Bilderlehre

[130] Erstens entsenden die Dinge gar oft, wieder Augenschein lehret,

Körper, die teils zerfließen und so sich im Räume verbreiten,

Wie sich der Rauch aus dem Holze, die Glut aus dem Feuer entwickelt,

Teils auch mehr sich verdichten und fester verweben, wie manchmal

Ihrem Puppengewand die Zikaden im Sommer entschlüpfen

Und wie das Kalb beim Akt der Geburt sich löst von der Harnhaut[130]

Oder auch so wie sich ähnlich die schlüpfrige Schlange am Dornstrauch

Ihrer Hülle entledigt. So sehen wir öfter an Hecken

Prangen von Schlangenleibern die flatternden Siegestrophäen.

Steht nun dies so fest, so kann auch ein dünneres Abbild

Aus den Dingen entsteigen der Oberfläche der Körper.

Denn was wäre der Grund, daß solcherlei Hüllen sich eher

Sondern als dünnere Häutchen? Dafür fehlt jede Erklärung,

Namentlich finden sich doch auf der äußeren Fläche der Körper

Viele Atome, die just in der früheren Ordnung verbleiben

Und sich die Form und Gestalt, sobald sie sich sondern, bewahren.

Und das geschieht um so schneller, je weniger Hinderung eintritt,

Wo nur wenige sind in der vordersten Linie gelagert.

Denn wir sehen ja deutlich, wieviel da sprudelt und aufschießt

Nicht nur vom Innersten her aus der Tiefe, wie früher gesagt ward,

Sondern vom Äußeren auch, wie sogar die Farbe sich ablöst.

Überall kommt dies vor bei den gelblichen, roten und blauen

Segeln, die über die weiten Theatergebäude verbreiten

Mittelst der Masten und Sparren die flimmernden Wogen der Farbe.

Denn sie durchfluten die Sitze dort unten, das Ganze der Bühne,

Wie auch den stattlichen Kreis der Herren und Damen im Festschmuck:

All dies zwingen sie so in gefärbtem Licht zu erstrahlen.

Und je enger die Mauern den Raum des Theaters umzirken,

Um so wärmerer Reiz durchströmet das Innere; alles

Glänzt im selbigen Ton, da die Tageshelle gedämpft ist.

Wie von der Oberfläche die linnenen Segel die Farbe

Senden, so muß es auch sonst dünnhäutige Bilder von allem

Geben, da hier wie dort die oberste Schicht sich verflüchtigt.

Damit haben wir jetzt ganz sichere Spuren der Formen,

Die aus dem feinsten Gespinste bestehend wohl allerwärts fliegen,

Die wir jedoch nicht einzeln, sobald sie sich lösen, erblicken.

Jeder Geruch, Rauch, Glut und andere ähnliche Dinge

Quellen zudem nur vereinzelt hervor aus der Mitte der Stoffe,

Weil sie im Innern erzeugt beim Weg aus der Tiefe sich spalten

Wegen der Krümmung der Bahn und weil auch die Öffnung nicht grade,

Wo sie nach ihrer Entstehung den Ausgang suchen, hinausführt.

Wird hingegen ein Häutchen der oberflächlichen Farbe

Abgeschleudert, so kann, so dünn es ist, nichts es zerreißen;

Denn dies steht schon bereit und lagert in vorderster Reihe.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 130-131.
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