Das Avernusproblem

[233] Jetzt nun will ich dir auch die Avernischen Örter und Seen,

Die es da gibt in der Welt, nach ihrem Wesen erklären.

Erstlich den Namen. ›Avernisch‹ macht ihre Beschaffenheit deutlich;

Denn sie bringen Gefahr dem gesamten Geschlechte der Vögel.

Wenn sie sich nämlich beim Flug grad' über den Stellen befinden,

Lassen der Fittiche Segel sie sinken, vergessen des Ruderns

Und kopfüber, erschlafft, mit kraftlos hängendem Nacken

Stürzen sie nieder zur Erde, wenn grade die Stelle derart ist,

Oder ins Wasser, wenn unten vielleicht der Avernische See liegt.

Solch ein Ort ist bei Cumae. Dort gibt's mit vergiftendem Schwefel

Reich gefülltes Gestein, dem rauchende Quellen entspringen.

Auch in den Mauern Athens auf dem höchsten Gipfel der Burg ist

Solch ein Ort bei dem Tempel der hohen Minerva Tritonis.

Dorthin lenken der Fittiche Flug die heiseren Krähen

Nie, selbst wenn der Altar mit duftenden Opfern gefüllt ist.

So sehr flieht dies Tier nicht etwa den Groll der Minerva,

Weil es zur Unzeit wachte, wie griechische Dichter gesungen,

Vielmehr reicht zur Erklärung allein die Bodennatur aus.

Auch in Syrien soll, wie man sagt, ein Ort sich befinden,

Wo vierfüßige Tiere beim ersten Schritt in die Höhle

Gleich durch der Dünste Gewalt aufschlagend stürzen zu Boden,

Wie wenn zum Opfer sie fielen den unterirdischen Göttern.

Aber es spielt dies alles sich ab auf natürliche Weise,

Und die Grundursachen, warum es geschieht, sind uns kenntlich.

Drum soll niemand vermeinen, in diesen Gegenden wäre

Etwa die Pforte zum Orkus, und unterirdische Götter

Schleppten von hier an des Acheron Strand die Seelen der Toten,

Wie man erzählt von den Hirschen, den Flügelfüßern, sie zogen

Manchmal kriechend Getier mit dem Hauche der Nüstern aus Höhlen.

Doch wie weit sich der Glaube vom Wege der Wahrheit entfernt hat,

Höre nun jetzt; denn ich will dir die Sache nun selber erklären.[233]

Erstens behaupt' ich, was oft ich auch früher schon habe behauptet,

Daß in der Erde Atome von allerlei Arten sich finden.

Viele sind Nahrungsstoffe und lebenerhaltend, doch viele

Bringen auch Krankheit hervor und beschleunigen unsre Vernichtung.

Einige sind nun diesen und andere andren Geschöpfen

Dienlich zur Lebensfristung, wie wir dies früher schon zeigten,

Wegen der Ungleichheit der Natur und der ersten Gestaltung

Jener Atome und ihrer Verknüpfung untereinander.

Vieles uns Widrige dringt in das Ohr, viel Feindliches schleicht sich

Just durch die Nase herein und wirkt rauh bei der Berührung;

Auch nicht weniges ist für den Tastsinn besser zu meiden,

Wie für die Augen zu fliehn, und abscheulich ist manches zum Schmecken.

Weiter noch kann man bemerken, wie vielerlei oft auf den Menschen

Widrigsten Eindruck macht, ihm Ekel erregt und ihm schadet.

So sagt einzelnen Bäumen man nach, ihr Schatten sei schädlich,

Also daß er nicht selten den Menschen, die unten im Grase

Hin sich strecken und lagern, erzeuge ein heftiges Kopfweh.

Auch auf dem hohen Gebirge des Helikon blühet ein Giftbaum,

Der durch den widrigen Blütengeruch dem Menschen den Tod bringt.

All das steigt deshalb aus dem Boden empor, weil die Erde

Viele Atome enthält von vielerlei Dingen, die vielfach

Sind miteinander vermischt, doch gesondert kommen zum Vorschein.

Wenn schon der üble Geruch der nächtlichen Lampe, die eben

Aus ist gelöscht, die Nase beleidigt, so bringt sie sofort den,

Der an der Fallsucht leidet und schäumt aus dem Munde, zum Schlafen.

Schläfernd wirkt auch der scharfe Geruch der Geilen des Bibers

Auf ein Weib zu der Zeit, wo die Monatsregel sich einstellt,

Und aus der zierlichen Hand entfällt ihr die prächtige Arbeit.

Auch viel anderes gibt's, was die Glieder erschlafft im Gelenke

Und die menschliche Seele im Innersten bringet zum Wanken.

Endlich, verweilest du länger mit vollem Magen im Schwitzraum,

Nimmst auch ein Bad sodann im Becken des hitzenden Wassers,

Dann kann leicht es mitunter geschehn, daß du mittendrin umsinkst.

Gar leicht steigt auch der Kohlendunst mit betäubender Wirkung

Uns zum Hirn, wenn vorher man nicht erst hat Wasser getrunken.

Wen gar gliederbeherrschend ein feuriges Fieber ergriffen,

Den schlägt Weindunst nieder, als träfe ein tödlicher Schlag ihn.

Siehst du nicht auch, wie im Erdreich selbst der Schwefel sich bildet

Und sich mit eklem Geruche das Erdpech klumpet zusammen?[234]

Welch abscheulicher Dunst entströmt Scaptensulas Boden,

Wo man so gierig erschürft die Adern des Goldes und Silbers

Und das Verborgne der Erde durchwühlt mit eisernem Werkzeug!

Oder was dringt für giftige Luft aus den Goldbergwerken,

Wie entstellt sie des Menschen Gesicht, wie bleicht sie die Farbe!

Siehst du und hörst du nicht auch, in wie kurzer Zeit sie zu sterben

Pflegen und wie ihnen bald die Lebenskräfte entschwinden,

Wenn sie zu solcher Fronde des Lebens gewaltige Not zwingt?

Alle derartigen Dämpfe entwickelt also die Erde,

Die sie hinaus in das Weite verdampft und den offenen Himmel.

So muß auch der Avernische See Giftdämpfe entsenden,

Welche die Vögel ersticken. Sie steigen empor von der Erde

In die Luft und vergiften zum Teil die Räume des Himmels.

Trägt nun der Fittich den Vogel in solche Bezirke, so faßt ihn

Unversehens der giftige Hauch und verhindert sein Fliegen.

So fällt stracks er hinunter, wohin sich der Schwaden erstrecket.

Stürzt er nun dort zusammen, so nimmt der nämliche Dunst ihm

Auch noch das Restchen vom Leben, das blieb, aus sämtlichen Gliedern.

Anfangs nämlich erregt ihm der Gifthauch gleichsam nur Schwindel,

Ist er jedoch erst hinab in der Stickluft Quelle gefallen,

Wird er gezwungen daselbst auch das Leben selber zu lassen,

Weil ihn rings ein gewaltiges Meer von Unheil umbrandet.

Auch kommt's vor, daß bisweilen die Kraft des Avernischen Dunstes

Alle Luft aus dem Räume vertreibt, der sich zwischen dem Vogel

Und der Erde befindet, so daß er schon nahezu leer wird.

Kommt nun ein Vogel gerade auf diese Stelle geflogen,

Dann erlahmt ihm sofort der Fittiche Schlag, er wird fruchtlos;

Beiderseits versagen die Flügel sich völlig dem Dienste.

Da sie nun hier sich nicht halten und sich auf die Flügel nicht stützen

Können, so zwingt sie natürlich die Schwere zur Erde zu fallen.

Und so liegen sie denn in dem nahezu völligen Leeren,

Wo sie die Seele verhauchen durch alle Kanäle des Körpers,


* * *

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 233-235.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Cardenio und Celinde

Cardenio und Celinde

Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon