu fassen, wenn er sie für sich nimmt, ihn immer auf die andere Seite treten lassen. Es ist nicht zu loben, wenn man auf der einen Seite die Unbegreiflichkeit von Etwas findet, sich nun gewaltsam in die entgegengesetzte Annahme zu stürzen, obgleich sie für den unparteiischen Verstand ebenso unbegreiflich ist. Man zeigt damit nicht allein die Schwäche und Dürftigkeit seines Wissens, sondern auch, wie nichtssagend der Triumph solcher Gründe ist, die, von dem eigenen Standpunkt abgenommen, nur genügen, weil man auf der einen Seite der Frage keine Gewissheit finden kann, die aber deshalb noch nicht zur Wahrheit führen, weil die entgegengesetzte Meinung bei ihrer Prüfung sich mit gleichen Schwierigkeiten belastet zeigt. Was hilft es und nützt es, dass man, um dem anscheinenden Widersinn und den unübersteiglichen Schwierigkeiten der einen Ansicht zu entgehn, sich in die entgegengesetzte flüchtet, die ebenso unbegreiflich ist und auf etwas ebenso Unerklärlichem aufgerichtet ist? Unzweifelhaft haben wir in uns Etwas, was denkt; selbst die Zweifel, was es sei, bestätigen das Dasein desselben; wenn man auch sich darin finden muss, dass man die Art seines Seins nicht weiss; auch nützt ein skeptisches Verhalten hier nichts, da es auch in andern Fällen verkehrt ist, das Dasein eines Dinges abzuleugnen, blos weil man dessen Natur nicht begreifen kann. Ich möchte wohl die Substanz kennen, die nicht Etwas in sich trägt, bei dem der Verstand still stehen muss. Wie sehr müssen oft andere Geister, welche die Natur und innere Verfassung der Dinge sehen und kennen, uns im Wissen übertreffen?[155] Fügt man dem noch ein umfassenderes Begreifen hinzu, so dass sie mit einem Blick die Verbindung und Uebereinstimmung vieler Vorstellungen übersehen und sie schnell mit den unmittelbaren Beweisen unterstützen können, die wir nur langsam, Schritt für Schritt, nach langem Tappen in der Finsterniss zuletzt auffinden, und von denen wir gar leicht den einen wieder vergessen, ehe wir den andern erhascht haben, so können wir einigermassen die Seligkeit der höheren Geister begreifen, die sowohl schneller und eindringender auffassen, als auch ihr Wissen weiter ausdehnen.

Um indess auf unseren Gegenstand zurückzukommen, so ist unser Wissen nicht blos auf die geringe Zahl und Unvollkommenheit unserer Vorstellungen beschränkt, die dazu verwendet werden, sondern es reicht auch für diese Verwendung nicht einmal aus. Indess wollen wir sehen, wie weit es reicht.

§ 7. (Wie weit unser Wissen reicht.) Das Bejahen und Verneinen in Bezug auf unsere Vorstellungen lässt sich, wie ich oben im Allgemeinen bemerkt, auf vier Arten zurückführen: nämlich auf Dieselbigkeit, Zusammenbestehn, Beziehung und wirkliches Dasein. Ich werde untersuchen, wie weit unser Wissen bei jeder dieser Arten reicht.

§ 8. (Unser Wissen der Dieselbigkeit und des Unterschieds reicht so weit als unsere Vorstellungen.) Was zuerst die Dieselbigkeit und die Verschiedenheit anlangt, so reicht bei dieser Art von Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung unserer Vorstellungen unser anschauliches Wissen so weit als unsere Vorstellungen selbst, und es kann keine Vorstellung in der Seele auftreten, die sie nicht sofort durch ein anschauliches Wissen als die erfasst, die sie ist, und die sie als verschieden von andern auffasst.

§ 9. (Unser Wissen von dem Zusammenbestehn reicht nicht weit.) Was zweitens die andere Art anlangt, die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Vorstellungen bezüglich des Zusammenbestehns, so reicht hier unser Wissen nicht weit, obgleich der grösste und erheblichste Theil unserer Kenntniss der Substanzen darin besteht. Denn unsere Vorstellungen von den Arten der Substanzen sind, wie[156] ich gezeigt habe, nur Zusammenfassungen mehrerer einfacher Vorstellungen, die zu einem Dinge vereint werden und so zusammen bestehen. So ist z.B. unsere Vorstellung von der Flamme die eines heissen, leuchtenden, nach oben sich bewegenden Körpers; von Gold die eines besonders schweren, gelben, biegsamen und schmelzbaren Körpers. Diese oder ähnliche Gesammtvorstellungen der Seele werden durch diese Worte für die beiden Substanzen Flamme und Gold bezeichnet. Verlangt man nun mehr von ihnen, zu wissen, so sucht man nur nach weiteren Eigenschaften und Kräften, die diese Substanzen haben oder nicht haben, d.h. man will wissen, welche anderen einfachen Vorstellungen mit diesen Gesammtvorstellungen zusammenbestehen oder nicht.

§ 10. (Weil die Verbindung zwischen den einfachsten Vorstellungen unbekannt ist.) So wichtig und erheblich dieser Theil des menschlichen Wissens ist, so ist er doch sehr dürftig und beschränkt, denn die einfachen Vorstellungen, aus denen unsere Gesammtvorstellungen gebildet sind, führen meistentheils in ihrer Natur keine wahrnehmbare Verbindung mit andern einfachen Vorstellungen oder eine Trennung von solchen mit sich, über deren Zusammenbestehn man Auskunft haben möchte.

§ 11. (Dies gilt namentlich von den zweiten Eigenschaften.) Die Vorstellungen, aus denen unsere Gesammtvorstellungen von Substanzen bestehen, und um die es sich bei der Kenntniss der Substanzen handelt, sind hauptsächlich zweite Eigenschaften, welche sämmtlich (wie gezeigt) von den ersten Eigenschaften ihrer kleinsten nicht wahrnehmbaren Theilchen abhängen, oder vielleicht von Etwas, was unserer Auffassung noch ferner steht. Man ist deshalb nicht im Stande, zu erkennen, welche von ihnen in einer nothwendigen Verbindung oder Trennung zu einander stehen, da man weder die Wurzel kennt, aus der sie hervorkommen, noch die Grösse, Gestalt und das Gewebe ihrer Theile, von denen die Eigenschaften abhängen und woraus sie hervorgehen, die unsere Gesammtvorstellung z.B. vom Golde bilden. Deshalb kann man die anderen, aus der Verfassung der unsichtbaren Theilchen des Goldes hervorgehenden Eigenschaften so wenig wie die damit unverträglichen kennen,[157] die immer mit der Gesammtvorstellung, die man hat, zugleich bestehen müssen oder damit unverträglich sind.

§ 12. (Weil jede Verbindung zwischen den ersten und zweiten Eigenschaften unerkennbar ist.) Neben dieser Unkenntniss der ersten Eigenschaften und der unsichtbaren Körpertheilchen, von welchen die zweiten Eigenschaften abhängen, besteht noch ein anderes, weniger heilbares Nicht-Wissen, was die Kenntniss des Zusammenbestehens oder Nicht-Zusammenbestehens der wahren Vorstellungen desselben Gegenstandes noch weiter uns entrückt (wenn ich mich so ausdrücken darf). Es besteht darin, dass wir die Verbindung der zweiten Eigenschaften mit den ersten, von denen sie abhängen, nicht erkennen können.

§ 13. Dass die Grösse, Gestalt und Bewegung eines Körpers die Ursache der Veränderung in der Grösse, Gestalt und Bewegung eines andern ist, übersteigt unsere Begriffe nicht: die Trennung der einzelnen Theile eines Körpers in Folge des Eindringens eines anderen und der Uebergang aus der Ruhe zur Bewegung, dies und Aehnliches scheint mit einander in Verbindung zu stehen. Wenn man die ersten Eigenschaften der Körper kennte, so würde man wohl viel mehr von ihren gegenseitigen Einwirkungen auf einander wissen; allein da man keine Verbindung zwischen diesen ersten Eigenschaften und den davon in uns bewirkten Empfindungen entdecken kann, so kann man niemals feste und sichere Regeln über die Folgen des Zusammenbestehens von zweiten Eigenschaften aufstellen, selbst wenn man die Grösse, Gestalt und Bewegung dieser unsichtbaren Theilchen, aus denen sie unmittelbar hervorgehn, kennte. Wir wissen so wenig, welche Gestalt, Grösse und Bewegung dieser Theile die gelbe Farbe, einen süssen Geschmack oder einen lauten Ton veranlassen, dass man nicht einmal sich vorstellen kann, wie diese Gestalt, Grösse und Bewegung der Theile überhaupt solche Vorstellungen erwecken könne; es fehlt uns alle fassbare Verbindung zwischen denselben.

§ 14. Es ist deshalb ein vergeblicher Versuch, wenn man durch sein Vorstellen (den alleinigen wahren Weg zur sicheren und allgemeinen Kenntniss) entdecken will, welche andere Vorstellung mit denen der Gesammtvorstellung[158] und Substanz beständig verbunden sind; denn man kennt weder die wirkliche Verfassung der kleinsten Theilchen, von denen diese Eigenschaften abhängen, noch würde man, selbst wenn dies der Fall wäre, die nothwendige Verbindung zwischen ihnen und den zweiten Eigenschaften erkennen, und doch müsste dies vorausgehen, wenn deren entsprechendes Zusammenbestehen erkannt werden sollte. Mag deshalb unsere Gesammtvorstellung einer Substanz sein, welche sie wolle, so kann man doch schwer aus den in ihr enthaltenen einfachen Vorstellungen mit Gewissheit das nothwendige Zusammenbestehen anderer Eigenschaften sicher entnehmen, unser Wissen reicht bei diesen Ermittelungen wenig über die Erfahrung hinaus. Einige erste Eigenschaften haben allerdings eine nothwendige Abhängigkeit und sichtbare Verbindung mit einander; so kann die Gestalt nicht ohne Ausdehnung sein, und das Empfangen und Mittheilen der Bewegung durch Stoss setzt die Dichtheit voraus; allein trotz solcher Verbindung einzelner befasst unser Wissen doch nur so wenige, dass durch Anschauung oder Beweis das Zusammenbestehen von nur sehr wenigen in einer Substanz vereinten Eigenschaften aufgefunden werden kann. Wir bleiben nur auf den Beistand der Sinne angewiesen, um zu erfahren, welche Eigenschaften die Substanzen besitzen. Von allen in einem Gegenstand zusammenbestehenden Eigenschaften kann man ohne Kenntniss dieser Abhängigkeit und sichern Verbindung der zugehörigen Vorstellungen mit einander nicht wissen, ob ihr Zusammenbestehen weiter reicht, als die Erfahrung durch die Sinne uns belehrt. So findet man zwar durch Proben, dass mit der, gelben Farbe in einem Stück Gold die Schwere, Biegsamkeit, Schmelzbarkeit und Feuerbeständigkeit verbunden sind; allein da keine dieser Vorstellungen mit der andern in einer offenbaren Abhängigkeit oder nothwendigen Verbindung steht, so kann man nicht gewiss wissen, dass, wo vier davon da sind, auch die fünfte da sein werde, so wahrscheinlich das auch sein mag; denn die höchste Wahrscheinlichkeit ist noch keine Gewissheit, und ohne diese giebt es kein wahres Wissen. Dieses Zusammenbestehen kann nur soweit gewusst werden, als es wahrgenommen wird, und das ist nur an den einzelnen Gegenständen entweder vermittelst der[159] Sinne oder allgemein durch die nothwendige Verbindung der Vorstellungen selbst möglich.

§ 15. (Weiter geht das Wissen von der Unvereinbarkeit des Zusammenbestehens.) In Bezug auf Unvereinbarkeit und Widerspruch gegen das Zusammenbestehen kann man einsehen, dass jedes Ding einer jeden Art der ersten Eigenschaften nur eine bestimmte solche Eigenschaft auf einmal haben kann. So schliesst z.B. jede bestimmte einzelne Grösse, Gestalt, Zahl der Theile oder Bewegung alle anderen dieser Art aus. Das Gleiche gilt unzweifelhaft von Jeder besonderen sinnlichen Vorstellung der Sinne; die in einem Gegenstande vorhandene bestimmte Eigenschaft schliesst alle anderen derselben Art aus, so kann z.B. kein Ding zwei Gerüche oder zwei Farben gleichzeitig haben. Man wendet vielleicht ein, dass ein Opal und der Aufguss von Gichtholz gleichzeitig zwei Farben habe, allein solche Körper mögen wohl für Augen, die an verschiedenen Orten sich befinden, gleichzeitig verschiedene Farben zeigen, und in diesem Fall sind es auch verschiedene Theile des Gegenstandes, die sich in den verschieden gestellten Augen wiederspiegeln, und deshalb ist es nicht ein und derselbe Theil des Körpers, also nicht derselbe Gegenstand, der zugleich gelb und blau aussieht; denn es ist so unmöglich, dass dasselbe Theilchen des Körpers gleichzeitig die Lichtstrahlen in verschiedener Weise zurückwerfen sollte, wie dass es gleichzeitig zwei verschiedene Gestalten und Gewebe haben sollte.

§ 16. (Das Wissen von dem Zusammenbestehen der Kräfte ist nur gering.) Aber in Bezug auf die Kräfte, wodurch Substanzen die sinnlichen Eigenschaften anderer Körper verändern, die viel untersucht werden und einen beträchtlichen Zweig des Wissens bilden, dürfte unser Wissen wenig weiter als unsere Erfahrung reichen. Man wird hier schwerlich viel davon entdecken noch erkennen, dass diese Kräfte in einem Gegenstande durch die Verbindung mit einer Vorstellung bestehen, die für uns dessen Wesen ausmacht. Denn die thätigen und leidenden Kräfte der Körper und die Art ihrer Wirksamkeit beruhen auf einem Gewebe und einer Bewegung der Theilchen, die unerreichbar für uns sind; deshalb kann man nur selten ihre Abhängigkeit oder ihren[160] Gegensatz in Bezug auf die Vorstellungen entdecken, welche unsere Gesammtvorstellung dieser Art von Dingen bilden. Ich bin hier auf die Corpuscular-Hypothese eingegangen, da diese am besten die Eigenschaften der Körper zu erklären vermag, und bei der Schwäche des menschlichen Verstandes wird man kaum eine andere an deren Stelle setzen können, welche die nothwendige Verbindung und das Zusammenbestehen der Kräfte, die in einzelnen Arten vereint angetroffen werden, vollständiger und klarer darlegen könnte. In jedem Falle wird auch durch die klarste und richtigste Hypothese (worüber ich hier nicht zu entscheiden habe) unser Wissen von körperlichen Substanzen wenig weiter gebracht werden, so lange man nicht sieht, welche Eigenschaften und Kräfte der Körper mit einander in einer entsprechenden Verbindung oder in einem Gegensatze stehen. Das ist bei dem jetzigen Stand der Wissenschaft noch wenig der Fall, und mit den Vermögen, die wir haben, werden wir schwerlich unser allgemeines Wissen (also nicht die Erfahrung) in diesem Zweige viel weiter bringen. Hier müssen wir uns hauptsächlich auf die Erfahrung verlassen, und in dieser hätte mehr geschehen sollen. Durch die edlen Anstrengungen weiser Männer ist auf diesem Wege der vorhandene Vorrath der Naturerkenntniss erworben worden, und wenn Andere, namentlich die Chemiker, so sorgsam in ihren Beobachtungen und wahr in ihren Berichten wären, als es sich für Männer der Wissenschaft ziemt, so wurde unsere Bekanntschaft mit den uns hier umgebenden Körpern und unser Einblick in ihre Kräfte und Wirksamkeit viel grösser sein.

§ 17. (Unser Wissen von den Geistern ist noch geringer.) Wenn wir schon über die Kräfte und Wirksamkeit der Körper nur wenig wissen, so lässt sich erwarten, dass wir in Bezug auf die Geister noch mehr im Dunkeln tappen werden. Wir haben von ihnen keine anderen Vorstellungen, als die, welche wir von unserer eigenen Seele durch Beobachtungen soweit abnehmen, als es möglich ist. Allein ich habe schon anderwärts angedeutet, dass die unsere Körper bewohnenden Geister nur eine unbedeutende Stelle unter den mannichfachen und wahrscheinlich unzähligen Arten edlerer Wesen einnehmen, und dass sie gegen die Cherubim und Seraphim[161] und die zahllosen Geister über uns nach ihren Anlagen und Vollkommenheiten sehr zurückstehen.

§ 18. (Wie weit unser Wissen nach anderen Beziehungen geht, ist nicht leicht anzugeben.) In der dritten Art unseres Wissens, nämlich von der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Vorstellungen nach irgend anderen Beziehungen, ist das Feld des Wissens am ausgedehntesten, und deshalb schwer zu bestimmen, wie weit es geht. Die Fortschritte hier hängen von unserem Scharfsinn in Ausfindung der Zwischenvorstellungen ab, welche die Beziehungen und Richtungen der Vorstellungen, abgesehen von ihrem wirklichen Zusammenbestehen, darlegen; deshalb ist hier schwer zu sagen, wann wir an der Grenze der Entdeckungen anlangen werden, und wann die Vernunft alle die Hülfsmittel, so weit sie vermag, gewonnen haben wird, deren sie zur Auffindung der Beweise und Grundsätze der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung bedarf. Wer die Algebra nicht kennt, kann die Wunder, die hier geschaffen worden sind, sich nicht vorstellen, und so Kann man schwer bestimmen, welche weiteren Verbesserungen und Hülfsmittel der menschliche Scharfsinn auch in anderen Gebieten des Wissens noch entdecken wird. Wenigstens sind die Vorstellungen der Grösse nicht allein des Beweises und Wissens fähig; auch in anderen nützlichen Gebieten könnte die Gewissheit erreicht werden, wenn nicht die Leidenschaften, Laster und vorherrschenden Interessen solche Vorsicht hemmten und bedrohten.

(In der Moral sind Beweise möglich.) Die Vorstellung eines höchsten Wesens von unendlicher Macht, Güte und Weisheit, dessen Werk wir sind, und von dem wir abhängen, und die Vorstellung unserer selbst, als vernünftiger Wesen, welche Vorstellungen so klar sind, bieten bei gehöriger Betrachtung und Untersuchung solche Grundlagen für unsere Pflichten und für die Regeln des Handelns, dass die Moral dadurch zu den Wissenschaften, die des Beweises fähig sind, erhoben werden kann. Gewiss wurden auch hier, von selbstverständlichen Sätzen aus, vermittelst der Folgerungen so sicher wie in der Mathematik die Grenzen von Recht und Unrecht von Denen dargelegt werden können, die ihnen dieselbe Unbefangenheit und Aufmerksamkeit wie anderen Wissenschaften[162] zuwenden. Die Beziehungen zwischen den Besonderungen dürften hier ebenso sicher wie bei den Zahlen und der Ausdehnung erfasst werden können, und ich sehe nicht ein, weshalb hier nicht ebenso gut ein Beweis anwendbar sein soll, wenn man nur in gehöriger Weise an die Prüfung und Beobachtung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen ginge. Wo es kein Eigenthum giebt, da giebt es auch kein Unrecht; dies ist ein Satz, so sicher wie irgend ein Lehrsatz im Euklid; denn die Vorstellung des Eigenthums ist das Recht auf eine Sache, und die Vorstellung, die Unrecht genannt wird, ist der Einbruch in dieses Recht oder seine Verletzung. Bei solcher Feststellung der Vorstellungen und der ihnen gegebenen Namen kann die Wahrheit dieses Satzes ebenso sicher erkannt werden, als dass die drei Winkel des Dreiecks zweien rechten gleich sind. Ebenso bezeichnet in dem Satze: »Kein Staat geniesst unbedingte Freiheit«, das Wort Staat die Einrichtung einer Gesellschaft nach gewissen Regeln und Gesetzen, denen man sich fügen muss, und die Vorstellung einer unbedingten Freiheit bedeutet, dass man thun kann, was beliebt. Hiernach kann die Wahrheit dieses Satzes ebenso sicher eingesehen werden, wie die irgend eines Satzes in der Mathematik.

§ 19. (Zweierlei hat die entgegengesetzte Meinung veranlasst: die grosse Zusammensetzung der moralischen Begriffe und der Mangel an sinnlichen Gegenständen dafür.) Wenn die Vorstellungen der Grössen hier in Vortheil gekommen und allein des Beweises und der Gewissheit für fähig erachtet worden sind, so kommt dies erstens davon, dass sie durch sichtbare Zeichen dargestellt und befestigt werden können, die ihnen näher stehen als die blossen Worte und Laute. Die auf dem Papier verzeichneten Figuren sind Abbilder der Vorstellungen und sind der Unsicherheit, die der Bedeutung der Worte anhaftet, nicht unterworfen. Ein hingezeichneter Winkel, Kreis oder ein Viereck liegt dem Blick offen vor und kann nicht missverstanden werden; sie bleiben unverändert und können mit Müsse betrachtet und geprüft werden; der Beweis kann durchgegangen und alle seine Theile können wiederholt untersucht werden, ohne dass man zu fürchten[163] braucht, dass die Vorstellungen sich verändern. Dies ist bei moralischen Begriffen unmöglich; es fehlen hier solche sinnliche Zeichen für ihre Festhaltung; es sind nur Worte für ihre Bezeichnung vorhanden, die zwar in der Schrift sich nicht verändern, aber doch die Veränderung der Vorstellungen in demselben Menschen nicht hindern, und meist sind sie bei verschiedenen Personen auch selbst verschieden.

Zweitens kommt die grössere Schwierigkeit bei sinnlichen Fragen von der grösseren Zusammensetzung der meisten sinnlichen Begriffe im Vergleich zu den in der Mathematik gewöhnlich behandelten Figuren. Daraus ergeben sich die Uebelstände: 1) dass die Worte für jene eine schwankendere Bedeutung haben; indem man sich über die bestimmte Zahl der einfachen Vorstellungen, die sie bezeichnen, nicht so leicht vereinigt, und daher das im Gespräch immer und im Denken oft gebrauchte Zeichen nicht immer dieselbe Vorstellung bedeutet. Hieraus entspringt dieselbe Unordnung, Verwirrung und Unwahrheit, als wenn man bei dem Beweise für ein Siebeneck in der betreffenden Figur eine Ecke weglässt oder aus Unachtsamkeit eine mehr hinzeichnet, als man bei der ersten Ueberdenkung des Beweises im Sinne hatte. Bei verwickelten moralischen Begriffen kommt das oft vor; es ist da kaum zu vermeiden, wo zu demselben Worte das eine Mal ein Winkel, d.h. eine einfache Vorstellung, ausgelassen und das andere Mal zu viel zugesetzt wird. 2) Aus dieser Verwickelung der moralischen Begriffe folgt weiter, dass diese Begriffe sich nicht leicht so genau behalten lassen, als die vollständige Prüfung ihrer Richtungen auf einander und ihrer Verbindungen, Uebereinstimmungen oder Nichtübereinstimmungen zu einander erfordert; namentlich wenn dies durch lange Ausführungen und die Vermittelung anderer verwickelter Begriffe geschehen muss. Hier zeigt sich die grosse Hülfe, welche die Mathematiker in ihren Zeichen und Figuren haben; denn ohnedem würde das Gedächtniss sie schwerlich so genau behalten, wenn die Theile Schritt vor Schritt durchgegangen werden müssten, um ihre Uebereinstimmung zu prüfen. Bei dem ausrechnen grosser Zahlen durch Addition, Multiplikation oder Division ist jeder Theil allerdings nur ein Schritt der Seele, die ihre[164] eigenen Vorstellungen dabei beschaut und ihre Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung erfasst; die Lösung der Aufgabe ist nur das Ergebniss der aus solchen Theilen, die die Seele klar erfasst, bestehenden ganzen Arbeit. Allein wenn die einzelnen Theile nicht ihre sinnlichen Zeichen erhielten, deren Bedeutung bekannt ist, und wenn diese Zeichen nicht sichtbar blieben, trotzdem dass das Gedächtniss sie hat entschlüpfen lassen, so würde das Festhalten so vieler Vorstellungen der Seele nicht möglich sein; es würden einzelne Theile der Rechnung verwechselt oder ausgelassen und damit die ganze Arbeit vergeblich werden. Die Ziffern und Zeichen dienen zwar keineswegs zur Erkenntniss der Uebereinstimmung zweier oder mehrerer Zahlen, ihrer Gleichheit und ihres Verhältnisses; diese gewinnt die Seele nur durch die Anschauung ihrer Zahlenvorstellungen selbst; allein diese Zahlzeichen unterstützen das Gedächtniss in Festhaltung oder Zurückweisung der Vorstellungen, in denen der Beweis geführt wird, und man ersieht daraus, wohin die äusserliche Erkenntniss der einzelnen Stücke im Fortgange führt. Man kann deshalb ohne Verwirrung zu dem noch Unbekannten vorschreiten und zuletzt mit einem Blick das Ergebniss all dieser Auffassungen und Gründe überschauen.

§ 20. (Hülfsmittel gegen diese Schwierigkeiten.) Ein Theil dieser Uebelstände bei den moralischen Begriffen, weshalb man sie nicht für beweisbar hält, kann durch Definitionen, welche die Verbindung der einfachen Vorstellungen darlegen, die die einzelnen Ausdrücke bezeichnen, und durch einen stetigen, dieser Aufzählung genau entsprechenden Gebrauch derselben nicht beseitigt werden. Auch kann man nicht vorhersagen, welche Verfahrungsweisen die Algebra oder andere ähnliche Wissenschaften später für die Beseitigung dieser Schwierigkeiten darbieten werden. Sicherlich würde, wenn man in der gleichen Weise und mit derselben Unbefangenheit die moralischen Fragen behandeln wollte, wie es mit den mathematischen geschieht, sich zeigen, dass sie in engerer Verbindung mit einander stehen, sich aus unseren klaren und deutlichen Begriffen bestimmter ableiten lassen und den bewiesenen Wahrheiten näher kommen würden, als man gewöhnlich annimmt. Indess[165] wird sich schwerlich viel davon verwirklichen, denn die Begierde nach Ehre, Reichthum und Macht verleitet die Menschen; sich mit den gutausgestatteten Ansichten, wie sie gerade Mode sind, zu vermählen und nach Gründen zu suchen, die ihre Schönheit auch tugendhaft machen oder ihre Hässlichkeit durch Schminke ganz verhüllen sollen; denn Nichts ist für das Auge so schön wie die Wahrheit für die Seele, und Nichts ist so hässlich und abstossend für den Verstand als die Lüge. Mancher gesteht sich im Stillen mit Befriedigung, dass seine Frau nicht schön ist, aber Niemand ist so dreist, offen einzuräumen, dass er mit der Unwahrheit sich vermählt und in sein Herz ein so hässliches Ding, wie die Lüge, eingeschlossen habe. Wenn alle Parteien ihre Glaubenssätze allen Leuten einpfropfen, die sie erreichen können, und ihnen deren Prüfung nicht gestatten, und wenn man der Wahrheit kein freies Spiel in der Welt gewährt und die Menschen nicht danach suchen lässt, welche Fortschritte lassen sich da erwarten? Wie kann man da eine Besserung in den Moral-Wissenschaften hoffen? Der unterworfene Theil der Menschheit würde beinahe überall statt solcher Besserung neben einer ägyptischen Sklaverei auch einer ägyptischen Finsterniss gewärtig sein müssen, hätte der Herr nicht in der Seele des Menschen ein Licht angezündet, welches der Athem und die Macht der Gewalthaber nicht ganz ersticken kann.

§ 21. (4. Bezüglich des wirklichen Daseins hat man ein anschauliches Wissen von dem eigenen Dasein: ein beweisbares von Gottes Dasein und ein wahrnehmbares von einigen anderen Dingen.) Was die vierte Art unseres Wissens anlangt, nämlich die von dem wirklichen Sein der Dinge, so hat man ein anschauliches Wissen von seinem eigenen Dasein und ein beweisbares Wissen von dem Dasein Gottes. Von dem Dasein sonstiger Dinge haben wir nur ein wahrnehmendes Wissen, welches sich nicht weiter als die von den Sinnen wahrgenommenen Dinge erstreckt.

§ 22. (Unser Nichtwissen ist gross.) Da unser Wissen so beschränkt ist, wie ich gezeigt habe, so wird der jetzige Zustand unserer Seele vielleicht einiges Licht erhalten, wenn ich ein wenig nach der dunklen Seite blicke und unser Nichtwissen überschaue. Es ist unendlich[166] viel ausgedehnter als unser Wissen. Dies mag die Streitigkeiten stillen helfen und zur Verbesserung des Wissens beitragen. Denn wenn man weiss, wie weit sich die klaren und deutlichen Vorstellungen erstrecken, so kann man sein Denken auf die Dinge beschränken, die in dem Bereich unseres Wissens liegen, und braucht sich nicht in jenen Abgrund voll Dunkelheit zu stürzen (wo man keine Augen, zu sehen, und keine Vermögen, Etwas zu begreifen, hat), blos weil man sich anmasst, dass Nichts unsere Fassungskraft übersteige. Um die Thorheit solcher Meinung darzulegen, braucht man nicht weit zu gehen. Wer irgend Etwas weiss, weiss damit vor Allem, dass er nicht weit für Beispiele seiner Unwissenheit zu suchen braucht. Die gemeinsten und augenfälligsten Dinge, die uns in den Weg kommen, haben ihre dunklen Seiten, in welche das schärfste Auge nicht eindringen kann. Bei jedem Stofftheilchen befindet sich der klarste und ausgedehnteste Verstand denkender Männer in Verlegenheit, und man wird sich darüber um so weniger wundern, wenn man die Ursachen unserer Unwissenheit erwägt. Es sind deren nach dem Bisherigen drei: 1) der Mangel an Vorstellungen; 2) der Mangel einer entdeckbaren Verbindung unserer Vorstellungen; 3) der Mangel in Auffindung und Prüfung unserer Vorstellungen.

§ 23. (1. Die fehlenden Vorstellungen sind entweder solche, von denen man keinen Begriff hat, oder solche, die man im Einzelnen nicht hat.) Erstens giebt es Dinge, und zwar sehr viele, die man nicht weiss, weil die Vorstellungen mangeln. Denn 1) sind alle unsere einfachen Vorstellungen (wie ich gezeigt habe) auf die von körperlichen Gegenständen durch die Sinne empfangenen und auf die von der Thätigkeit der eigenen Seele, als den Gegenständen der Selbstwahrnehmung, beschränkt. Dass diese wenigen und engen Einlasse nicht dem ganzen weiten Umfang alles Seienden entsprechen, werden Die leicht einsehen, welche nicht gleich Narren ihre Spanne Verstand für das Maass aller Dinge halten. Welche anderen einfachen Vorstellungen möglicherweise die Geschöpfe an anderen Orten des Weltalls, vermittelst zahlreicherer oder vollkommnerer Sinne und Vermögen als die unsrigen haben, lässt sich[167] nicht bestimmen; aber wenn man sagt oder denkt, dass dies nicht der Fall sei, weil man sie sich nicht vorstellen könne, so gleicht dieser Grund dem, wo ein Blinder behauptet, es gäbe kein Sehen und keine Farben, weil er von solchen Dingen durchaus keine Vorstellung habe und sich keinen Begriff über das Sehen bilden könne. Unsere Unwissenheit und Finsterniss hindert oder beschränkt das Wissen Anderer so wenig, wie die Blindheit des Maulwurfs das schärfe Gesicht des Adlers. Bedenkt man die grenzenlose Macht, Weisheit und Güte des Schöpfers in allen Dingen, so wird man nicht glauben, dass Alles für ein so unbeträchtliches, geringes und ohnmächtiges Wesen, wie der Mensch ist, offengelegt sein müsse, der aller Wahrscheinlichkeit nach zu den niedrigsten geistigen Wesen gehört. Wir wissen daher nicht, welche Vermögen andere Geschöpfe haben, um in die Natur und innerste Verfassung der Dinge einzudringen, und welche von den unsrigen ganz verschiedene Vorstellungen sie davon empfangen mögen. Aber so viel wissen wir mit Gewissheit, dass uns viele Anschauungen neben den unsrigen fehlen, um die Dinge vollkommener zu erfassen; auch werden die durch unsere Vermögen gewonnenen Vorstellungen überdem den Dingen selbst nicht eben genau entsprechen, da schon die einheitliche, klare und deutliche Vorstellung der Substanz, welche die Grundlage aller andern bleibt, uns versagt ist. Indess kann der Mangel solcher Vorstellungen, der ein Theil und eine Ursache unseres Nichtwissens ist, nicht bestritten werden; nur so viel lässt sich sagen, dass hier die sinnliche und die geistige Welt einander ganz gleich stehen, und dass Das, was wir von beiden wahrnehmen, in keinem Verhältniss zu dem Nichtwahrgenommenen steht, und dass das mit unserem Sinnen oder Denken Erfasste nur ein Punkt ist und beinahe Nichts im Vergleich zu dem Uebrigen.

§ 24. (Wegen ihrer Entfernung.) Zweitens liegt eine andere grosse Ursache unserer Unwissenheit in dem Mangel solcher Vorstellungen, deren wir an sich fähig sind. Der Mangel an Vorstellungen, für die wir überhaupt nicht die Vermögen besitzen, schliesst uns ganz von der Wahrnehmung der Dinge aus, die vollkommenere Wesen wahrscheinlich kennen, und von denen wir Nichts wissen; dagegen hält der Mangel der Vorstellungen,[168] von denen ich jetzt spreche, uns in Unwissenheit über Dinge, die wir wissen könnten. So haben wir die Vorstellungen der Grösse, Gestalt und Bewegung; allein trotz dieser Vorstellungen von den ersten Eigenschaften der Körper im Allgemeinen wissen wir doch die besondere Grösse, Gestalt und Bewegung von den meisten einzelnen Körpern des Weltalls nicht, und ebenso wenig die Kräfte, Wirksamkeiten und die Wege derselben, wodurch die Wirkungen, die wir täglich sehen, hervorgebracht werden. Manches davon bleibt aus verborgen, weil es zu entfernt ist, Anderes, weil es zu klein ist. Gegenüber den weiten Entfernungen der bekannten und sichtbaren Theile der Welt, und in Erwägung, dass das in unseren Gesichtskreis Fallende nur einen kleinen Theil des Weltalls ausmacht, zeigt sich ein ungeheurer Abgrund von Nichtgewusstem. Welche besonderen Einrichtungen in den grossen Stoffmassen für die staunenswerthen Gestaltungen der körperlichen Dinge bestehen, wie weit sie reichen, wie ihre Bewegung geht und sich mittheilt, und wie sie einander beeinflussen, sind Betrachtungen, in die bei deren erstem Auftreten schon unser Denken sich verliert. Beschränkt man den Gesichtskreis, und denkt man nur an die kleine Abtheilung, welche unser Sonnensystem ausmacht, und die grossen Stoffmassen, die sich hier sichtbar um die Sonne bewegen, so zeigt sich, wie mancherlei Arten von Pflanzen, Thieren und geistig-körperlichen Wesen, weit verschieden von denen auf unserer Erde, auf anderen Planeten bestehen mögen, von denen wir nicht einmal die Gestalt und äusseren Theile wissen können, so lange wir an diese Erde gebannt sind, da weder die Sinnes-, noch Selbstwahrnehmung ein Mittel bietet, Vorstellungen davon unserer Seele zuzuführen. Alles das liegt ausser dem Bereich der Kanäle unseres Wissens, und wie die Bewohner dieser Wohnungen beschaffen sein mögen, kann man nicht einmal errathen, geschweige klar und deutlich sich vorstellen.

§ 25. (Oder wegen ihrer Kleinheit.) Wenn ein grosser und vielleicht der grösste Theil der verschiedenen Klassen von Körpern des Weltalls unserem Wissen durch deren Entfernung entzogen ist, so bleiben uns andere nicht weniger durch ihre Kleinheit verborgen. Jene unsichtbaren[169] Körperchen bilden die thätigen Theile des Stoffes und das bedeutendste Werkzeug der Natur; von ihnen hängen nicht allein alle zweiten Eigenschaften ab, sondern auch die meisten ihrer natürlichen Wirksamkeiten; allein es fehlen uns die genauen Vorstellungen ihrer ersten Eigenschaften, und so bleiben wir in einer unheilbaren Unwissenheit über Das, was sie betrifft. Vermöchte man die Gestalt, Grösse, das Gewebe und die Bewegung der kleinsten Theile zweier Körper zu entdecken, so würde man auch ohne Versuche manche ihrer Einwirkungen auf einander ebenso kennen, wie es jetzt mit denen eines Vierecks oder Dreiecks der Fall ist. Wenn man die mechanischen Einwirkungen der Theilchen des Rhabarber, des Schierlings, des Opiums und des Menschen kennte, so wie der Uhrmacher die Theile in seinen Uhren, vermittelst welcher sie wirken, und die einer Feile kennt, durch deren Reiben die Gestalt der Räder geändert wird, so würde man vorhersagen können, dass Rhabarber abführt, Schierling tödtet und Opium einschläfert, wie der Uhrmacher vorhersagen kann, dass ein Stückchen Papier, was zwischen die Uhrfeder gelegt wird, die Uhr so lange zum Stehen bringen wird, bis es weggenommen ist, und dass, wenn ein kleines Stück der Uhr abgefeilt wird, die Maschine ihre Bewegung verlieren und die Uhr stillstehen werde. Weshalb Silber in Scheidewasser und Gold in Königswasser sich auflöst, aber nicht umgekehrt, würde dann vielleicht ebenso gut angegeben werden können, wie jetzt ein Schmied angeben kann, weshalb dieser Schlüssel das Schloss öffnet und der andere nicht. Da oft unsere Sinne nicht scharf genug sind, um die kleinsten Körpertheilchen zu erkennen und uns Vorstellungen von deren mechanischen Einwirkungen zu geben, so müssen wir auch in Unwissenheit über ihre Eigenschaften und Wirksamkeiten bleiben, und wir kommen hier nicht über Das hinaus, was einzelne Versuche erreichen lassen, ohne dass man weiss, ob sie in einem anderen Falle wieder eintreffen. Das hindert das sichere Wissen der allgemeinen Wahrheiten über die Naturkörper, und unsere Vernunft führt uns nur wenig über einzelne besondere Thatsachen hinaus.

§ 26. (Deshalb giebt es keine Wissenschaft von den Körpern.) Ich möchte deshalb zweifeln, ob[170] trotz aller Fortschritte der Menschheit in Erfindungen und den Erfahrungskenntnissen bezüglich der Natur die wissenschaftliche Erkenntniss derselben je erreicht werden wird; da wir nicht einmal vollständige und entsprechende Vorstellungen von den Körpern haben, die uns am nächsten und unserem Willen am meisten unterthan sind. Von allen denen, die wir in Klassen geordnet und benannt haben, und mit denen wir uns für am meisten vertraut halten, haben wir nur unvollständige Vorstellungen. Allerdings haben wir bestimmte Vorstellungen der Arten von Körpern, welche von den Sinnen geprüft werden können, aber schwerlich entsprechende Vorstellungen von einem einzigen. Jene Vorstellungen mögen für den täglichen Bedarf und Verkehr genügen; allein da die entsprechenden Vorstellungen uns abgehen, so ist eine wissenschaftliche Erkenntniss und die Entdeckung allgemeiner, belehrender und unzweifelhafter Wahrheiten über dieselben uns unmöglich. Wir dürfen hier keine Sicherheit und keine Beweise verlangen. Vermittelst, der Farbe, Gestalt, des Geschmacks und Geruchs und der übrigen sinnlichen Eigenschaften sind unsere Vorstellungen vom Salbey und Schierling so klar und deutlich wie vom Dreieck und Kreise; allein wir kennen die besonderen ersten Eigenschaften der kleinsten Theile dieser Pflanzen und anderer Körper, auf die wir jene anwenden möchten, nicht, und deshalb können wir auch ihre Wirkungen nicht voraussagen, und selbst wenn wir sie sehen, können wir die Art der Hervorbringung nicht wissen, ja nicht einmal errathen. Indem uns so die Vorstellungen von den besonderen mechanischen Einwirkungen der kleinsten Theile von den in unserem Sinnenbereich befindlichen Körpern abgehen, kennen wir weder ihre Verfassung, noch ihre Kräfte und Wirksamkeiten, und bezüglich der entfernteren Körper sind wir noch unwissender, da wir kaum ihre äussere Gestalt und die gröberen sinnlichen Theile ihrer Zusammensetzung kennen.

§ 27. (Noch weniger von den Geistern.) Dies zeigt zunächst, wie ungenügend unser Wissen schon für den ganzen Umfang der stofflichen Gegenstände ist; dazu kommt aber noch, dass unzählige Geister bestehen mögen, die wir noch weniger kennen, von denen wir keine Einsicht, besitzen und nicht einmal die verschiedenen Ordnungen[171] und Arten derselben uns vorstellen können. Deshalb ist beinahe die ganze geistige Welt für uns in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt, obgleich sie sicherlich grosser und schöner als die stoffliche ist. Einige wenige, und ich möchte sagen oberflächliche Vorstellungen über Geister, ausgenommen, welche wir durch die Betrachtung unseres eigenen Geistes erlangen, und die daraus abgeleiteten höchsten Vorstellungen von dem Vater aller Geister, welcher der unabhängige Urheber ihrer, unserer und aller Dinge ist, haben wir die Gewissheit von dem Dasein anderer Geister nur durch göttliche Offenbarung. Alle Engel sind natürlich für uns nicht erkennbar, und alle jene Geister, von denen es mehr Rangordnungen wie bei den körperlichen Substanzen geben mag, sind Gegenstände, von denen unsere natürlichen Kräfte uns gar keine Auskunft geben. Dass eine Seele und ein Denken bei anderen Menschen ebenso wie bei mir selbst besteht, kann ich aus deren Worten und Handlungen abnehmen, und die Erkenntniss der eigenen Seele führt nothwendig zur Kenntniss von dem Dasein Gottes; aber kein Suchen und keine Kunst kann das Wissen von den verschiedenen Abstufungen der Geister geben, die zwischen uns und dem grossen Gott bestehen, und noch weniger kennen wir ihre verschiedenen Naturen, Bedingungen, Zustände, Kräfte und Verfassungen, durch die sie sich von einander und von uns unterscheiden; wir befinden uns deshalb über ihre Arten und Eigenschaften in vollständiger Unwissenheit.

§ 28. (2. Der Mangel einer erkennbaren. Verbindung zwischen unseren Vorstellungen.) Zweitens: Wir haben gesehen, wie der Mangel an Vorstellungen unser Wissen nur auf einen kleinen Theil der in der Welt vorhandenen Substanzen beschränkt. Daneben liegt eine nicht geringere Ursache unserer Unwissenheit in dem Mangel der erkennbaren Verbindungen unserer Vorstellungen; denn wo diese fehlt, bleibt ein allgemeineres sicheres Wissen unmöglich. Wir bleiben dann bei den Substanzen nur auf die Beobachtung und die Versache angewiesen, und ich brauche nicht zu sagen, wie enge und beschränkt dieses Wissen ist, und wie weit es von der Allgemeinheit entfernt bleibt. Ich will hier nur einige Beispiele anführen. Es ist klar, dass die Grösse,[172] Gestalt und Bewegung der Körper rings um uns die verschiedenen Empfindungen der Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche, der Lust, des Schmerzes u.s.w. in uns hervorbringen. Diese mechanischen Einwirkungen der Körper haben aber durch aus keine Verwandtschaft mit den Vorstellungen, die sie in uns erregen (denn es giebt keine begreifliche Verbindung zwischen dein Stoss irgend eines Körpers und der Wahrnehmung irgend einer Farbe, eines Geruchs u.s.w. in der Seele), und kann man deshalb über die Erfahrung hinaus kein Wissen, von diesen Wirksamkeiten haben, sondern nur sagen, dass diese Wirkungen, in Folge der Anordnung eines allweisen Wesens geschehen und unsere Begriffsvermögen übersteigen. Sowie unsere Vorstellungen der sinnlichen zweiten Eigenschaften auf keine Weise aus körperlichen Ursachen abgeleitet, noch eine Verbindung oder Aehnlichkeit zwischen Namen und den ersten Eigenschaften (die sie, wie die Erfahrung zeigt, veranlassen) aufgefunden werden kann, so ist auch auf der anderen Seite die Wirksamkeit der Seele auf den Körper nicht minder unbegreiflich. Wie ein Gedanke die Bewegung eines Körpers bewirken könne, liegt unseren Vorstellungen ebenso fern, wie dass ein Körper einen Gedanken hervorbringen kann. Lehrte es uns nicht die Erfahrung, so würde die Betrachtung der Dinge allein es uns nie erkennen lassen. Obgleich hier also eine regelmässige und feste Verbindung im gewöhnlichen Lauf der Dinge besteht, so ist sie doch in den Vorstellungen selbst nicht zu entdecken, vielmehr zeigt sich jede selbstständig, und deshalb kann man ihre Verbindung nur aus dem freien Beschluss jenes allweisen Wesens ableiten, das sie geschaffen und ihr Wirken so bestimmt hat, wie wir mit unserem schwachen Verstande zu begreifen unvermögend sind.

§ 29. (Beispiele.) Bei manchen Vorstellungen sind gewisse Beziehungen, Richtungen und Verbindungen so sichtbar in ihrer Natur selbst enthalten, dass man sie für ganz untrennbar halten muss. Nur hier ist ein sicheres und allgemeineres Wissen möglich. So führt die Vorstellung eines geradlinigen Dreiecks nothwendig zur Gleichheit seiner Winkel mit zwei rechten. Dabei kann man sich nicht vorstellen, dass diese Beziehung und Verbindung beider Vorstellungen je geändert werden oder[173] blos von einem Belieben abhängen könnte, was es so oder auch anders hätte einrichten können. Dagegen können wir in dem Zusammenhange und der Stetigkeit der Stofftheile, in dem Entstehen der Empfindungen von Farben, Tönen u.s.w. in uns durch Stoss und Bewegung, ja in den ursprünglichen Gesetzen der Bewegung und ihrer Mittheilung keine Verbindung unserer Vorstellungen derselben entdecken und müssen sie deshalb nur dem willkürlichen Beschluss und Gutbefinden des weisen Baumeisters zuschreiben. Ich erwähne hier nicht der Auferstehung von den Todten, des künftigen Zustandes dieser Erde und Anderes, welches anerkanntermaasen lediglich von dem Beschlüsse eines freien Wesens abhängt. Wo, so weit unsere Erfahrung reicht, einere gelmässige Wirksamkeit der Dinge besteht da mag man sie von einem bestehen den Gesetze ableiten, aber doch nur von einem Gesetze, das wir nicht kennen; die Ursache mag hier gleichmässig wirken und die Folge regelmässig daraus abfliessen, allein da ihre Verbindung und Abhängigkeit in unseren Vorstellungen nicht erkennbar ist, so ist hier nur ein Erfahrungs-Wissen möglich. Aus alledem ergiebt sich, in welche Dunkelheit wir eingehüllt sind, und wie wenig wir von dem Sein und den Dingen zu wissen vermögen. Wir thun deshalb unserem Wissen kein Unrecht, wenn wir uns bescheiden, dass wir weder die ganze Natur des Weltalls und aller in ihm enthaltenen Dinge erfassen, noch eine wissenschaftliche Erkenntniss der uns umgebenden und einen Theil von uns ausmachenden Körper erreichen können, und dass selbst von ihren zweiten Eigenschaften, Kräften und Wirksamkeiten ein allgemeines Wissen nicht erlangt werden kann. Vieles fällt täglich in den Bereich unserer Sinne, und so weit hat man davon eine sinnliche Kenntniss; allein die Ursachen, Weisen und die Gewissheit dieser Vorgänge bleiben uns aus den erwähnten zwei Gründen unerreichbar. Hier kann man nicht weiterkommen, als die Erfahrung uns über die Thatsachen belehrt und die Analogie uns vermuthen lässt, dass gleiche Körper in gleicher Lage auch gleiche Wirkungen haben werden. Dagegen liegt ein vollkommenes Wissen der Naturkörper (selbst abgesehen von den Geistern) unserem[174] Vermögen so fern, dass ich alle Mühe darum für rein verloren halte.

§ 30. (3. Der Mangel an Auffindung unserer Vorstellungen.) Drittens können wir selbst da, wo wir entsprechende Vorstellungen haben und wo eine sichere und erkennbare Verbindung zwischen, ihnen besteht, oft unwissend bleiben, weil wir die Vorstellungen, die wir haben oder haben könnten, nicht auffinden, und weil das auch für die vermittelnden Vorstellungen gilt die uns zeigen, welche Richtung auf Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unter ihnen besteht. So verstehen Viele Nichts von der Mathematik; nicht aus Unvollkommenheit ihrer Anlagen oder Ungewissheit des Gegenstandes, sondern weil sie nicht den gehörigen Fleiss in Erwerb, Prüfung und gehöriger Vergleichung dieser Vorstellungen angewendet haben. Der falsche Gebrauch der Worte mag hier am meisten die Auffindung dieser Vorstellungen gehindert haben. Niemand kann wahrhaft versuchen oder sicher ausfinden, ob Vorstellungen mit einander stimmen oder nicht, wenn seine Gedanken unstät umherfliegen oder an zweideutigen und schwankenden Worten hängen bleiben. Dadurch, dass die Mathematiker ihre Gedanken von den Worten abgewendet und sich an die Betrachtung der zu untersuchenden Vorstellungen selbst gewöhnt haben und nicht an die blossen Laute, haben sie viel von jenen Schwierigkeiten, jenem Mischmasch und Verwirrung vermieden, die den Fortschritt der andern Wissenschaften so gehindert haben. Wenn man an unsichere und zweideutige Worte sich heftet, kann man in seinen Ansichten die Wahrheit von dem Irrthum, das Gewisse von dem Wahrscheinlichen, das Verträgliche von dem Unverträglichen nicht unterscheiden. Viele gelehrte Männer haben dieses Schicksal oder Unglück gehabt, und deshalb ist der Zuwachs in dem Vorrath wahrer Kenntnisse nur gering geblieben, wenn man damit die Schulen, Streitigkeiten und Bücher vergleicht, von denen die Welt angefüllt worden ist. Indem die Schüler sich in den dichten Wald von Worten verloren, wussten sie nicht mehr, wo sie waren, wie weit ihre Kenntnisse reichten, und was noch in ihnen und in dem allgemeinen Vorrath des Wissens fehlte. Wenn man bei der Entdeckung der stofflichen Welt so wie bei der[175] geistigen Welt verfahren wäre, wenn man sich in die Dunkelheit schwankender und zweideutiger Ausdrucksweisen gehüllt, wenn man nur Bücher über Schifffahrt und Seewesen geschrieben hätte und Theorien und Geschichten über Erdzonen und Ebbe und Fluth zu Tage gefördert und sich darüber gestritten hätte; ja, wenn mm selbst Schiffe gebaut und Flotten ausgesendet hätte, so wurde das uns doch nie den Weg über den Aequator hinaus gezeigt haben, und die Gegenfüssler würden heute noch so unbekannt sein als zu der Zeit, wo es für Ketzerei galt, an solche zu glauben. Dies mag genug sein in Bezug auf die Worte und deren leichtsinnigen Gebrauch.

§ 31. (Die Ausdehnung des Wissens in Bezug auf seine Allgemeinheit.) Bisher habe ich die Ausdehnung des Wissens in Rücksicht auf die verschiedenen vorhandenen Dinge untersucht. Indess besteht noch eine andere Ausdehnung desselben in Bezug auf seine Allgemeinheit, die ebenfalls der Betrachtung werth ist. Hier folgt das Wissen der Natur unserer Vorstellungen. Wenn die Vorstellungen allgemein sind, um deren Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung es sich handelt, so ist auch das Wissen allgemein; denn was man durch solche allgemeine Vorstellungen weiss, gilt von jedem einzelnen Dinge, in dem dieses Wissen, d.h. die allgemeine Vorstellung, sich findet, und das, was man einmal an einer solchen Vorstellung erkannt hat, bleibt wahr für immer. Deshalb muss das allgemeine Wissen lediglich in unserer Seele gesucht und aufgefunden werden, und nur durch Prüfung unserer eigenen, Vorstellungen kann man sich dasselbe verschaffen. Die das Wesen der Dinge (d.h. die allgemeinen Vorstellungen) betreffenden Wahrheiten gälten ewig und können nur durch Betrachtung dieses Wesens aufgefunden werden, sowie das Dasein der Dinge sich blos durch Erfahrung kennen lernen lässt. Da ich hierüber noch mehr in dem Kapitel über allgemeines und wirkliches Wissen zu sagen habe, so mag hier dies über die Allgemeinheit unseres Wissens Gesagte vorläufig genügen.[176]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 151-177.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon